Bügellohe, Bayern. Durch das Fenster weht der Wind, die Glasscheibe im Rahmen fehlt. Auf dem Sims nichts anderes als Staub und ein Schuh, der sich auflöst, zerbröselt. Dicke Spinnweben in den Ecken. Ein Regal an der Wand, darin rostiges Blechgeschirr. Bierflaschen stecken in einem Eimer, wie eben erst geleert und kurz weggeräumt.
Die Wüstung Bügellohe liegt direkt an der tschechischen Grenze im Oberpfälzer Wald. Sie ist nur zu Fuß zu erreichen, rund drei Kilometer geht es einen Wanderweg hinauf. Oben, auf 852 Höhenmetern, stehen Häuserruinen auf einer Lichtung und vereinzelt nebenan im Wald. Was heute als stimmungsvoller Ort vor sich hindämmert und als »Lost Place« Neugierige lockt, war einmal eine Ansiedlung, in der nach dem Zweiten Weltkrieg bis zu 75 Menschen lebten: Sudetendeutsche aus dem nur einen Kilometer weiter gelegenen Wenzelsdorf/Václav. Sie hatten sich im Winter 1945/46 auf den bayerischen Bergsattel zurückgezogen, um der Vertreibung aus der Tschechoslowakei zuvorzukommen. Denn auf dem Sattel, einem bügelartig nach Böhmen hineinragenden Stück Land, besaßen sie Grundstücke. Dort wollten sie auf bessere Zeiten und die Rückkehr in die Heimat warten.
Aus den provisorischen Notunterkünften auf der Wüstung Bügellohe wurden im Laufe der Zeit feste Häuser. Eine Siedlung entstand, aus Materialien, die mühsam aus dem vier Kilometer entfernten Dorf Stadlern durch den Wald nach Bügellohe getragen werden mussten. Auch die Kinder von Bügellohe hatten diesen Weg zurückzulegen, um zur Schule zu gelangen. Irgendwann gab es gar ein Wirtshaus in Bügellohe, selbst eine Kegelbahn.
Die Hoffnung der Bügelloher, wieder in die alte Heimat zurückkehren zu können, war vergebens. 1950 begann die Prager Regierung, Wenzelsdorf dem Erdboden gleichzumachen. In der Sperrzone so nahe am Feind durften fortan nur noch Grenzschützer patrouillieren. Und auf der anderen Seite der Grenze begannen die Bügelloher zu kapitulieren, das Leben in der Abgeschiedenheit, ohne Strom und fließendes Wasser, war viel zu hart. Sie zogen weg. Schließlich blieb nur noch einer übrig: Josef Licha. Erst im Herbst 1967 verließ auch dieser letzte Bügelloher den Berg.
All das erfährt man im sogenannten Fleischhackerhaus, dem einzigen Haus in Bügellohe, das noch ein Dach besitzt. Eine Mini-Ausstellung in Form einer drehbaren Säule zeigt dort historische Fotos aus Bügellohe und informiert über dessen einstige Bewohnerinnen und Bewohner. Initiiert wurde die sogenannte »Dokumentationsrolle« im Jahr 2011 von Birgit Höcherl, der damaligen Bürgermeisterin der Oberpfälzer Gemeinde Schönsee. Höcherl, heute stellvertretende Landrätin des Landkreises Schwandorf, kennt das Thema Vertreibung nicht nur aus Geschichten Fremder: Ihre Mutter wurde im ehemaligen Sudetenland geboren und musste mit ihrer Familie die Heimat verlassen. Die Versöhnung der Völker liegt Birgit Höcherl am Herzen. »Über viele Jahre war Bügellohe dem Verfall preisgegeben, die Natur hat sich etliche Häuser zurückerobert«, sagt sie. »Ich habe versucht, eine Lösung zu finden, die es ermöglicht, zumindest den Bestand zu erhalten«, so Höcherl. Sie kümmerte sich um die Finanzierung, holte das Einverständnis der Grundstücksbesitzer ein und fand Unterstützer bei der Recherche nach Fotos und Informationen für die Dokumentationsrolle. Die meisten ehemaligen Bügelloher reagierten positiv auf das Vorhaben Höcherls, ein Stück Grenzgeschichte zu dokumentieren. Nur eine Ex-Bewohnerin stellte sich anfangs quer. »Sie wollte an diese entbehrungsreiche Zeit nicht mehr erinnert werden.«
Von Bügellohe nach Stockau
Gleicher Wald, anderer Name. Was auf deutscher Seite Oberpfälzer Wald heißt, nennt sich auf tschechischer Seite Böhmischer Wald – nicht zu verwechseln mit dem Böhmerwald weiter südlich. Dort lag die Heimat der Bügelloher: Wenzelsdorf, das heutige Václav. Nichts ist übrig geblieben von dem einstigen 600-Einwohner-Dorf mit seinen Glashütten und dem malerischen Hegerhaus. Stattdessen gammeln hier verlassene Gebäude der tschechoslowakischen Grenzwacht vor sich hin.
