Aus dem Epilog des Buches:
»Es gab einen Plan für das Leben der Charlotte Siemens und der Marie Siemens. Abgesichert durch das Vermögen ihres Vaters, der sie Zeit seines Lebens hütete und umsorgte, sollten sie als Ehefrauen und Mütter glücklich werden. Dass Charlotte, die ältere und temperamentvollere, in Kindertagen das Regiment führte, gab der jüngeren und zurückhaltenderen Marie Schutz und Freiraum. Gemeinsam trauerten die Schwestern um ihre früh verstorbene Mutter sowie beim Tod ihrer Geschwister.
Die schwesterliche Zweisamkeit erwies sich als verlässliche Konstante, als die beiden nach behüteten Kinderjahren in St. Petersburg als Zehnjährige mit ihrem Vater nach London zogen, als Zwanzigjährige in ihre Geburtsstadt zurückkehrten, hier wie geplant ihre Ehemänner fanden und ihre eigenen Familien mit insgesamt elf Kindern gründeten. Die Schwestern erhalten sich ihre enge Verbindung, auch als die beruflichen Verpflichtungen ihrer Ehemänner Charlotte nach Estland auf das Familiengut der Buxhoevedens und Marie in die russischen Gesandtschaften Londons und Weimars führt.
Aufenthalte in deutschen Kurbädern sowie an der französischen Côte d’Azur gehörten zu Charlottes und Maries Alltag, außerdem besuchten sie regelmäßig ihre Verwandten in Dresden und Berlin. So legten sie als Erwachsene üblicherweise jährlich tausende von Kilometern zurück und wirkten auf ihre nicht minder weit gereiste Berliner Verwandtschaft wie ›buntgefiederte‹ Zugvögel. Tatsächlich werden Charlotte und Marie niemals wirklich sesshaft, stets sind sie auf der Durchreise. Zugvögeln gleich bewegen sie sich dabei stets auf festen Routen und in einer großen Gemeinschaft, die denselben aufwendigen Lebensstil pflegt.
Der Erste Weltkrieg und die anschließenden politischen Umwälzungen bedeuten eine tiefe Zäsur im Leben der Charlotte und der Marie. Als alle vertrauten gesellschaftlichen Routinen und Konventionen obsolet werden, gibt es für ihre Zukunft keinen vorgefassten Plan. Schritt für Schritt müssen die beiden ihre Lebensumstände geografisch, wirtschaftlich und persönlich neu gestalten. In dieser Situation tauschen die Schwestern ihre Rollen. Fortan erweist sich Marie als die Robustere, Charlotte als dauerhaft kränkelnd.
Marie hat sich ihr Gottvertrauen bewahren können. Zudem trägt und berät das Netzwerk der Siemens-Familie die Schwestern. Im Austausch über die künftigen Möglichkeiten und Erfordernisse wird auch die Idee der Werner-Stiftung geboren und umgesetzt, deren Wirkungskreis Marie kurz darauf mit der nach ihr benannten Maria-Stiftung ergänzt. Mit diesen Stiftungen inspirieren die beiden Schwestern ihre Cousinen Anna und Hertha sowie ihre Schwägerin Nora zu Zustiftungen. Dadurch wirken ihre Stiftungen weit über ihren eigenen Lebenskreis hinaus. ›Colossal‹ würde Charlotte heute vermutlich lauthals staunen und Marie wohl leise ›Gottlob‹ seufzen.«
(Quelle: Thomas Helms Verlag)
Busjan, Beatrice; Groß, Yvonne: Charlotte Siemens | Marie Siemens.
Schwerin 2023
Herausgegeben von der Werner Siemens-Stiftung, Zug
228 Seiten, 137 Abbildungen, Hardcover, Seideneinband, Stammtafeln, Ort- und Personenregister
65,– Euro | ISBN 978-3-944033-61-7