Mit der Gründung des Deutschen Theaters in Kasachstan ging für viele Russlanddeutsche 1980 ein Traum in Erfüllung. Nach Jahren der Entbehrungen war es ein Zeichen für mehr Selbstbestimmung. Doch schon bald setzte die Ausreisewelle ein, hunderttausende Deutsche verließen Kasachstan. Das Theater verlor seine Schauspieler und sein Publikum. Trotzdem hat es überlebt. Heute steht das Deutsche Theater in Almaty für moderne und experimentelle Inszenierungen.
26. Dezember 1980: Der langersehnte Moment ist gekommen. Langsam hebt sich der Vorhang und die Schauspieler betreten die Bühne. Der erste Auftritt ist nicht perfekt. »Die jungen Schauspieler vermögen sich nicht immer zu bezähmen, hin und wieder fallen sie aus der Rolle«, schreibt die Zeitung Freundschaft nach der Premiere. Dennoch ist es ein denkwürdiger Tag für die Deutschen in der Sowjetunion: Endlich haben sie wieder ein eigenes Theater!
Der Weg zu diesem Moment war steinig. Nach Deportation und jahrelanger Diskriminierung nährte die Geburtsstunde des Deutschen Theaters im kasachischen Temirtau eine Hoffnung: »Wir wollten die deutsche Kultur wiederbeleben«, erinnert sich Peter Warkentin. Er gehörte zu den Schauspielern, die vor vierzig Jahren die erste Spielzeit eröffnet haben. Heute steht das Deutsche Theater in Kasachstans größter Stadt Almaty und genießt einen guten Ruf. Es hat sich als moder-nes Theater durch seine experimentellen, manchmal auch sozialkritischen Inszenierungen einen Namen gemacht. Im Jubiläumsjahr 2020 hatten die Ensemblemitglieder etwas Besonderes geplant. Dann kam Corona und die Theater wurden geschlossen. Wie die Zukunft aussieht, ist ungewiss. Doch ein Blick in die wechselvolle Geschichte des Deutschen Theaters in Kasachstan zeigt: Irgendwie geht es immer weiter.
Szene von einer Aufführung des Stücks »Andorra« von Max Frisch aus dem Jahr 2018 Foto: © Deutsches Theater Kasachstan
Wie es eigentlich zur Gründung des Theaters kam, ist bis heute nicht ganz geklärt. Einer Legende zufolge soll der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt während eines Moskaubesuchs im Oktober 1974 den Wunsch geäußert haben, ins Deutsche Theater zu gehen. Er hatte gehört, dass viele Volksgruppen in der Sowjetunion nationale Theater hatten, in denen sie in ihrer Muttersprache spielten. Leonid Breschnew, damals Generalsekretär der Kommunistischen Partei, soll dem Besuch zugestimmt haben – nicht wissend, dass es gar kein Deutsches Theater gab. Peinlich berührt habe Breschnew danach sofort befohlen, ein neues deutsches Schauspielhaus zu errichten.
Tatsächlich hatte schon einmal ein Deutsches Theater in der Sowjetunion existiert: in der Autonomen Republik der Wolgadeutschen. Doch als Hitler die Sowjetunion überfiel, ließ Stalin nicht nur alle Deutschen nach Sibirien und Zentralasien deportieren. Am 11. September 1941 löste er die gesamte Wolgadeutsche Republik und damit auch das Theater auf. Erst nach Stalins Tod und dem Einsetzen der Tauwetterperiode normalisierte sich langsam das Verhältnis der Sowjetmacht zu den Deutschen. An die Neugründung eines deutschen Theaters war allerdings kaum zu denken.
