Ernst Stöckl und Klaus Harer
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Zar Alexander I. Portrait von Gerhard Kügelgen, 1801
Fürst Dmitri Michajlowitsch Golizyn. Portrait von Drouet d.J., 1762
Titelseite der Artaria-Ausgabe, Wien
Titelseite der Ausgabe von Breitkopf & Härtel, Leipzig

CD des Kulturforums stellt erstmals vier seiner zwischen 1782 und 1801/02 gedruckten Streichquartette vor.

Anton Ferdinand Titz wurde 1742 in Nürnberg geboren. Er war schon als Kind verwaist, und sein Onkel, der Landschafts- und Blumenmaler Johann Christoph Dietzsch (1710–1789), nahm sich seiner an. Er wollte aus dem Jungen unbedingt einen Maler machen, setzte ihn jedoch,als Anton für diese Kunst weder Begabung noch Interesse zeigte, kurzerhand auf die Straße. Den verstoßenen Knaben nahm hierauf seine allein stehende Tante Barbara Regina Dietzsch (1706–1783), ebenfalls Malerin, zu sich. Sie brachte der ausgeprägten Musikliebe des Jungen das nötige Verständnis entgegen und sorgte für einen systematischen Geigenunterricht. Wer den jungen Titz damals unterrichtete, ist unbekannt. Mit siebzehn Jahren beherrschte er jedenfalls das Violinspiel so gut, dass er in die Kapelle der St.Sebaldus-Kirche aufgenommen wurde.

Aus der Schreibweise des Namens seiner nächsten Verwandten, die alle Kunstmaler waren, geht hervor, dass Titz ursprünglich Dietzsch geheißen haben muss. In verschiedenen Quellen findet sich auch weitere Namensformen: Tietz, Ditz, Dietz etc. Wir folgen der Form Titz, unter der die meisten seiner Werke überliefert sind.

Über das Leben des Komponisten ist nicht viel bekannt. 1842 – sicherlich anlässlich des hundertsten Geburtstags des Komponisten – erschien in einer St. Petersburger Theaterzeitschrift eine Lebensbeschreibung des Musikers, die – mit den Initialen »N.M.« unterzeichnet – wohl von dem Schriftsteller und Musikkenner Nikolaj Melgunow (1804–1867) stammt. In dieser russischen Quelle lassen sich Anekdotisches und dokumentarisch Gesichertes nicht immer scharf voneinander trennen.Wir erfahren hier, dass eine enttäuschte erste Liebe den etwa zwanzigjährigen sensiblen Jüngling veranlasste, Nürnberg den Rücken zu kehren und sich in Wien nach einem neuen Betätigungsfeld umzusehen. Hier wurde er mit Christoph Willibald Gluck bekannt, dem der junge Geiger offenbar sympathisch war, so dass sich zwischen den beiden Musikern ein freundschaftliches Verhältnis zu entwickeln begann. Titz verdankte Gluck die Anstellung als Geiger im Opernorchester. Folgt man der russischen Quelle, so war Gluck in Wien der einzige Mensch,mit dem sich Titz verbunden fühlte. In Wien wirkte Titz gelegentlich bei den »musikalischen Akademien« des Fürsten Lobkowitz mit. Als ihn dabei der auf der Durchreise weilende hohe russische Beamte Pjotr Alexandrowitsch Sojmonow spielen hörte, war er so begeistert, dass er den Geiger nach Russland einlud. Und so ging Titz 1771 nach St. Petersburg.

Seine Laufbahn in Russland gestaltete sich erfolgreich. Er wurde Kammermusiker der Zarin Katharina II. und als Erster Geiger in das Erste Hoforchester aufgenommen. In dieser Stellung erzielte er zwischen 1794 und 1799 ein Jahreseinkommen von 2500 Rubel, mehr als was alle anderen Musiker an diesem Hofe erreichten. Neben dem Dienst im Orchester war Titz als Violinlehrer in der Theaterschule tätig, und im Auftrag der Zarin hatte er den Großfürsten Alexander Pawlowitsch, den späteren Zaren Alexander I., im Violinspiel zu unterweisen.Titz besaß zweifellos pädagogisches Talent, im Falle des Großfürsten gelang es ihm jedenfalls, aus seinem Schüler einen tüchtigen Geiger zu machen.