Wenzelsdorf gehört zu den rund 3 000 Gemeinden, Gemeindeteilen und Höfen auf dem gesamten Gebiet der einstigen Tschechoslowakei, die nach 1945 untergingen. Die einen, weil sie zu nahe an der Grenze zum »Feind« lagen. Die anderen, weil sich niemand fand, der hier leben wollte.
Den verschwundenen Orten Westböhmens widmet sich der heute 69-jährige Verleger Zdeněk Procházka aus Taus/Domažlice seit einem halben Jahrhundert. Aufgewachsen in direkter Nähe zum Eisernen Vorhang, durchstreifte er schon in den 1970er Jahren die tiefen Wälder seiner Heimat. Auf seinen Wanderungen suchte er nach untergegangenen Siedlungen und den geheimnisvollen Ruinen des Sudetenlands. Im Gepäck hatte er altes Kartenmaterial. »Das waren wunderbare Tage und Nächte, die ich im Feld verbracht habe«, resümiert er heute. Dabei war das kein legales Hobby in der damaligen Zeit. Procházkas Streifzüge im Grenzgebiet brachten zahlreiche Begegnungen mit Grenzsoldaten mit sich. Manche gipfelten in Festnahmen.
Häufig zog es den jungen Procházka nach Stockau/Pivoň. Das Dorf liegt keine zehn Kilometer Luftlinie von Wenzelsdorf bzw. Bügellohe entfernt in einem idyllischen Talkessel. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Stockau 308 Menschen, heute sind es um die fünfzig. Im Norden des Ortes steht die romantische Ruine eines mächtigen Klosters aus dem 13. Jahrhundert. Ihr Zustand ist erbärmlich, nur das Dach wurde jüngst restauriert. Die 1953 ausgebrannte Kirche ist von hohem Gras umwuchert, der Putz abgefallen, die Fenster sind glaslos. Was jeden Nostalgiker von heute begeistert, war für Procházka schon vor Jahrzehnten ein Ort von ganz eigenem Reiz: »Die Architektur und die monumentale Schönheit der verfallenen Klosterkirche haben mich immer verzaubert.«
Von der Kulturlandschaft zum Biotop
Seine Faszination für die Verlassenheit des Sudetenlands und dessen Denkmäler machte Procházka nach der Samtenen Revolution zum Beruf. 1990 gründete er den Nakladatelství Českého Lesa, den »Verlag Böhmischer Wald« mit dem Fokus auf historische Reiseführer über Westböhmen. »Zuvor war es unmöglich, etwas zu veröffentlichen, selbst historische Texte unterlagen der Zensur durch den kommunistischen Apparat«, berichtet Procházka. Bis heute publizierte er rund 230 Titel. Dazu gehören die beiden 2021 veröffentlichten umfangreichen Kataloge Wanderungen durch die verschwundenen Ortschaften des Böhmischen Waldes, die sich den Landkreisen Tachau/Tachov und Taus/Domažlice widmen. Die deutschsprachigen Publikationen sind reich an detaillierten Informationen, Dokumenten, Karten, historischen und eigenen Fotografien.
Jahrzehntelange Recherchen liegen diesen Büchern zugrunde. Procházka verbrachte Hunderte von Stunden in Archiven, stöberte in den Fotosammlungen der Regionalmuseen und sprach mit den ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern verschwundener Orte. »Vor allem in den 1990er Jahren habe ich viele von ihnen direkt an den Stätten ihrer zerstörten Häuser getroffen. Ich erinnere mich mit Dankbarkeit an sie. Leider sind viele von ihnen heute nicht mehr am Leben.« Procházkas Kataloge sind eine Schatzgrube für alle, die sich auf die Suche nach verschwundenen oder fast verschwundenen Orten Westböhmens begeben wollen.
Etwas zu zeigen, was es nicht mehr gibt, ist nicht einfach. Zdeněk Procházka arbeitet in seinen Büchern deswegen sehr wirkungsvoll mit Vorher-Nachher-Fotos. Wo einst Äcker ein Dorf mit Kirche und Bauernhöfen umarmten, wellen sich nun grüne Hügel, erstrecken sich dunkle Wälder. Sonst nichts. Aus einer vom Menschen geprägten Kulturlandschaft mit gemähten Wiesen und bestellten Feldern wurden Biotope mit einzigartiger Flora und Fauna. »Die raue Romantik der heutigen Grenzwälder wurde erkauft mit dem Untergang vieler menschlicher Siedlungen«, sagt Procházka. Während man auf der dicht besiedelten bayerischen Seite von einem Dorf zum anderen laufen kann, ist man auf böhmischer Seite schnell alleine mit sich und der Natur.
