Jan Kixmüller

Potsdamer Neuest Nachrichten • 19.07.2004


Serie: Neue Zeiten im Osten

Heute: Estland

Seit Mai sind acht Länder des östlichen Europa Mitglieder der EU. Das Deutsche Kulturforum östliches Europa pflegt enge Kontakte in die Beitrittsländer. Die PNN wollten von den Partnern wissen, was sie von der neuen Zeit erwarten.


Was erwarten Sie vom EU-Beitritt Estlands?

Zur Zeit arbeite ich als Stipendiat der Deutschen Forschungsgemeinschaft an einem historischen Forschungsprojekt in Estland. Die Universität Tartu – ehemals Dorpat – hat mir bereits gute Arbeitsbedingungen geschaffen und mich als wissenschaftlichen Mitarbeiter eingestellt. Durch den EU-Beitritt werden bestimmte bürokratische Abläufe wie die Verlängerung der Aufenthaltgenehmigung und der Grenzübertritt deutlich vereinfacht. Meine Frau ist Estin, sie braucht sich nun nicht mehr als Europäerin zweiter Klasse in Westeuropa zu fühlen. Langfristig wird der Beitritt zu einem stabilen Wirtschaftswachstum in Estland führen und die Lebensumstände der estnischen Gesellschaft deutlich verbessern. Ich denke, dass meine berufliche Tätigkeit und das Privatleben durch die EU-Mitgliedschaft nur profitieren können.

Erwarten Sie eine Intensivierung der Kontakte zu den anderen EU-Ländern?

Schon heute besteht eine umfangreiche Kooperation mit Westeuropa und Skandinavien und ich erwarte, dass in Zukunft die Zusammenarbeit mit den direkten Nachbarn Lettland, Litauen und Russland intensiviert wird. In meinem Fach, der Zeitgeschichte, wird in vielen ostmitteleuropäischen Ländern noch zu sehr aus der nationalen Perspektive geforscht und der internationale Zusammenhang unterschätzt. Auch hier kann sich die Osterweiterung der EU nur positiv auswirken. Besonders wichtig erscheinen mir gemeinsame Tagungen und Forschungsprojekte, um die Einengung durch die nationale Sichtweise zu verringern.

Wie wird sich der Beitritt auf die Beziehungen Estlands zu Deutschland auswirken?

Die historische Rolle Deutschlands war ja für die Esten keineswegs nur positiv, denken Sie beispielsweise an die Erfahrung zweier deutscher Okkupationen in den Weltkriegen oder die unrühmliche Rolle deutscher Freikorps im Baltikum 1919. Auf die Eroberung des Baltikums durch vorwiegend deutsche Kreuzfahrer und die siebenhundertjährige Vorherrschaft einer deutschbaltischen adligen Oberschicht kann hier gar nicht erst eingegangen werden. »Globalisierung« erscheint mir als Schlagwort, das immer mehr an Inhalt verliert. In Estland könnte darunter in den letzten 13 Jahren auch die Etablierung und Stabilisierung eines demokratischen Regierungssystems und einer funktionsfähigen Marktwirtwirtschaft nach 50 Jahren Diktatur und Kommandowirtschaft verstanden werden. Dabei wurde Estland sehr von Deutschland unterstützt. Der zunehmende amerikanische Einfluss in der Kultur und im Alltag ist eine Folge der freiwilligen Entscheidung der Konsumenten und nicht staatlichen Zwanges wie im Falle der Sowjetisierung.

Estland ist durch seine Geschichte kulturell eng mit Deutschland verbunden. Denken Sie, dass sich diese historischen Beziehungen durch den Beitritt vertiefen?

Die Beziehungen zwischen Estland und Deutschland werden sich sicherlich vertiefen, doch dazu müssten noch die letzten Hürden abgebaut werden. Diese errichtet jedoch nicht der estnische Staat, sondern Deutschland wie im Falle des Niederlassungsrechts. Während ich selber in Estland als Deutscher praktisch nur positive Erfahrungen mit den Behörden gesammelt habe, trifft dies im umgekehrten Fall nicht unbedingt zu. Ich habe erlebt, wie estnische Kollegen, Studenten oder auch meine Frau von deutschen Institutionen von oben herab behandelt werden und Schikanen erdulden müssen. Als besonders schikanös ist mir ein Mitarbeiter eines deutschen Konsulats in Erinnerung. Derartiges habe ich auf estnischen Behörden nie gesehen.

Was können wir von Estland lernen?

Von einer Vertiefung der Beziehungen könnte auch Deutschland profitieren, da sich in Estland einiges lernen lässt. So beträgt der Einkommenssteuersatz beispielsweise einheitlich 26 Prozent, die Steuererklärung kann in wenigen Minuten im Internet abgewickelt werden und in unproblematischen Fällen erfolgt die Steuerrückerstattung innerhalb von fünf Tagen. Deutsche Probleme wie das Dosenpfand oder die Ladenöffnungszeiten werden hierzulande mit einem höflichen, aber verständnislosen Lächeln quittiert.

Welche Rolle spielt das deutsche Kulturerbe heute in Estland?

Obwohl der deutsche Einfluss in der estnischen Geschichte sehr viele negative Seiten hatte, wird das deutsche kulturelle Erbe heute liebevoll gepflegt. Ließ der sowjetische Staat noch die Grabkreuze deutscher Friedhöfe als Altmetall einsammeln und den Platz hinterher planieren, so kümmern sich jetzt die staatliche Denkmalpflege, zahlreiche Vereine, Institutionen und Privatpersonen trotz verhältnismäßig knapper Mittel liebevoll um Gutshöfe, historische Bauten oder auch die Friedhöfe, die instandgehalten oder renoviert werden.

Werden deutsche Kulturdenkmäler heute noch als ein fremdes Erbe betrachtet?

Während in der Sowjetzeit die staatliche Propaganda die Deutschen, besonders die Deutschbalten, zum nationalen Feindbild der Esten schlechthin aufbaute, hat seit langem ein Umdenken eingesetzt, das sich an zahlreichen neueren Publikationen ablesen lässt. Die estnische Geschichte wird nicht mehr so sehr als eine Geschichte der Esten, sondern als eine Landesgeschichte verstanden, die auch die nationalen Minderheiten, darunter die kulturell über Jahrhunderte dominanten Deutschen, einschließt. Auf dem estnischen Zwei-Kronen-Schein prangt nicht ohne Grund das Portrait des deutschbaltischen Mediziners Karl Ernst von Baer, dessen Denkmal zum Beginn der Studententage, des größten Festes in Tartu, alljährlich mit Sekt gewaschen wird. Erst dann kann die Feier beginnen. Die jüngere Generation verfügt heute sicherlich über eine unbefangenere Haltung gegenüber der Vergangenheit, als sie bei einigen älteren Menschen anzutreffen ist. Aber hier handelt es sich wohl um ein gesamteuropäisches Phänomen. Ich denke, dass man sich dem historischen Erbe ohne Vorurteile möglichst objektiv annähern sollte. Die Zeit der Beschönigung oder Anklage sollte überwunden sein und einer realistischeren Bewertung Platz gemacht haben.