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»Einen Menschen möchte ich jedoch besonders erwähnen: Meine wunderbare Freundin Renate, die heute extra aus Masuren angereist ist.« Anderas Kossert während seiner Dankesrede alle Fotos auf dieser Seite:

gehalten am 5. Oktober 2008 im Haus der Berliner Festspiele

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde,

und Lieber Chris (Christopher Clark, Laudator – Anm. d. Red.), vielen Dank für Deine wunderbaren Worte. Du hast in Deinem Buch geschrieben: Am Anfang war Brandenburg. Allerdings muss ich dieses – ich bekenne mich leidenschaftlich zu meiner Einseitigkeit! – natürlich in Frage stellen und sagen: Am Anfang Preußens war zunächst vor allem Ostpreußen!

Mit großer Dankbarkeit und Freude nehme ich diese Auszeichnung entgegen. Vielen ist zu danken, dem Deutschen Kulturforum, den Veranstaltern der Berliner Literaturfestivals, viele, die ich hier nicht einzeln erwähnen kann, aber die mit mir heute diese Auszeichnung feiern. Und für ihre Begleitung, Zuneigung und Freundschaft danke ich sehr.

Einen Menschen möchte ich jedoch besonders erwähnen: Meine wunderbare Freundin Renate, die heute extra aus Masuren angereist ist. Wie oft haben wir im südlichen Ostpreußen – also vor Ort – die wunderbaren versunkenen Welten erspürt. Wie oft sind wir im Dickicht über alte Dorffriedhöfe gestolpert, haben Menschen interviewt, sind im Schnee stecken geblieben … Wie oft haben wir abends an masurischen Seen gesessen, sind durch einsame Wälder auf den Spuren Ernst Wiecherts gefahren, haben in masurischen Häusern Mäuse gejagt, Pierogi und Barszcz von Pani Teresa gegessen und wie über die Lebenswelten des alten Ostpreußen gesprochen, bei Rotwein am Kamin. Liebste Renate, herzlichen Dank!

Gestatten Sie mir, gerade zum Abschluss des Berliner Literaturfestivals einige Worte zum Verhältnis der Geschichtswissenschaft zur Literatur. Ich verneige mich vor der Literatur, die hier mit Richard Wagner erfreulicherweise eine besondere Auszeichnung erfährt. Viele meiner Fachkollegen tun sich schwer damit, Belletristik als gleichwertige Quelle heranzuziehen. Ich halte das für einen großen Fehler.

Wenn wir uns den östlichen Landschaften Europas zuwenden, erhalten wir doch häufig erst durch die Literatur einen Zugang zu ihrem ungeheuren kulturellen Reichtum. Mein Blick auf das östliche Mitteleuropa ist ohne die Literatur nicht denkbar. Ich verdanke der Literatur sehr viel und gestehe es unumwunden zu: Sie ist uns Historikern meist weit voraus. Die Literatur ist ein Seismograph, die Konfliktlinien, Spannungen und gesellschaftliche Defizite viel früher zu benennen vermag als die historische Forschung.

Mein Zugang zu Masuren, zu Ostpreußen, ja zur Welt des östlichen Mitteleuropa überhaupt, war neben meinen familiären Wurzeln und den äußerst schmackhaften Königsberger Klopsen der ostpreußischen Großmutter auch und vor allem die Literatur. Und es wird nicht verwundern, dass ich hier das heimatmuseum von Siegfried Lenz nenne. Das ist der kritische Heimatroman, der die fatale Instrumentalisierung einer einmaligen Kulturlandschaft aufzeigt. Er ist der Schlüssel zum Verständnis, warum die alte europäische Welt nicht mehr existiert, zerstört von konkurrierenden Nationalismen mit Absolutheitsanspruch. Dieser Roman erschien lange bevor wir Historiker uns getraut haben, aus den wohlbehüteten Freund-Feind-Stellungen, aus den Schützengräben einseitig nationaler Perspektiven.

Bei Siegfried Lenz konnte man früh nachlesen, wie Geschichte instrumentalisiert, manipuliert, verfälscht und umgelogen werden kann. Für jeden Forscher über Nationalismus und einseitige Geschichtsbilder sollte ein solcher Roman zur Pflichtlektüre gehören.

Am Ende – nach Flucht und Vertreibung aus der masurischen Heimat – sammelt mein Held Zygmunt Rogalla die geretteten Schätze in einem Heimatmuseum. Als ihn jedoch wieder eine unheimliche Konjunktur, ein Zeitgeist, umwehen wollte, entschloss er sich zum letzten Mittel: Um die Geschichte Masurens vor einer erneuten Vereinnahmung zu schützen, steckt er sein über alles geliebtes masurisches Heimatmuseum in Brand. Er sagt:

»Ja, Martin, die ersten Vorbereitungen, und ich traf sie bedachtsam und in der ruhigen Gewißheit, daß mir nun nichts anderes mehr übriggeblieben war, als von meiner letzten Freiheit Gebrauch zu machen, gründlich, bevor geschah, was ich nicht dulden und auf mich nehmen konnte. Während ich eingefärbten Wollabfall zusammentrug, während ich den Kanister, dessen Inhalt die Wolle tränken sollte, hierhin und dorthin schleppte, bis ich ihn schließlich unter Trachten verwahrte, während ich schon die Stellen bestimmte, an denen es zuerst aufflammen sollte, während ich hundert Versuchungen widerstehen mußte, dies oder jenes noch im letzten Augenblick auf die Seite zu schmuggeln, hatte ich nur den Wunsch, die gesammelten Zeugen unserer Vergangenheit in Sicherheit zu bringen, in eine endgültige, unwiderrufliche Sicherheit, aus der sie nie wieder zum Vorschein kommen würden, wo sich aber auch niemand mehr ihrer bemächtigen könnte, um sie für sich selbst sprechen zu lassen.«

Ostpreußen – das Land der dunklen Wälder und kristallnen Seen – gibt es nicht mehr, es ist versunken, aber wir haben weiterhin seine einmalige Geschichte und Kultur. Und wir haben wieder ungeteilten Zugang zu seinen landschaftlichen Schönheiten. Den Verlust Ostpreußens kann man durchaus betrauern, aber er sollte uns nicht rückwärtsgewandt blicken lassen. Heute können wir gemeinsam mit Russen, Polen und Litauern das kulturelle Erbe dieser einzigartigen Kulturlandschaft beschreiben, sichern und der Nachwelt erhalten. Ja, das ist sogar unsere Pflicht! Das ist auch die Aufgabe von uns Historikern. Wenn ich mit meinen Büchern, mit meinen Forschungen dazu beitragen konnte, aufzuzeigen, wie unterschiedliche Nationalismen das alte Ostpreußen zerstört haben, wäre das vielleicht eine symbolische Genugtuung für den wahren Heimatliebenden Zygmunt Rogalla. Nie wieder dürfen Heimatmuseen nationalistisch vereinnahmt, nie wieder Heimatmuseen in Brand gesetzt werden. Wenn sich zukünftig die Nachfahren des Romanhelden Zygmunt Rogalla in meiner Geschichte Ostpreußens wiederfinden könnten, wäre ich sehr dankbar.

Herzlichen Dank.

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