Gehalten am 10. Oktober 2024 im Simón-Bolívar-Saal der Staatsbibliothek zu Berlin
Sehr verehrte Damen und Herren!
Es ist mir eine große Ehre und Freude, heute eine Laudatio auf eine der bedeutendsten Stimmen der zeitgenössischen deutschen Literatur zu halten: Ulrike Draesner.
»Literarisches Engagement« – das bedeutet, sich mit der Kraft der Literatur bewusst für das Aufzeigen gesellschaftlicher, politischer und moralischer Missstände einzusetzen und Veränderung zu bewirken. Und genau das gelingt Ulrike Draesner in einzigartiger Weise. Doch sie gibt uns noch mehr: eine unvergleichliche Perspektive, künstlerische Konsequenz, Poesie und ein tiefes Bewusstsein für die gesamtgesellschaftlichen Prozesse unserer Zeit.
Ulrike Draesner ist eine Schriftstellerin, die die Verantwortung, die Kunst mit sich bringt, auf herausragende Weise trägt. Mit ihren Werken leistet sie einen unverzichtbaren Beitrag zur Gesellschaft, indem sie das Bild einer deutschen Geschichte und Gegenwart zeichnet, die von Brüchen, Wunden und Narben gezeichnet ist. Doch Draesner beschränkt sich nicht auf die Schilderung von Zerrissenheit und Verlust – sie baut Brücken: zwischen Generationen, zwischen Zeiten und Landschaften, zwischen Menschen und ihren Geschichten.
Ihr Erzählstil ist beeindruckend scharf und dennoch von großer Sensibilität und Umsicht geprägt. Sie zeigt uns, was Sprache zu leisten vermag: Sie kann Urteile fällen, szenisch und sinnlich beschreiben und, vor allem, mit Poesie und Empathie gesellschaftliche Zustände reflektieren. Ulrike Draesners Werke durchdringen die Fassade des Alltäglichen und legen das Unaussprechliche offen. Sie verleiht den stummen Stimmen eine Sprache, macht Traumata hörbar und erinnert uns an das, was allzu oft verdrängt wird.
Draesner ist eine genaue Beobachterin. Sie erforscht die Mechanismen des Verdrängens, Vergessens und Erinnerns und gibt ihnen eine literarische Gestalt. Sie eröffnet uns Welten, in denen persönliche und kollektive Geschichten aufeinandertreffen und uns auffordern, genauer hinzusehen – auf uns selbst, auf unsere Vergangenheit und auf unsere Gesellschaft. Mit ihrem literarischen Schaffen setzt sie ein starkes Zeichen für das Engagement in der Kunst und für die Kunst des Engagements.
Ulrike Draesner schreibt, um das, was oft unaussprechlich erscheint, hörbar zu machen. Sie schreibt, um Brücken zu bauen – Brücken, die uns verbinden, die uns erinnern und die uns auffordern, unser eigenes Handeln zu überdenken.
Ulrike Draesner ist eine Meisterin der Sprache, eine Grenzgängerin zwischen Welten und eine unermüdliche Erforscherin der menschlichen Seele. Ihre Werke, insbesondere ihre Romane Sieben Sprünge vom Rand der Welt und Die Verwandelten, sind leuchtende Beispiele für eine Literatur, die sich mutig den komplexen Themen unserer Zeit stellt.
Bücher von Ulrike Draesner. Foto: © Deutsches Kulturforum östliches Europa, Markus Nowak
Als ich mit der Arbeit an diesem Beitrag anfing, fragte ich mich, wie viel ich über Ulrike Draesner weiß, die Autorin, die bei ihren Lesungen Hunderte von Lesern versammelt und täglich Dutzende E-Mails von Menschen beantwortet, die in ihren Romanfiguren Ähnlichkeiten zu ihren eigenen Lebensgeschichten finden.
2017 leitete ich ein Seminar für Studierende am Institut für Germanistik der Universität Wrocław, in dem wir Notizen zu deutschen Schriftstellern auf Wikipedia bearbeiteten. Eine dieser Schriftstellerinnen war Ulrike Draesner. Ein Jahr später schrieb ich eine E-Mail an die Autorin und lud sie zu einer Lesung an die Universität Wrocław ein. Die Antwort kam nach 72 Minuten: »Liebe Frau Wolting, vielen Dank für Ihre E-Mail und Einladung. Ich bin begeistert und komme gerne: nach Wrocław immer. Zum Glück ist es nicht so weit. Und es gibt einen Bus.« Noch am selben Tag klärten wir die Details des Treffens.
