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Zwischen gestern und heute zeigt sich Wrocław in den Fotografien.

Potsdamer Neueste Nachrichten, 22.01.2003, Jan Kixmüller



Es hat sich etwas geändert, viel sogar. In sozialistischen Zeiten übte man im polnischen Wrocław noch die Kunst der ideologischen Verrenkung, die deutsche Vergangenheit des ehemaligen Breslau war tabu. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die Stadt rund 70 Prozent ihrer Bausubstanz eingebüßt, ihre deutsche Bevölkerung war vertrieben und an ihre Stelle wurden wiederum Vertriebene aus dem ehemals ostpolnischen Lemberger Gebiet angesiedelt. Eine Stadt mit einer gewissen Spannung also. Wenn man heute diese Stadt besucht, kann es einem passieren, dass man entdeckt, wie alte deutsche Inschriften an den Häusern bei der Sanierung besonders hervorgehoben werden. Vor einigen Jahrzehnten waren sie noch übertüncht und abgekratzt worden. So viel zumindest hat sich verändert.

Im Wandel ist auch das äußere Erscheinungsbild dieser Stadt, in der man sich immer wieder wundert, wie viel der zerstörten Bauten doch noch bis in unsere Tage gerettet werden konnten. Zur Eröffnung einer Ausstellung mit Fotografien des Potsdamer Fotografen Mathias Marx im Berliner Fernsehturm erinnerte die Direktorin des Deutschen Kulturforums östliches Europa dann auch an die graue Tristesse, die sie früher mit Wrocław verband. Heute wird allerorten renoviert, ausgebessert und vergoldet, einmal mehr nach der Hochwasserkatastrophe des Jahres 1997.

In dem umfänglichen, gebundenen Katalog, den das Kulturforum zur Ausstellung herausgegeben hat, findet sich gleich zum Einstieg ein sonniges Bild vom Altstadt-Ring, von den Straßencafés und Biergärten entlang der wieder errichteten historischen Bauten – ein optimistisches Bild mit fröhlichen Einwohnern und japanischen Touristen. Bilder strahlender Fassaden, wertvoller Kirchenfresken und vom jugendlichen Gedränge bei McDonalds folgen: das neue, alte Wroclaw. Dann setzt der Fotograf den farbigen Eindrücken Bilder in klassischem Schwarzweiß entgegen, Fotografien ganz in der Schule des sozialistischen Realismus, gleich hinter dem Augenblick aus dem Fastfood-Restaurant schauen wir in eine nicht wirklich überladene Fleischtheke, es folgt der scheue Blick einer Kellnerin, eine Waage in der Markthalle und schließlich eine Verkäuferin in einem nostalgisch verwunschenen Geschäft. In grobkörnigem Schwarzweiß wirkt Wrocław hier, als sei die Zeit stehen geblieben. Die Bilder aus der Markthalle, vom Eingang des Doms oder von der Straßenbahnhaltestelle hätten auch vor 20, 30 Jahren entstanden sein können. Ein treffender Kontrast zu den strahlenden Bildern des Aufbaus, die wirken, als wolle die Stadt an ihren alten Beinamen „güldein Bistum“, das goldene Bistum, anknüpfen.

Heute ist im ehemaligen Breslau ein Prozess der Akkulturation im Gange, also der Anverwandlung der deutschen, preußischen, österreichischen, böhmischen und jüdischen Vergangenheit. Eine Entwicklung, die wie Roswitha Schieb in ihrem Vorwort des Katalogs schreibt, eine unaufgeregte Selbstverständlichkeit im Umgang mit dem deutschen Erbe und den Gästen aus Deutschland erkennen lässt. Viele junge Polen lernen hier heute Deutsch, um der Geschichte ihrer Stadt näher zu kommen. In den Buchhandlungen finden sich zunehmend zweisprachige Publikationen über die Stadt. „Und all das geschieht nicht etwa, weil es erzwungen oder verordnet worden wäre, sondern aus einem genuinen Interesse der Bewohner an ihrere Stadt heraus“, schreibt Roswitha Schieb. Dadurch knüpfe das alte Breslau wieder an eine Mentalität an, die die Stadt bis ins ausgehende 19. Jahrhundert, bis zu den Einschnitten der Nationalismen, prägte: „An die Mentalität der Vielfalt und Weltoffenheit wie sie zu einer alten Handelsstadt gehört.“

Schließlich setzt der polnische Autor Karol Maliszewski mit einem mitreißenden Text dem Genius Loci Wrocławs ein wortgewaltiges, geradezu poetisches Denkmal. Heute gäbe es in der Stadt keine Straße und keinen Winkel mehr, der nicht von Licht und Inspiration erfüllt wäre, von der Chakra, die sich nach einer der letzten Bombardierungen 1945 über ganz Breslau verteilt habe. Mathias Marx sei es gelungen, diese Splitter zu fotografieren. Maliszewski betrachtet die Stadt ähnlich wie der Fotograf in „flimmernden Bildern“: Heute verwandele sich Wrocław von einer grauen, plebejischen in eine vornehme, schicke Stadt: „Aber wie sie auch aussehen mag, sie bleibt immer die gleiche – ein faszinierendes Objekt für kleine Jungen jenseits der Berge, etwas glänzendes in der weiten Ebene.“

Jan Kixmüller

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Die Fotografien von Mathias Marx sind noch bis 28. Februar im Foyer des Berliner Fernsehturms am Alexanderplatz zu sehen, täglich 10-24 Uhr. Der Katalog „Augenblicke einer Stadt“ ist beim Deutschen Kulturforum östliches Europa erschienen: ISBN 3-936168-03-2.