Öffentliche Auftritte, wie man sie eigentlich von ihm erwartet hätte, hielten sich sehr in Grenzen. Im Allgemeinen vermied Titz Auftritte vor einem breiten Publikum. Dies war wohl der Menschenscheu und dem introvertierten Wesen des Musikers geschuldet, das der Verfasser der russischen Biografie ebenfalls auf die enttäuschte Jugendliebe aus der Nürnberger Zeit zurückführt.

Vermutlich zu Beginn der 1780er Jahre wurde Titz mit der Bildung und Leitung eines Kammermusikensembles betraut. Die ihm übertragene Aufgabe kam seiner Veranlagung in geradezu idealer Weise entgegen. Da er – wie sein Biograf vermerkt – »wegen seiner Schüchternheit nie hätte Konzertgeiger werden können, dafür aber im Quartett in seinem Element war«, musste ihm das Ensemblespiel besonders zusagen. Damit konnte er die am russischen Hof verloren gegangene Tradition der Kammermusikpflege neu beleben. Erste Berührung mit der Kammermusik Westeuropas hatte es am Zarenhof schon in den 1720er Jahren gegeben, als der Herzog Ulrich von Holstein-Gottorp, der spätere Schwiegersohn Peters des Großen, seine Kammerkapelle mit nach Petersburg gebracht hatte. Die Musiker dieser Kapelle spielten neben Orchesterwerken auch regelmäßig Sonaten und Trios. Peter der Große wohnte diesen herzoglichen Kammerkonzerten nicht nur selbst öfters bei, sondern ließ die Musiker auch fast jede Woche einmal an seinem Hofe spielen, wo sie allgemeinen Beifall fanden. Nach diesem ersten Kontakt der russischen Hofgesellschaft mit der Kammermusik Westeuropas erlebte der Zarenhof, als er 1733 und dann wiederum 1735 eine italienische Hofoper einrichtete, nicht nur eine Blütezeit der Opera Seria, sondern getragen von den im italienischen Opernorchester wirkenden Violinvirtuosen Giovanni Verocai, Luigi Madonis und Domenico dall’Oglio auch eine strahlende Epoche der spätbarocken Violinkunst. Diese Geiger traten in den Hofkonzerten regelmäßig als Solisten hervor, räumten aber dabei auch Kammermusikwerken wie Sonaten und Trios einen gebührenden Platz ein. Damit knüpften sie an die Tradition der 1720er Jahre an und führten sie zu einem glanzvollen neuen Höhepunkt. Als die Italiener in den 1760er Jahren Petersburg verließen, riss die Kammermusikpflege unvermittelt ab. Die früher gehörte Kammermusik lebte jedoch in der Erinnerung der Hofgesellschaft fort, so dass ihr Verschwinden aus dem höfischen Musikleben als Lücke empfunden wurde. Katharina scheint das gespürt zu haben und gab schließlich den Befehl zur Gründung eines festen Ensembles, um damit die verloren gegangene Tradition wieder aufzunehmen. Wann immer der Zarin oder einem Mitglied der Hofgesellschaft der Sinn nach musikalischer Unterhaltung stand, wurde nun Titz gerufen und musste mit seinem Ensemble, dem die besten in Petersburg wirkenden Musiker angehörten, für die hohen Herrschaften aufspielen. Die Zusammensetzung wechselte, es gab immer auch Besetzungen, für die erst geeignete Arrangements geschaffen werden mussten. Mit dieser Aufgabe ist Titz offenbar gut fertig geworden. Als Musizierform bevorzugte er aber das Streichquartett, das seine Lieblingsbesetzung war. »Es gab nichts, was man mit seiner angenehmen Bogenführung und mit jenen wunderbar zarten Tönen hätte vergleichen können, die er den Saiten seiner Geige entlockte«, berichtet sein russischer Biograf. »Besonders vortrefflich war er im Adagio, seine Violine weinte im vollen Sinne dieses Wortes, und sie rührte auch andere zu Tränen.« Im Jahre 1797 befiel Titz eine Gemütskrankheit, die sich in Anfällen von Melancholie, übersteigertem Misstrauen und sogar in einer bestimmten Art von geistiger Verwirrung äußerte. Die Neigung zur Melancholie, die sich vor allem in hartnäckigem Schweigen ausdrückte, wurde mit jedem Jahr schlimmer. Dennoch kam der deutsche Geiger seinen dienstlichen Verpflichtungen weiter nach und begeisterte wie früher seine Hörer durch sein glänzendes Violinspiel: Noch im Jahre 1799 war er Mitglied des Ersten Hoforchesters. Das romantische Bild eines Musikers, der zum Schweigen verdammt war, aber andererseits seinem Instrument wunderbare Töne entlockte, konnte die höhere Gesellschaft nicht unberührt lassen. Die berühmtesten russischen Dichter ihrer Zeit, Gawrila Derschawin und Iwan Dmitriew ließen sich von Titz’ tragischem Schicksal zu Gedichten anregen. Besonders Dmitriews 1798 geschriebene Verse sind bis heute bekannt:

