Jan Kixmüller

Potsdamer Neueste Nachrichten • 09.08.2005

Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Potsdamer Neuesten Nachrichten

Auf dem Bild ist eine enge Gasse zu sehen, abgeschlossen von einem Quergebäude mit Bogendurchgang für Kutschen. Kopfsteinpflaster, Straßenbahnschienen, im Eckhaus das Herren-Moden Geschäft Sandelowsky, davor steht ein kleiner Junge und schaut in die Kamera. Die Kneiphöfe in Königsberg im Jahre 1910, aufgenommen von einem Fotografen des ehemaligen Provinzdenkmalamtes Königsberg. Heute gibt es den Ort nicht mehr, eine Wiese erstreckt sich an Stelle des alten Stadtviertels. Was nicht im Krieg durch Bombardierung zerstört worden war, wurde im Kaliningrad der 70er Jahre von den Sowjets gesprengt und abgerissen.

»Der Fotograf ist da!« ist der Titel einer Ausstellung des Deutschen Kulturforums östliches Europa, die derzeit im Schloss Caputh zu sehen ist. In der Zeit von 1864 bis 1944 hatte die Fotografen des Provinzdenkmalamtes die systematische Erfassung der Kunstdenkmale Ostpreußens betrieben. Im Krieg dann sogar verstärkt, es sollten Vorlagen für den Wiederaufbau nach Kriegszerstörung geschaffen werden. Rund 6.600 Fotografien sind erhalten geblieben. Ein kleiner Teil davon zeigt alltägliche Straßenszenen, Porträts von Arbeitern und Spaziergängern, Handwerkern und Kinder beim Spielen.

Die Bilder sind sozusagen als »Nebenprodukt« entstanden. Zum Teil machten die Fotografen nach Erledigung der Ablichtung der Denkmäler einfach ein Bild mehr, zum Teil sind es aber auch Ausschnitte aus Szenen, die sich am Rande der eigentlichen Motive abspielten. »Schnappschüsse, wie wir sie heute kennen, sind es allerdings keine«, erklärt Hanna Nogossek, Direktorin des Kulturforums. Denn damals brauchten die Aufnahmen noch lange Belichtungszeiten, Fotografien von Menschen mussten bewusst arrangiert werden. Im Sonntagsstaat stehen die Menschen Modell, und wenn der Wind die Kopftücher der Fischerinnen bewegte, erscheint dies auf den Fotografien verwischt.

Das Auftauchen eines Fotografen mit großem Fotoapparat und Stativ war damals, gerade auf dem Land, meist noch eine Sensation. Die Menschen in den Gassen blieben stehen, die Handwerker hielten in ihrer Arbeit inne, man posierte für das Foto. Heute nun zeigt sich der Wert dieser »am Rande« entstandenen Bilder. Sie zeigen eine fast vergessene Welt, das Alltagsleben im ehemaligen Ostpreußen, dessen damaliges Territorium heute auf dem Gebiet der sowjetischen Enklave Kaliningrad und Ostpolens liegt. Eine Welt, die durch Krieg, Vertreibung und Umsiedlung vollkommen versunken ist.

Etwa die acht kleinen Kinder vor dem Holzgebäude des Kindergartens in Rominten, alle barfuß, die Jungen kahlköpfig, die Mädchen in Einheitskleidchen. Oder die beiden Schulmädchen vor dem Bauerngehöft, ebenfalls ein Holzhaus mit riedgedecktem Dach, die Schulbücher hält das eine Mädchen unter den Arm geklemmt. Auch die alten Städte werden noch einmal lebendig, die Marktplätze mit den eingeschossigen, meist schlichten Bürgerhäusern, in Ragnit, Landsberg, Morgau, Goldap, Insterburg und wie die Orte alle noch hießen.

Wobei nicht nur dokumentarische Aufnahmen entstanden. Auch wenn die Fotografen in dienstlichem Auftrag sicherlich kaum künstlerische Ambitionen hatten, so könnten Bilder wie die der Spinnerin aus Pempen (1910) heute durchaus in einer Kunsthalle hängen. Auch dass die Fotografen »Zaungäste« zuließen, wie etwa den barfüßigen Jungen neben den stramm stehenden Beamten des kaiserlichen Postamtes, sprengte den Rahmen ihrer Tätigkeit.

Und das damals als »Fehlaufnahme« bezeichnete Bild des Malers Alfred Stallmann dürfte in seiner geheimnisvollen Verschwommenheit mittlerweile unfreiwillig zum Kunstwerk geworden sein.

»Es ist schon ein Wunder, dass es diese Aufnahmen überhaupt noch gibt«, schreibt Arno Surminski über die Ausstellung. »Wer die Endzeit des Krieges miterlebt hat, jene Orgie von Feuer und Vandalismus, in der alles Brennbare auch wirklich brannte, kann es kaum glauben, dass ausgerechnet hoch empfindliche Fotos und Negative im zerstörten Königsberg erhalten blieben.« Die Bilder haben tatsächlich eine Odyssee hinter sich. Zum Kriegsende wurden sie von Königsberg nach Thorn geschafft, hier teilten sich die Wege der Unterlagen und der Glasnegative, die nach Warschau ins Archiv gingen.

Bis sich vor einigen Jahren die Zeit-Stiftung der Sache annahm, die über 6.000 Bilder digitalisierte und mit den mittlerweile in Allenstein gelagerten Karteikarten wieder zusammenbrachte. »Eine wichtige Arbeit für die Wissenschaft«, schätzt Hanna Nogossek. Und als Nebenprodukt entstand die Ausstellung, die nun in Caputh gezeigt wird.

Unter den bearbeiteten, katalogisierten und archivierten Bildern aus dem Fotobestand des Denkmalkonservators zu Königsberg finden sich allerdings auch 110 nicht genau identifizierbare Aufnahmen. Mit Hilfe der älteren Generation versuchen die Historiker nun – über das Internet: www.archiv-ostpreussen.de – die Wissenslücken zu schließen.

»So ist die Zeit reif dafür, diese Bilder als gemeinsames Kulturerbe der Polen, Deutschen, Russen und Litauer anzunehmen«, schließt Arno Surminski. Und tatsächlich, regt sich auch in Polen und der russischen Enklave Kaliningrad heute ein Interesse an der ostpreußischen Vergangenheit der Region. Beim Potsdamer Kulturforum hofft man indes, über die Ausstellung auch interessierte Deutsche in die Region zu bringen.


Bis 16. Oktober, Schloss Caputh, Dienstag bis Sonntag, 10–17 Uhr, Eintritt frei.