
Editorial
Mit ruhiger Hand und einem kleinen Skalpell geht es über die bröckelnde Hauswand, Zentimeter für Zentimeter. Unter grauen Farbschichten tauchen schwarze Buchstaben auf – verblasst, aber lesbar: »Polstermaterial-Großhandlung«, ein Wort, Jahrzehnte unter Putz und Farbe verborgen. Was einst als Reklame diente, wird nun zum Zeitzeugnis. Jeder Kratzer legt ein Stück Geschichte frei – aus einer anderen Epoche, als Breslau/Wrocław noch zu Deutschland gehörte.
Entstanden ist die Aufnahme bei einer Recherchereise von KK-Redakteur Markus Nowak in die Odermetropole. Einen Tag lang blickte er Restauratoren bei ihrer Arbeit in den alten Mietskasernen Breslaus über die Schulter. Mit Skalpellen, Pinseln und Pigmenten rekonstruieren sie alte Wandmalereien oder bessern Stuck aus. Achtzig Jahre nach Kriegsende ist es mehr als Restaurierung: Es ist die bewusste Rückholung einer Epoche, die in vielen Teilen des östlichen Europa lange verdrängt war – die deutsche Geschichte. Was einst übermalt wurde, wird nun nicht nur sichtbar, sondern auch geteilt. In den Sozialen Medien dokumentiert insbesondere die junge Generation ihre Funde – freigelegte deutsche Schriftzüge, Jugendstilornamente oder alte Firmenlogos. Was nach 1945 als belastet galt, wird 2025 als Teil der vielschichtigen Geschichte verstanden – und digital gefeiert.
1945–2025: Ende, Neuanfang und Erinnerung haben wir unser aktuelles Heft zum 80. Jahrestag des Weltkriegsendes genannt. Wir wären nicht die Kulturkorrespondenz, würden wir das Thema nicht multiperspektivisch beleuchten. Die Reportage zum Titelbild, mit der Geschichte der »Wiederbelebung« von Breslauer Mietskasernen, ist so ein Beispiel, das Sie in der aktuellen Ausgabe nachlesen können.
Einen authentischen Blick auf die Nachkriegszeit wirft unsere Fotoreportage mit Originalaufnahmen aus den ersten Nachkriegsjahren im Grenzdurchgangslager Friedland. Die Bilder stammen von Fritz Paul, der das Ankommen der Vertriebenen, Notunterkünfte, Warten und Weitermüssen mit eindringlicher Ruhe dokumentierte. Einige Bilder publizierte der Historiker Christopher Spatz 2020 im Buch Heimatlos.
Patricia Erkenberg erklärt KK-Redakteurin Renate Zöller im Interview die weibliche Perspektive bei der Erinnerung an das Kriegsende. Erkenberg ist Mitarbeiterin im Haus des Deutschen Ostens in München (HDO) und eine der Autorinnen einer Ausstellung zur Rolle der Frauen während Flucht, Vertreibung und Integration.
Der Januar 1945 hat sich bis heute ins Gedächtnis der Rumäniendeutschen eingebrannt. Mitte jenes Monats begannen auf Befehl Stalins die Deportationen von 70 000 Deutschen aus Rumänien zum »Wiederaufbau« in die Sowjetunion. Aurelia Brecht, Redakteurin der Allgemeinen Deutschen Zeitung in Hermannstadt/Sibiu, beschreibt in ihrem Beitrag nicht nur diese Geschichte, sondern auch, wie die rumänische Regierung heute mit Entschädigungszahlungen eine symbolische Wiedergutmachung versucht – eine in dieser Form einzigartige Geste. Auch das Kriegsende im Sudetenland steht im Fokus dieser Ausgabe. In ihrer Reportage zeichnet Gabriele Tröger nach, wie Vertreibung, Grenzregime und politische Umbrüche das deutsch-tschechische Grenzgebiet achtzig Jahre später prägen. Die Spur führt zu verlassenen Dörfern, Ruinen in dichten Wäldern und engagierten Initiativen, die Erinnerungsorte schaffen.
Abseits unseres Heftschwerpunktes sei auch das Portrait des vor 140 Jahren geborenen Egon Erwin Kisch, des »rasenden Reporters« aus Prag, eines Pioniers des literarischen Journalismus, empfohlen. Ebenso lesenswert: ein Kurzinterview mit Peter Maffay, unsere aktuellen Buch- und Ausstellungs¬rezensionen sowie unsere Fund- und »Netzstücke«.

Ihr Deutsches Kulturforum östliches Europa
Inhalt
Im Fokus
Epochen
Der Hungerengel ist nicht vergessen
Von Aurelia Brecht
Pinnwand
- Caspar David Friedrich in New York
- Tschechien stärkt Rechtsstellung und Förderung des Deutschen
- »Sowjetdeutsche« gesucht
- Kulturpreis Schlesien an Ulrike Draesner und Jacek Głomb
- Prager Moldau-Ufer soll nach Karel Schwarzenberg benannt werden
- Mit der Bahn zur Schneekoppe
- Biber bauen Damm in Böhmen
Perspektiven
Wenn Mauern sprechen lernen. Wie Breslau/Wrocław sein deutsches Erbe wiederentdeckt
Von Markus Nowak
Durch den Sucher
Friedland und die langen Schatten von Krieg und Vertreibung – auf Fotos von Fritz Paul
Von Christopher Spatz
Der rote Faden»
»Zwischen den vertriebenen Frauen der Nachkriegszeit und geflüchteten Frauen heute gibt es immer noch Parallelen«
Interview mit Patricia Erkenberg
Von Renate Zöller
Rezensionen
Mit der preußischen Ostbahn zum Abflug-Gate
Ralf Meindl: Der Landkreis Allenstein. Geschichtliche Entwicklung und Gegenwart
Von Marcel Krueger
Donezk als Puzzle aus vier plus einer Familiengeschichte
Olena Stjaschkina: Der Tod des Löwen Cecil ergab Sinn
Von Renate Zöller
Glatz glänzt
Tomasz Duszyński: Glatz
Von Judith Hördt
Schatzkammer der ostbrandenburgischen Geschichte
Das Haus Brandenburg in Fürstenwalde
Von Markus Nowak
Momente I
Verschwundene Orte, verschwundene Menschen: Lost Places im deutsch-tschechischen Grenzgebiet
VonGabriele Tröger
Hand aufs Herz, …
… Peter Maffay!
im Gespräch mit der KK
Netzstücke
- Kultur-Click
Online-Museum mit vielen Facetten - Auf die Ohren
Deutsches Sprachrohr junger Stimmen in Rumänien - Feed-Funde
»Russisch Raclette« auf Instagram
Momente II
Geteilte Landschaft – Momentaufnahmen vom polnisch-russischen Grenzland
Von Dawid Smolorz
Hinweise
Gerhart-Hauptmann-Haus | Düsseldorf
Der kaum bekannte Rettungszug von 1945
Haus des Deutschen Ostens | München
Unbekannter Blick auf das Riesengebirge
Kulturzentrum Ostpreußen | Ellingen
80 Jahre Evakuierung Trakehnens
Haus der Heimat des Landes Baden-Württemberg | Stuttgart
Lesereihe aus besonderem Anlass
Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung | Berlin
Relikte von Verlust und Geborgenheit
Donau-Arena | Regensburg
Traditionsreiches Pfingsttreffen
Portrait
Egon Erwin Kisch – Mit Leib und Seele, Haut und Haaren um Kopf und Kragen
Von Renate Zöller
Fundstück
Ein Verkaufsschlager mit magischen Kräften
Von Susanne Šemele