Annegret Oberndorfer
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Sächsische Zeitung – Görlitzer Nachrichten • 11.12.2004

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung der Sächsischen Zeitung.

Grau und dick, so als wollte er etwas verbergen, liegt der Staub auf den Fensterbrettern der Gleiwitzer Familoki, auf den Bergarbeiterhäuschen. Nach und nach verschwindet dahinter in den 1950er und 1960er Jahren das polnisch-deutsch-jüdisch-schlesische Nebeneinander der Kulturen in der oberschlesischen Industriestadt.
So empfindet es wenigstens J., die Hauptfigur im 141 Seiten starken Roman Zuhause, Traum und Kinderspiele des bekannten polnischen Autors Julian Kornhauser, der mittlerweile auch in deutscher Sprache erschienen ist. J. – dessen Namenskürzel Ausdruck eines heranwachsenden Jungen auf Identitäts- und Wurzelsuche sein soll – flüchtet sich in Träume.

Flucht aus der Realität

Er denkt aber auch im realen Leben an Flucht aus seiner Gleiwitzer Kinderwelt: »Ich sollte hier sein, zusammen mit ihnen, sie nicht in einem solchen Moment verlassen. Ja, eigentlich sollte ich zusammen mit ihnen entschwinden, mich in der verstaubten Landschaft auflösen, mich als Teil dieser Gemeinschaft fühlen. Darüber denke ich nach, das schmerzt mich und damit komme ich nicht zurecht«, heißt es in dem Buch über die geheimen Wünsche des Jungen.
Er geht mit der katholischen Mutter in die Kirche, wird vom jüdischen Vater in die Synagoge mitgenommen. Das Hausmädchen spricht Deutsch mit ihm. Vor dem Hintergrund dieser Welt wird J. erwachsen: politische Anschauungen bilden sich ebenso wie das Interesse für Kunst und Literatur und das für Mädchen heraus.
Die innerliche Zerrissenheit mehrt sich zunehmend mit dem Erwachsenwerden. Eindeutige nationale, kulturelle und religiöse Wurzeln lassen sich für J. nicht ausmachen. Und seine Wünsche ans Leben, die er zum Teil selbst noch nicht einmal kennt, weichen freilich von denen der Eltern ab. Was bleibt, ist das Gedankenspiel mit der ein oder anderen Möglichkeit und Rolle für sich im Leben – und ein offenes Ende.

Geniale Perspektive geschaffen

Julian Kornhauser, dessen Biografie eng mit dem Stoff des Romans verknüpft ist, schafft mit einem sich erinnernden Erzähler, der zuweilen neben der Hauptfigur die Bühne betritt, eine geniale Perspektive. Sie weitet sich mit dem Älterwerden von J. und lässt sowohl punktuelle Blicke auf reale Ereignisse der damaligen Zeit wie auch ins Innerste der Hauptfigur zu. Stilistisch bewegt er sich dabei zwischen nüchternem Bericht und surrealer Schöngeistigkeit.

Literarisch anspruchsvoll

In der Tiefe des Romans sind deutlich Literaturkenntnis und ästhetischer Anspruch des Slawistikprofessors Kornhauser zu spüren. Das tut dem Buch aber keinen Abbruch. Denn Julian Kornhauser vermag es als Autor – allein wegen der Thematik und der Logik der Gedankengänge – auch den Nichtwissenschaftler an die Geschichte von J. zu fesseln.


Kornhauser, Julian (2003): Zuhause, Traum und Kinderspiele. Aus dem Polnischen übersetzt von Kirsti Dubeck. Potsdam: Kulturforum östliches Europa e.V. ISBN: 3936168016. Preis: 11,90 Euro.