Einige Monate später, vor der Lesung, gingen wir zusammen essen auf dem Wrocławer Marktplatz und besuchten den Bunker am Salzmarkt, denn Ulrike verriet mir, dass sie dort eine Szene ihres neuen Buches ansiedeln möchte. Der Bunker beherbergt heute das Museum MovieGate. Am Eingang lasen wir, dass die Galerie auf einzigartige Weise die belebte Geschichte mit einer in Europa einzigartigen Unterhaltung der Filmwelt verbindet und uns ein unvergleichliches Erlebnis verspricht.
2022 erhielt ich von Ulrike Draesner das Manuskript ihres neuen Buches und begann damit, nach eben dieser Szene zu suchen. Ich fand sie:
»Es ist schön hier unten, musst nichts sehen, riechen reicht (…) ich pfeife, dann verschwinden die Ratten, wie lächerlich (…) Liege auf drei Decken auf dem Boden, ausschließlich auf dem Bauch, (…) hier, im Hanke-Bunker, vorbei an der Standuhr am Salzplatz die von Trümmern bedeckte Treppe hinab vor eine eiserne Tür. Dahinter ein Gang, dunkel, feucht. (…) Alles rechtwinklig, alles gleich, (…) Gang um Gang, Zelle an Zelle. Nach einem guten Meter Wand eine Öffnung, keine Tür, nur das Rechteck, dahinter eine Pritsche oder nackter Boden. Neben jeder Öffnung steht in milchgrüner Leuchtfarbe eine Nummer (…) gemalt. (…) Alles nackt, halb nackt ich. (…) Gottwalda pickte Scherben und Steinchen aus meinen Schenkeln und meinem Po. Der Soldat hatte mich, wie es scheint, an den Armen gepackt, mich, unten schon nackt, nach dem Schießen über Scherben und Kies in eine Ecke geschleift, für Ha-den-Rest, für ---------------, sich auf mich gelegt, mir dabei die Scherben noch reingedrückt.«
Ich bewundere die Sensibilität und das Können, mit dem Ulrike Draesner die Erfahrung von Gewalt in die Sprache des Romans übersetzt. Sie kann das Trauma, das Frauen erleben, darstellen, ohne den Akt selbst explizit zu zeigen. Die Gewalt, die sich in Form von physischer und psychischer Vergewaltigung manifestiert, wird überzeugend, nicht voyeuristisch und sehr lyrisch beschrieben. So entsteht ein schmerzhafter Raum der Sprachlosigkeit und Stille. Ich frage die Autorin, wie sie mit dem, was sie beschreibt, umgeht, mit den vielen Szenen von Gewalt gegen Frauen. Sie antwortet, dass sie in ihren Figuren nach innerer Stärke sucht und diese hervorhebt, indem sie Frauen erschafft, die mit den traumatischen Folgen von Krieg und Gewalt kämpfen. Starke Frauen, die trotz ihrer Erfahrungen Kraft daraus schöpfen können, anderen Liebe, Wärme und Freundschaft zu geben.
Ich las die Szene im Bunker und erinnere mich an den warmen Tag, an dem wir uns ein wenig lustig machen über die im Bunker ausgestellten Kostüme und Requisiten aus »den größten Produktionen direkt aus Hollywood«. Ich dachte über den Prozess der Literarisierung von Orten und Räumen nach. In beiden Romanen, Sieben Sprünge vom Rand der Welt und Die Verwandelten, fand ich viele mir bekannte Orte in Wrocław und Umgebung. Ich las über Oleśnica, den Hauptbahnhof, die Straßen am Marktplatz, die Villa der Deutschen Sozial-Kulturellen Gesellschaft in Wrocław und die Podwale. Ich kenne diese Orte und doch kenne ich sie nicht. Es entsteht ein Palimpsest, die Orte überlagern sich, erhalten ein neues, anderes Leben, andere Protagonisten, tauchen in andere Emotionen und Farben ein. Der Prozess der Literarisierung von Orten ist ein langer und langsamer Weg, das Bild wird in der Zeit übersetzt. Wenn ich durch Wrocław spaziere, sehe ich diese Orte heute, bei Sonne oder Regen. Das in den Romanen dargestellte Bild ist eine Ableitung der sichtbaren und unsichtbaren Überreste der Vergangenheit. Aus diesen inneren Bildern, durch Schichtung, also Verkürzung, Suche, Neuschreibung, entsteht erst die Sprache. Für Draesner existiert die Vergangenheit als solche nicht, zumindest nicht als monolithischer Block im Sinne von »so war es wirklich«. Die Vergangenheit ist das, was wir selbst daraus machen: Wie wir Orte sehen wollen, wie wir uns eine Geschichte erzählen wollen. Wer wollen wir in ihrem Licht sein?
