Die Theaterwerkstatt war eine Gemeinschaftsveranstaltung des Deutschen Kulturforums östliches Europa, der Gemeinschaft Junger Ungarndeutscher und des Institut für Auslandsbeziehungen
Die Pécser Theaterwerkstatt, die auf einer Idee der Gemeinschaft Junger Ungarndeutscher basierte und schließlich gemeinsam mit der GJU, dem Deutschen Kulturforum östliches Europa und dem Institut für Auslandsbeziehungen realisiert wurde, sollte junge Menschen der ungarndeutschen Minderheit und türkischstämmige Jugendliche aus dem Ruhrgebiet zusammenbringen. Auf diese Weise sollten die drei diesjährigen Europäischen Kulturhauptstädte (Essen, Pécs, Istanbul) vor dem Hintergrund der Fragestellung nach alten und neuen Minderheiten zusammengeführt werden. Die Teilnehmersuche für die Theaterwerkstatt, an deren Ende eine Aufführung in Pécs stehen sollte, gestaltete sich sowohl im Ruhrgebiet als auch in Ungarn schwierig; schließlich fuhren am 5. April vier Teilnehmer aus Deutschland nach Ungarn, um am nächsten Tag mit den Proben zu beginnen.
Boris, was kann man sich unter einer experimentellen »Theaterwerkstatt« vorstellen?
Das Wort »Werkstatt« zielt auf das Verfahren ab, das wir dort angewandt haben, um Theater zu spielen: Wir hatten keinerlei Stückgrundlage, nur die Spieler, die Jugendlichen, mit denen die Choreographin Sermin Kayik und ich gemeinsam ein Stück entwickeln wollten. Das hat zum Beispiel zu Missverständnissen mit der ungarischen Teilnehmerin in unserem Stück geführt; sie kam mit dieser ins Ungewisse bauende Arbeitsweise nur schwer zurecht, fühlte sich unwohl bei dem Gedanken, nicht zu wissen, was man am nächsten Tag proben werde. Sie brauchte anfänglich eine stärkere Rollenführung, wir haben mit ihr die Rolle einer Fremdenführerin entwickelt – später wurde sie freier und überraschte täglich mit neuen eigenen Vorschlägen.
Du sprichst jetzt von einer ungarischen Teilnehmerin – die eigentliche Begegnung sollte ja aber mit den Ungarndeutschen stattfinden. Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit, der Dialog zwischen der »neuen« Minderheit aus dem Ruhrgebiet und der »alten« Minderheit der Donauschwaben?
Tja, als wir ankamen, gab es außer unserer ungarndeutschen Assistentin Zsuzsanna Hum lediglich eine Teilnehmerin, die sich aber am Tag nach dem ersten Probentag aus dem Projekt verabschiedete. Vielleicht hatte auch sie Angst vor dieser experimentellen Theaterform, hinzu könnte die Angst vor der deutschen Sprache gekommen sein, wobei die Sprache im Stück zwar wichtig ist, aber nur sehr dosiert eingesetzt wird; oder auch die Angst, in der Schule etwas zu verpassen, denn Freistellungen für solche Projekte sind äußerst ungewöhnlich in Ungarn. Im Prinzip wäre mit ihrer Absage die Theaterwerkstatt überflüssig geworden – aber als eine der Teilnehmerinnen aus dem Ruhrgebiet, Aylin, sagte: »Na, da hätten wir das Stück auch im Ruhrgebiet machen können!«, wurde mir klar, dass das eben nicht gegangen wäre, denn dort wäre diese Lücke gar nicht aufgetaucht. Jetzt standen wir vor der Situation, uns mit den Ungarndeutschen austauschen zu wollen, die aber nicht da waren. Daraus entsprang letztlich die Idee für das Thema unseres Stückes: Wir suchen die Ungarndeutschen!
Und, habt ihr sie gefunden?
Ja. Wir begannen damit, dass wir in Pécs ankommen, um ein gemeinsames Projekt mit den Ungarndeutschen auf die Beine zu stellen, bauten daraus die erste Szene, in der die Gäste auch die ungarische Teilnehmerin, die Fremdenführerin, treffen, die ebenfalls auf der Suche nach den Ungarndeutschen ist – und so suchen sie gemeinsam. Praktisch haben wir dann bei einem Programmpunkt der Freizeitgestaltung ungarndeutsche Volkstänzer getroffen, die sich von den Jugendlichen interviewen ließen und viele konkrete Antworten gaben, z. B. dass sie zwar deutsch kochen, aber ungarisch würzen, dass sie sich nicht deutsch fühlen, aber auch nicht ungarisch, sondern eben ungarndeutsch, dass Tradition, Tanz, Gesang und die Sprache ganz wichtig für sie sind – gerade letzteres konnten unsere Jugendlichen sehr gut nachvollziehen, auch sie lernen alle türkisch. Über die Zukunft der Ungarndeutschen konnten wir dann noch den Leiter des Lenau-Hauses, Herrn Janos Habel, einen Ungarndeutschen, befragen. Diese Gespräche sind als Teil des Stückes in die Inszenierung eingeflossen und stehen sozusagen für die Ungarndeutschen. Auf der Bühne selbst zu Wort kamen dann noch unsere Assistentin und der Ungarndeutsche Christian Erdei, der Redakteur beim Radio Fünfkirchen ist und im Vorfeld der Theaterwerkstatt schon über die Schwierigkeiten, ungarndeutsche Teilnehmer zu finden, berichtet hatte.
Wie sah die denn die Arbeit mit den Jugendlichen konkret aus?