Ob es wirklich Helmut Schmidts Wunsch war, der letztendlich zu der Entscheidung führte, ist nicht belegt. Tatsache ist jedoch, dass 1975 der Beschluss »Über die Gründung eines ersten deutschen nationalen Theaterkollektivs in Kasachstan und in der UdSSR« unterzeichnet wurde. Aktiv suchte man ab diesem Zeitpunkt nach talentierten Jugendlichen aus der deutschen Minderheit, die an der renommierten Tschepkin-Theaterhochschule in Moskau Schauspiel studieren sollten.
Peter und Maria Warkentin gehörten zu den ersten Ausbildungsjahrgängen der deutschen Gruppe. Sie erinnern sich noch gut, wie euphorisch und gleichzeitig unsicher sie damals waren. »Wo werden wir spielen? Wer wird unser Publikum sein? Diese Fragen gingen uns damals im Kopf rum«, erzählt Maria. Und die vielleicht wichtigste Frage überhaupt: »Wer wird uns verstehen?« Denn von Anfang an war die Sprache ein Problem. Schon bei den Auswahlprüfungen hatten die Ausbilder in Moskau mit Schrecken festgestellt, dass die meisten ihrer künftigen Studenten kaum Hochdeutsch konnten. Einige sprachen gar kein Deutsch, andere, wie Peter und Maria, immerhin Dialekt. Doch für die Bühne reichte das nicht. »Du kannst Lessing nicht auf Schwäbisch vortragen«, scherzt Peter. Also mussten sie fünf Mal die Woche zusätzlich zu ihrem Hauptfach noch deutsche Grammatik, Phonetik und Literatur pauken.
Nach vier Jahren Schweiß und Tränen war es 1980 soweit: Die Ausbildung war beendet und die Schauspieler brachen auf nach Kasachstan, wo seit den Deportationen immerhin fast eine Million Russlanddeutsche lebten. Allerdings hatten die sowjetischen Machthaber kein Zentrum der deutschen Minderheit als Standort auserkoren, sondern die Industriestadt Temirtau. Dort sprach nicht nur kaum jemand Deutsch, Temirtau gilt bis heute als eine der dreckigsten Städte des Landes. »Für uns war die Ankunft in Kasachstan ein Schock«, erzählt Peter. Aus Moskau kommend, sei es ein krasser Unterschied zu dem gewesen, was sie sich erträumt hatten. »Aber wir haben uns erholt, und im Nachhinein waren es künstlerisch und schöpferisch die besten Jahre für das Theater.« Maria kommt noch heute ins Schwärmen, wenn sie an das wunderschöne Theatergebäude in Temirtau denkt. »In einer größeren Stadt hätten wir so was wahrscheinlich nie bekommen«, sagt sie.
Bevor es allerdings richtig losgehen konnte, mussten noch ganz praktische Dinge geklärt werden. Das Ensemble wurde zwar an der besten Theaterschule des Landes ausgebildet, allerdings hatte man vergessen, dass ein Theater nicht nur aus Schauspielern besteht. So gab es zu Beginn weder einen Direktor noch einen Regisseur oder Dramaturgen. Ein halbes Jahr dauerte es, bis schließlich die Eröffnung gefeiert werden konnte. Kurz vor dem Jahreswechsel betraten die 32 Schauspieler des Deutschen Theaters ihre Bühne. Die 400 Plätze im Saal waren komplett besetzt. Mit dem Stück Die Ersten des sowjetdeutschen Schriftstellers Alexander Reimgens, in dem es um die Neuland-Kampagne geht, begann die erste Spielzeit. Es folgten Aufführungen von Emilia Galotti und der Schneekönigin.