Die Kirchenruinen von Neuhäusl und Heiligen
Oft sind es nur noch die Kirchen, die als einziges Zeugnis einstigen Lebens die Zeiten überdauerten. Nicht wenige liegen in Ruinen. Anderswo versucht man, zu retten, was noch zu retten ist. Das tut beispielsweise der tschechische Verein »Omnium«, der sich um das deutsche Erbe Böhmens kümmert. Seine Mitglieder legen eigenhändig alte deutsche Friedhöfe wieder frei und säubern Kirchenruinen im Rahmen von Workcamps. Eine davon liegt im Dorf Neuhäusl/Nové Domky, nahe dem Grenzübergang Rozvadov/Roßhaupt, von dem nur noch zehn von einst rund hundert Anwesen erhalten sind. Die Kirche aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts präsentiert sich als dachloses Skelett. In kommunistischer Zeit diente sie als Stall und Lagerraum, heute ist sie ein Geheimtipp für Lost-Places-Fans. In dem Kirchenschiff wachsen Gras und bunte Blumen. Das Backsteingemäuer liegt blank, der Blick reicht durch den einstigen Glockenturm hindurch bis in den Himmel.
Ein Pfad führt vorbei an einem Wanderrastplatz zum Friedhof mit einem Denkmal für die Opfer des Ersten Weltkriegs. Manche Gräber sind gepflegt, andere verwahrlost. Viele Inschriften lassen sich noch entziffern, wie jene vom Grab des Revierförsters Franz Pesnet. Etwas weiter liegt Katharina Stich begraben, 1889 mit 22 Jahren gestorben, erschlagen von einem umstürzenden Baum. Anderswo wurde versucht, von Vandalen zertrümmerte Grabplatten puzzleähnlich wieder zusammenzufügen.
Auch in Heiligen/Světce, einem Ortsteil des Städtchens Tachau weiter drinnen in Westböhmen, kann man eine außergewöhnliche Kirchenruine besuchen. Das Gotteshaus war früher Teil eines Paulanerklosters, das bereits 1785 aufgegeben wurde. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Kirche durch einen Brand stark zerstört. Seitdem dämmert sie als romantische Ruine vor sich hin. In ihrem Inneren wächst Wald, das Gelände ist frei zugänglich. Das Dorf mit seiner mächtigen Reitschule aus der Mitte des 19. Jahrhunderts hat die Zeiten überdauert. Andere Orte hatten weniger Glück. Allein zwanzig Dörfer im Landkreis Tachau sind nach dem Zweiten Weltkrieg untergegangen.
Die Ausgrabungsstätte Grafenried/Lučina
Bügellohe. Stockau. Neuhäusl. Heiligen. Jeder dieser Orte beschreibt ein eigenes Kapitel der schicksalhaften Geschichte dieses Landstrichs. Wie in Bügellohe kämpfen auch in Grafenried/Lučina, Luftlinie knappe elf Kilometer weiter nördlich, engagierte Menschen gegen das Vergessen. 2011 entstand dort die Ausgrabungsstätte Grafenried, ein bemerkenswertes deutsch-tschechisches Projekt, an dem auch Zdeněk Procházka beteiligt ist. Das Ausgrabungsareal befindet sich nur 500 Meter vom Fußgängergrenzübergang entfernt. Ein grenzüberschreitender Wanderweg führt vorbei.
Wie Grafenried vor 1945 aussah, sieht man auf historischen Fotos in Procházkas Katalog: eine barocke Kirche mit Zwiebelturm, ein Schlösschen mit Giebeldreieck, stattliche Höfe am Anger. 800 Menschen lebten hier einst. In den fünfziger Jahren riss man die Häuser des in der Sperrzone gelegenen Dorfes nach und nach ab. Die Kirche wurde geplündert und später gesprengt. Und heute? Tatkräftig holten die »Ausgräber« Fundamente des Ortes wieder an die Oberfläche. Grundmauern des Pfarrhauses wurden freigelegt, des Wirtshauses, der Brauerei und der Kirche – in der Ruine feiert man heute wieder Gottesdienste. Der Friedhof wurde ebenfalls hergerichtet. Und auch die Nepomukstatue am ehemaligen Dorfplatz mit seinen alten Linden ist wieder da.
Dieser Ort ist ein Stück Hoffnung im Kampf gegen das Vergessen und das Verdrängen der eigenen Geschichte. »Grafenried ist eine Erinnerung an all die Ortschaften, die nach 1945 im Böhmischen Wald untergegangen sind«, sagt Zdeněk Procházka. Auch andere Orte könnten in ähnlicher Art sichtbar gemacht werden. Dem Verleger ist es aber wichtig, dass die touristische Nutzung des Böhmischen Waldes nicht übertrieben wird. Er hält es für falsch, wenn allerorten neue Restaurants und Unterkünfte eröffnen und motorisierte Touristen die Landschaft überschwemmen. »Die Leute sollen den Böhmischen Wald und seine Denkmäler auf eigene Faust und zu Fuß entdecken.«
Gabriele Tröger