Es ist für alle ungewohnt, so ins Nichts hinein zu arbeiten, es ist unglaublich, dass sich alle darauf eingelassen haben – und es ging nur, weil alle Teilnehmer eine klare und stark gefestigte Identität hatten und ganz klar ihre Grenzen setzten, die z. B. Religion, Sexualität und private Familienerlebnisse betrafen. So konnten sie sich öffnen. Außerdem war die Körperarbeit extrem wichtig, die Verbindung aus Körper und Sprache war ideal für diese Form des experimentellen Theaters. Eine ganz besondere Schwierigkeit bestand in der Dialogfindung, es mussten ja Texte geschaffen werden, die die Assistentin dann verschriftlichte, den Teilnehmern mitgab, damit diese sie auswendig lernten – diese Texte dienten im Stück natürlich auch als Erinnerungsanker. Diese Dialogfindung war die härteste Arbeit.
Die tägliche Arbeit kann man sich vielleicht vorstellen, wenn ich kurz unsere Entwicklung der ersten Szene schildere: Die Jugendlichen kommen in Pécs an. Was hat man dabei? Wie fühlt man sich nach einer langen Reise? Wie können sie die ungarische Fremdenführerin treffen – soll sie schon auf der Bühne sein oder im Publikum? Durch diese Technik des Schilderns von Situationen, des Nachfragens, Ausprobierens, Verwerfens, Entscheidens haben wir unsere Szenen gebaut, und dazwischen ergab sich fast automatisch das Bedürfnis nach Bewegung, so dass Szenen und choreographische Elemente sich abwechselten.
Wie funktionierte die Zusammenarbeit mit der Choreographin?
Hervorragend, wir haben uns wunderbar ergänzt. Über die Grundthemen für die Choreographie hatten wir uns schon vorher Gedanken gemacht, denn sie sollten die größeren, im Hintergrund der erzählenden Szenen aufscheinenden Themen reflektieren. So sollte der spielerische Charakter aus dem Titel der Werkstatt „Heimspiel in zwei Welten“ aufgegriffen werden, das Thema Identität – was passt zu mir, wo und wie fühle ich mich wohl – musste vorkommen, und das ewige Hin und Her zwischen den Möglichkeiten sollte durch das Wandermotiv aufgegriffen werden, etwas ironisch bezogen auch auf die Ungarndeutschen, indem wir diese Körperarbeit mit der Schubertschen Vertonung von Goethes Gedicht „An den Mond“ hinterlegten. Die letzte, an türkische Volkstänze angelehnte Choreographie sollte schließlich zum ungarndeutschen Volkstanz überleiten.
Das war eine Überraschung: Die Jugendlichen bitten den Moderator des Fünfkirchener Radios, Ungarndeutsche zu holen. Dieser erklärt sich bereit, »mal in Nadasch anzurufen, wo gerade ein großes ungarndeutsches Treffen gefeiert wird«, um einige von den Gästen auf die Bühne zu bekommen. Und tatsächlich, nachdem sich die Jugendlichen mit dem türkischen Tanz und neuem Optimismus von ihm verabschiedet haben, betreten auf einmal ein Akkordeonspieler und zwei Tanzpaare in ungarndeutscher Tracht die Bühne und legen los!
Das war wirklich der intensiven Begegnung der Jugendlichen aus dem Ruhrgebiet mit der ungarndeutschen Volkstanzgruppe zu verdanken, die ja in ihrer Freizeit stattgefunden hatte – die Ungarndeutschen zeigten sich so begeistert von dem Stück, von dem die anderen erzählten, dass sie sich spontan bereiterklärten, für die letzte Szene auf die Bühne zu kommen und zu tanzen, das Stück also zu einem Happy End zu bringen – die Ungarndeutschen sind da.
Was meinst du, was haben die Teilnehmer mitgenommen aus dieser Theaterwerkstatt?
Zum Ersten natürlich diese Erfahrung: Ich stelle mich so, wie ich bin, mit bestimmten Aspekten meiner Biografie, in einem fremden Land und vor fremden Menschen auf die Bühne. Das kann man nur, wenn man innerlich gefestigt und mit sich im Einklang ist, das zeigt eine starke innere Verfasstheit. Zweitens erlebt man immer wieder unsichere Situationen, sowohl von der Organisation als auch von der fremden Kultur als auch von der konkreten Theaterarbeit her, bei denen man nicht genau weiß, wie die Dinge sich entwickeln, die immer abweichen von den gewohnten Verhältnissen zu Hause, und schafft es trotzdem, das Projekt zu einem guten Ende zu bringen. Drittens: Die tatsächliche Begegnung zwischen den Teilnehmern und den Ungarndeutschen hat ja stattgefunden bei den Treffen und Interviews. Hier haben die Teilnehmer sehr viel Eigenarbeit geleistet, haben Initiative gezeigt und konnten durch ihre unmittelbaren Eindrücke der Frage nach alten und neuen Minderheiten nachspüren. Es gab z. B. hinsichtlich der Tatsache, dass sie ja noch nicht einmal ein Jahrhundert lang eine Minderheit in Deutschland bilden, die Frage, ob sie selbst glaubten, sie seien in zweihundert Jahren noch da, mit ihrer türkischen Sprache, mit ihren türkischen Traditionen.
Boris, vielen Dank für das Gespräch!
Das Interview führte Ariane Afsari, Deutsches Kulturforum östliches Europa.
Hören Sie dazu auch den ausführlichen Bericht von Christian Erdei im Funkforum von der Premiere mit vielen Interviews, vor allem auch mit den Teilnehmern der Theaterwerkstatt Zühre Cayli, Deniz Dogan, Metin Korkut, Aylin Öztürk und Andrea Vörös oder direkt hier: teil i | teil ii | teil iii
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