Szene von einer Aufführung des Stücks »Menschen und Schicksale« von V. Heinz mit Maria Warkentin und Lydia Deringer. Foto: © Rose Steinmark/Deutsches Theater Kasachstan
Doch schon bald zeigte sich, dass der Anspruch, deutsche Weltliteratur auf die Bühne zu bringen, zu hoch war. Kurz nach der Eröffnung folgte Kritik. »Ihr seid ein deutsches Theater, aber nicht für die deutsche Bevölkerung in der Sowjetunion«, warf ihnen ein Journalist der deutschsprachigen Zeitung Freundschaft vor. Denn einerseits wurde das mühsam erlernte Hochdeutsch in den Dörfern, die das Ensemble auf seinen unzähligen Gastspielreisen besuchte, kaum verstanden. Dort sprach man fast ausschließlich Dialekte wie Platt- oder Wolgadeutsch. Andererseits passten die Stücke einfach nicht zur Lebenswirklichkeit der Sowjetdeutschen. Also veränderte man das Repertoire, zeigte Heimattänze und Volkslieder. Gleichzeitig arbeitete das Theater aber auch die Geschichte der Russlanddeutschen auf: Die Ankunft im Zarenreich im 18. Jahrhundert, Stalins Deportationsbefehl und das Überleben in unwirtlichen Gegenden wurden auf die Bühne gebracht.
Ende der 1980er Jahre durfte das Deutsche Theater in die damalige kasachische Hauptstadt Alma-Ata umziehen. Allerdings kündigte sich zu dieser Zeit bereits der Zusammenbruch der Sowjetunion an. Während der Perestroika begann die große Aussiedlungswelle Richtung Deutschland. Etwa 800.000 Deutsche haben Kasachstan seitdem verlassen. Auch etliche Schauspieler wanderten in die »alte Heimat« aus. Und so wie das Theater langsam sein Ensemble verlor, verschwanden auch die Zuschauer. Peter und Maria Warkentin gehörten zu denjenigen, die bis zuletzt blieben. Lange haderten sie mit sich und der Entscheidung, Kasachstan zu verlassen. Das gerade erst unabhängig gewordene Land hatte große wirtschaftliche Probleme, die Inflation fraß jegliches Einkommen bald auf. »Wir haben fünf Jahre lang gekämpft«, erinnert sich Maria. »Wir wussten nicht, wie es weitergeht. Es waren dunkle Jahre.« 1994 siedelte die Familie schließlich ebenfalls nach Deutschland aus.
So wie Kasachstan erlebte auch das Deutsche Theater »dunkle Jahre«. Wer die Geschichte des Hauses nach 1991 verfolgt, ist überrascht, dass es bis heute überlebt hat. Zu verdanken ist das dem Theaterdozenten Werner Vieira Bringel, genannt Freitag, der durch ganz Russland, Kasachstan und Kirgisistan reiste, um Studenten für eine deutsche Theaterakademie in Almaty zu finden. »Man müsste sich erst an die damalige Lage des Theaters erinnern: Die alten Schauspieler waren alle mit Auswandern beschäftigt, denn sie sahen hier keine Perspektive mehr. Die Neuen waren Anfänger und gerade aus verschiedenen Gebieten angetreten, um irgendwann Theater zu machen«, erzählte er 1996 der Deutschen Allgemeinen Zeitung in Kasachstan in einem Interview.
Unter Bringels Führung übernahmen Mitte der neunziger Jahre die Absolventen der deutschen Akademie die Bühne. Und die jungen Wilden brachten neue Ideen mit. Zwar wollte man auch weiterhin für die deutsche Minderheit da sein, doch verabschiedete man sich von dem ethnischen Konzept. Ziel war es, ein europäisches Theater zu werden, das die kasachische Kulturszene erweitert. Heute spielen Russen, Kasachen, Deutsche, Ukrainer, Weißrussen, Uiguren und andere Minderheiten zusammen. »Wir sind wie eine Mini-Volksversammlung«, scherzt Natascha Dubs. Sie war eine derjenigen, die Freitags Ruf nach Almaty folgte. Seit 2014 hat sie die künstlerische Leitung des Hauses inne.