Für Draesner bedeutet »Herkunft« heute, die Art und Weise, »wie wir darüber sprechen, wer wir werden, indem wir uns ausdenken, wer wir waren, um zu jemandem zu werden, der wir nicht sein müssen, aber sein können.« Vielleicht ist deshalb in den schlesischen Romanen der Autorin viel Autobiografisches zu finden – ein Versuch, den Emotionen der Sprachen der Familie auf den Grund zu gehen. Die Familie Draesner, schlesische Brauer aus Oels, floh Anfang 1945 und ließ sich in Bayern nieder. Bereits in ihrer Kindheit kreuzten sich Dialekte und Traditionen, und sie fand sich zwischen Geschichte, Sprachen, Liedern und kulinarischen Rezepten wieder. In den Erinnerungen an Schlesien und den Erfahrungen in Bayern treffen zwei Welten aufeinander, die in ihrer Familie zwar zusammengehörten, jedoch geografisch, kulturell und emotional getrennt lebten.
Warum gerade Schlesien? »Schlesien« ist ein Wort aus Draesners Kindheit: ein Ort, nach dem sich ihre schlesischen Großeltern und ihr Vater sehnten. Ihr Nachname hat slawische Wurzeln, aber dieses Land der Kindheit war für sie »hinter den sieben Bergen aus dem Schneewittchen-Märchen«, also fantastisch und unerreichbar. In Wirklichkeit war es nicht so. 1984, erinnert sich Ulrike Draesner, »fuhr ich mit dem Auto nach Breslau, hatte das Fenster offen und dachte, ich höre die Musik dieser Landschaft, und diese Musik klingt für mich bis heute nach.« Heute hört man sie auch in ihren Büchern. »Die Gesichter der Menschen ähneln einander, die Oder fließt wie immer und der Streuselkuchen duftet und schmeckt gleich.« In diesen Bildern mischen sich Vergangenheit und Gegenwart. Es entsteht ein neuer Raum außerhalb der Zeit.
Das Bedürfnis zu schreiben entdeckte sie durch die intensive Erfahrung, ihre Gedanken gestalten und festhalten zu können. Dieser Prozess fand jedoch weder in der deutschen Sprache noch in den bayerischen oder schlesischen Dialekten statt, sondern auf Englisch. Ulrike Draesner fand ihre literarische Sprache durch die Erfahrung der Fremdheit. Die Sprache zerfiel in ihre Bestandteile: Melodie, Ton, Schriftbild, Sammlung von Metaphern, Bildern und Vorstellungen der Realität. So schreibt sie auch in ihren Werken die Welt, wie sie sie sieht, nieder. Das Schreiben eröffnete ihr eine neue Perspektive auf das Verständnis von Sprachen und damit der erlebten Welten. Draesner schreibt auf Deutsch und Englisch. In ihren Romanen erscheinen auch Passagen in polnischer Sprache sowie in schlesischen und bayerischen Dialekten.
Ulrike Draesner bei ihrer Dankesrede. Foto: © Deutsches Kulturforum östliches Europa, 2024 • Markus Nowak
Draesners Sprache ist von beeindruckender Präzision und poetischer Kraft. Sie schöpft aus dem Reichtum verschiedener Sprachen und Dialekte, mischt Deutsch, Englisch, Polnisch, Schlesisch und Bayerisch zu einem faszinierenden Sprachgewebe. Ihre Figuren nutzen Sprache als Mittel der Identitätsbildung und -bewahrung.
Dorota, eine der wichtigsten Figuren der Verwandelten, eine polnische Hamburgerin, ist sich der Wirkung der polnischen und deutschen Sprache auf ihre Identität bewusst und sieht diesen Prozess als Bereicherung ihrer Persönlichkeit. Sie überrascht ihre Gesprächspartner mit absichtlichen Übersetzungen polnischer Idiome, da diese bildhafte Sprache oft unverständlich für die Gesprächspartner ist und verwirrend und beunruhigend wirkt. So demonstriert sie ihre Individualität und Zugehörigkeit zur polnischen Kultur und verteidigt sich gegen jegliche Art der Vereinnahmung. Ein Beispiel dafür: anstatt »leben wie die Made im Speck« sagt Doro »leben wie die Larve auf dem Speck«; oder statt »jemandem goldene Berge versprechen«, verspricht Doro »den blauen Himmel«. Zusammen mit Studenten der Germanistik aus Breslau arbeitete Ulrike mehrere Wochen an diesem Projekt: Polnische und deutsche Idiome wurden zusammengestellt, Entsprechungen gesucht, Bedeutungen und die wörtliche Übersetzung analysiert. Das Ergebnis unserer Arbeit wirkt so natürlich, dass man kaum glauben kann, dass Dorotas Sprache das Ergebnis eines germanistischen Projekts ist.
Draesners Figuren migrieren und nehmen oft nur die Sprache und Bilder mit, die in ihren Träumen und meisten schlimmen Alpträumen auftauchen und verfolgen. Es sind oft Bilder der Traurigkeit, des Schreckens, der Angst. Vergessene, verdrängte Bilder. Nicht-überwundene Bilder. Angst-Bilder.