Was höre ich,Titz? Der von dir beseelte Bogen Singt und spricht und bewegt die Herzen aller. O Sohn der Harmonie! Dir gebührt der Ehrenkranz, und die gewöhnliche Sprache kannst du verachten.

Der deutsche Geiger und Komponist Louis Spohr, der sich 1802/03 in Petersburg aufhielt, und Anton Ferdinand Titz besuchte, berichtet in seinen Memoiren, dass Titz ihn bei ihrer ersten Begegnung mit sehr wirren Worten empfangen habe. Der selbstbewusste junge Spohr äußerte sich etwas herablassend über die »veraltete« Spielweise des alten Titz, war aber von seinen Kompositionen beeindruckt. In den Memoiren hielt er fest: »Ist nun Titz auch kein großer Geiger, noch weniger der größte aller Zeiten, wie seine Verehrer behaupten, so ist er doch unbezweifelt ein musikalisches Genie, wie seine Compositionen hinlänglich beweisen«.

Anton Ferdinand Titz starb Ende Dezember 1810 in St. Petersburg.

Die Streichquartette von Anton Ferdinand Titz

Das überlieferte kompositorische Werk von Anton Ferdinand Titz ist nicht sehr umfangreich. Es umfasst Duos für zwei Violinen, Duos für Violine und Bass, Sonaten für Cembalo und obligate Violine, Streichquartette und -quintette, ein Violinkonzert (Es-Dur) und eine dreisätzige Symphonie. Die Quartette und Quintette nehmen eine bevorzugte Stellung ein, auch wenn von den Quintetten kein einziges gedruckt wurde.

Die frühesten Quartette sind die Six Quatuors, die im Jahre 1781 bei Artaria in Wien erschienen und dem Fürsten Dmitri Michajlowitsch Golizyn (1721–1793), der von 1761 bis 1792 Außerordentlicher Gesandter am Wiener Kaiserhof war, gewidmet sind. Golizyn war ein bedeutender Kenner und Liebhaber der schönen Künste und förderte in großzügiger Weise Maler, Musiker und auch Wissenschaftler. So unterstützte er auch Mozart während dessen Wienaufenthalts im März 1768, indem er für das Geschwisterpaar Mozart eine »große musikalische Akademie« veranstaltete. Solche Akademien fanden im Wiener Palais des Fürsten Golizyn häufig statt. Noch im Dezember 1782 engagierte er Mozart für eine Reihe von Konzerten. Möglicherweise war auch Titz in den »musikalischen Akademien« des Fürsten aufgetreten. Die Widmung der Six Quatuors für den bedeutenden Mäzen war daher kaum zufällig. Die Stücke scheinen guten Anklang gefunden zu haben, sodass der Pariser Verleger Antoine Bailleux vermutlich noch 1781 einen Nachdruck der Quartettstimmen herausbrachte, in dem er Titz als »Eleve d’Haidn« bezeichnete.

Die Six Quatuors stehen noch ganz im Zeichen der Wiener Frühklassik. In den ersten Sätzen weisen sie eine mehr oder minder willkürliche Reihung des thematischen Materials auf. Das für unsere Aufnahme ausgewählte d-Moll-Quartett (Nr. 5) besteht aus nur zwei Sätzen, einem Allegro und einem Rondo, das c-Moll-Quartett (Nr. 4) zeigt dagegen schon die spätere klassische Viersätzigkeit mit zwei schnellen Ecksätzen, einem Menuett mit Trio und einem dem Menuett folgenden langsamen Satz. Eine Sonatensatzform ist jedoch nicht zu erkennen. Auffällig ist die relativ häufige Verwendung von Moll-Tonarten. Über die Entstehungszeit dieser Quartette ist nichts bekannt, es ist aber davon auszugehen, dass Titz sie für seine Kammermusiken am Petersburger Hof geschrieben hat. Bei den sechs von Artaria 1781 verlegten Streichquartetten haben wir es daher mit den ersten in Russland komponierten Werken dieser Gattung zu tun. Titz kann infolgedessen mit Recht als der Begründer einer eigenen Streichquartett-Tradition in Russland angesehen werden.