Dubs ist eine der etwa 180.000 Kasachstandeutschen, die heute noch im Land leben. Und so wie schon vor vierzig Jahren ist die Sprache ein Hauptproblem des Theaters. Denn nur die wenigsten Deutschen hierzulande sprechen noch Deutsch. Auch Dubs hat die Sprache erst auf der Theaterakademie gelernt. Dass weder Publikum noch Ensemblemitglieder Deutsch können, ist für sie allerdings kein Hindernis. »Für Schauspieler ist Sprache ein Arbeitsmittel. Natürlich üben wir ständig Aussprache und Phonetik, aber an sich ist das Theater selbst eine universelle Sprache, die jeder versteht«, sagt sie. Universell ist auch ihre Idee des Deutschen Theaters: »Theater ergänzt Folklore, Essen, Sprache. Kasachstan ist ein multikulturelles Land, das sich in einer Transformationsphase befindet. Ein Teil des Landes ist europäisch – und dazu gehört auch die deutsche Minderheit. Das will ich erhalten.«
Vierzig Jahre nach seiner Gründung versucht das Deutsche Theater in Kasachstan einen Spagat zwischen Tradition und Moderne, zwischen Deutsch und Russisch. Wenn heute Goethes Faust, Brechts Ja-Sager oder Strauß’ Schlusschor die Bühne betreten, begrüßen sie zwar ihr Publikum mit deutschen Texten, doch Dubs muss sie für die Mehrheit der Zuschauer ins Russische übersetzen. Sieht so die Zukunft aus?
Nicht alle sind von dem neuen Weg des Deutschen Theaters überzeugt. Die Warkentins landeten nach ihrer Übersiedlung im württembergischen Niederstetten. Dort haben sie das Russlanddeutsche Theater mit aufgebaut, das sie bis heute betreiben. 2017 reisten sie erstmals zusammen wieder nach Kasachstan. Ernüchtert stellten sie fest, wie sehr sich das Theater verändert hat. »Wir waren viel politischer. Das Theater hat eine gute, wichtige Rolle gespielt. Aber das ist vorbei«, sagt Peter Warkentin.
2014 wurde das Stück »Die Schneekönigin« aufgeführt. Foto: © Deutsches Theater Kasachstan
Natascha Dubs dagegen denkt gerne an die Zeit zurück, als sich das Theater neu erfinden musste. Freitags Idee von einem modernen Schauspielhaus kam an. Die Aufführungen waren experimentell und galten im Vergleich zur sonst eher klassisch geprägten Theaterszene Kasachstans als gewagt. Schon bald knüpfte das Deutsche Theater an frühere Erfolge an. Es gewann mehrere Preise und tourte durch Europa. Doch die Euphorie hielt nicht lange an. Das Gebäude, das das Ensemble 1989 bei seinem Umzug nach Almaty erhalten hatte, war marode und baufällig. Unter großen Schwierigkeiten wurden die notwendigen Gelder für die Renovierung zusammengetragen. Allerdings veruntreute die damalige Theaterleitung die Mittel und 2007 stand die Truppe auf der Straße. Im Land der Nomaden wurden die Schauspieler selbst zu Umherziehenden.
Obwohl der kasachische Staat die unterschiedlichen Minderheiten und ihre Schauspielhäuser unterstützt, sollte es mehr als zehn Jahre dauern, bis das Deutsche Theater wieder eine eigene Bühne erhielt. Erst als das Koreanische Theater 2018 eine neue Spielstätte bekam, konnte Dubs mit ihrem Ensemble in dessen ehemaliges Gebäude ziehen. Doch auch das ist renovierungsbedürftig. Weder Heizung noch Lüftung funktionieren richtig. Da trifft es sich traurigerweise gut, dass derzeit aufgrund der Corona-Pandemie der Spielbetrieb sowieso eingeschränkt ist. Natascha Dubs hofft allerdings, dass sich das bald ändert, dass sich ein Theaterproduzent findet, der die Bühne für einige Jahre unterstützt – so wie Freitag in den Neunzigern. Und der ein bisschen Deutschland nach Almaty bringt.
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