Nach diesen frühen Quartetten erschienen 1802 bei Simrock in Bonn und Paris die Trois Quatuors mit einer Widmung an den kurz zuvor inthronisierten Zaren Alexander I., den früheren Violinschüler des Komponisten. Kurz darauf folgte ein Nachdruck bei Breitkopf & Härtel in Leipzig und nach 1808 eine Ausgabe im Petersburger Verlag Dittmar. Wenn Titz hinsichtlich der Satzfolge in diesen Quartetten auch unterschiedlich verfährt, so bewegt er sich doch immer im Rahmen des klassischen Formschemas. Mit einem Adagio (G-Dur) als Einleitung, einem Allegro in G-Dur, einem Adagio in D-Dur mit Mittelteil in d-Moll, einem Menuett (Allegretto) in G-Dur mit Trio in g- Moll und einem Rondo in G-Dur entspricht das Erste Quartett vollkommen dem klassischen Formschema. Im Kopfsatz (Allegro) wird das Hauptthema zunächst vom Violoncello, dann – geringfügig verändert – von der Ersten Violine und schließlich – ebenfalls etwas modifiziert – von der Viola vorgetragen. An das Thema schließen sich Sechzehntelpassagen an, die das jeweilige Instrument solistisch wirkungsvoll hervortreten lassen. Erst spät (Takt 79) erklingt in der Zweiten Violine das verhältnismäßig kurze und eines Kontrastes entbehrende Seitenthema. Es geht in eine zweitaktige Passage über, die sogleich vom Violoncello aufgegriffen sowie stark verändert fortgeführt wird und schließlich mit arpeggierten Triolen in eine kurze Coda mündet. Alle vier Musiker erhalten die Gelegenheit, ihr Können unter Beweis zu stellen, nicht nur hinsichtlich der technischen Perfektion, sondern auch in Bezug auf die musikalische Gestaltung. Im Dritten Quartett (a-Moll) stellt Titz dem ersten Allegrosatz gleichsam als Einleitung ein Siciliano affettuoso voran und bringt als langsamen Satz eine Romance in A-Dur, beides Sätze, in denen seine lyrischen Ambitionen zum Ausdruck kommen. Am konsequentesten setzt er die klassische Sonatensatzform im Allegro-Satz um. Die Exposition hat ein dramatisches a-Moll-Thema und ein Seitenthema in der parallelen Dur-Tonart,worauf eine Durchführung und Reprise mit Coda folgen. Bei der Komposition dieser Stücke hatte Titz ganz offensichtlich das hohe künstlerisch-musikalische Niveau seiner Streichquartettkollegen im Auge, und es scheint, als habe er die Werke eigens für sein Ensemble komponiert, das er von der Ersten Violine aus souverän leitete.

Drei weitere Quartette, die Titz dem Senator und Musikliebhaber A.G. Teplow widmete, erschienen ebenfalls nach 1808 bei Dittmar. Das bisher einzige bekannte Exemplar dieser Quartette ist so unvollständig, dass die Stücke nicht aufgeführt werden konnten. Inzwischen wurde ein vollständiges Exemplar in der Gebietsbibliothek von Uljanowsk (früher Simbirsk) aufgespürt,das ursprünglich aus der Privatbibliothek der Familie des Dichters Nikolaj Karamsin entstammt.

Titz hat als ausübender Musiker wie auch als Komponist in der russischen Musikgeschichte des letzten Drittels des 18. Jahrhunderts deutliche Spuren hinterlassen. Zum einen schuf er mit seinem verinnerlichten Ensemble- und insbesondere Streichquartettspiel bei seinen Hörern ein Klangerlebnis von einer Eindringlichkeit, wie es vor ihm noch niemand erzielt hatte. Bedeutender noch war aber Titz’ schöpferisches Wirken als Komponist: Er schuf in Russland die ersten Streichquartette. Indem er in ihnen die Sonatensatzform verwendete, gelang es ihm, dieses Genre an die Entwicklung der westeuropäischen Instrumentalmusik heranzuführen, ohne dabei seine vom russischen Milieu beeinflusste individuelle Komponierweise aufzugeben.

© 2006

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