Ulrike Draesner interessiert sich für Breslau als Ort der ständigen Migration. Ihre literarischen Figuren sind in ständiger Bewegung, sei es körperlich oder geistig. Sie beschreibt unterschiedliche Migrationen: Flucht, Vertreibung, zufällige Ausreisen, Rückkehr, Identitätswechsel, freiwillige, erzwungene oder gescheiterte Migrationen.
Die Autorin hat eine einzigartige Gabe, die Vergangenheit lebendig werden zu lassen, ohne sie zu verklären. In Sieben Sprünge vom Rand der Welt erzählt sie die Geschichte zweier Familien, der Grolmanns und der Nienalts, die von Flucht und Vertreibung geprägt sind. Mit neun Ich-Erzählern aus vier Generationen schafft sie ein vielstimmiges Panorama der Nachkriegszeit, das die transgenerationale Weitergabe von Traumata eindringlich vor Augen führt. Die Familie Grolmann, die aus Oels nach München floh, und die Familie Nienalt, die zwangsweise aus Lemberg nach Breslau umgesiedelt wurde. Diese Geschichten zeigen, dass die Verarbeitung von Traumata auf persönlicher Ebene keine nationalen Unterschiede kennt und sich nicht den Gesetzen der Zeit unterwirft. Traumata verschwinden nicht mit dem Tod der Generation, die sie erlebt hat, sondern werden an die nächste Generation weitergeleitet. Dieses unvollendete Verarbeiten kann mit dem Begriff der »Postmemory« beschrieben werden, der von Marianne Hirsch geprägt wurde und sich auf die transgenerationale Weitergabe von Traumata bezieht, die durch Geschichten, Bilder und Gesten verinnerlicht und indirekt erinnert werden. Simone, die Tochter von Eustachius, leidet an einer unerklärlichen Angst vor dem Nachthimmel und Schnee:
»Nachthimmel, egal, an welchem Ort, machte mir wenig Freude. Nachthimmel, den Laserstrahlen zerlegten, machte mir Angst. (…) Und nun, wie erbärmlich, fürchtete ich mich vor Schnee.«
Simones Angst ist nicht das Ergebnis ihrer eigenen Erfahrungen, sondern lässt sich auf die Erlebnisse ihres Vaters zurückführen. Der Schnee ist hier mit der Flucht verbunden, die in einer Januarnacht 1945 begann. Die Mitglieder der zweiten Familie – der Nienalts – geben ihre Ängste ebenfalls von Generation zu Generation weiter. Borys erzählt:
»Meine Mutter, sagte ich, habe in ihrem ersten Jahr in Wrocław mit einer Pistole unterm Kissen geschlafen, bei verrammelten Türen und zugenagelten Fenstern. Später habe sie Vorhänge, ja Jalousien in ihren Wohnungen nicht mehr ertragen (…). Wie ich. Der ich ihre Angst, ihre Abneigung übernommen hätte, um sie ihr leichter zu machen. Eine Kindertat«.
Traumata werden in unbewussten Gesten und Verhaltensweisen weitergegeben, aber vor allem durch innerfamiliäre Erzählungen.
In beiden schlesischen Romanen beschäftigt sich die Autorin mit Fragen: Was ist wahr? Wie viele Wahrheiten gibt es? Wie viele »Originale« kann es geben? Welche Erfahrung ist die echte? Welche ist die richtige? Die Ereignisse in dem Roman Die Verwandelten werden von Frauen erzählt, die vier Generationen des 20. und 21. Jahrhunderts angehören. Die Älteste wurde 1900 in Bayern geboren. Sie erzählt als über 100-jährige Frau ihre Version der Ereignisse und ihre eigene Sichtweise dessen, was im Leben richtig ist. Die Jüngste ist eine dunkelhäutige adoptierte Teenagerin. Die Schauplätze sind zwischen Polen und Deutschland verstreut, zwischen Breslau, München, Hamburg, Berlin, Wrocław und Warschau. Der Roman gibt stummen Frauen eine Stimme. Die Autorin erzählt die Geschichten von drei Generationen deutscher und polnischer Frauen, die noch lange nach Kriegsende mit seinen traumatischen Folgen zu kämpfen haben. Kinga und Simone sind Vertreterinnen der sogenannten Nebelkinder-Generation, die »in den Händen von Menschen aufgewachsen waren, die weder von Verlusten noch von Freuden erzählten.« Sagt Kinga, eine Figur aus Die Verwandelten.
»Eltern die andeuteten und verstummten, mit Floskeln abspeisen, sich selbst nicht anders verstanden denn als Schemen, Eltern, die den Nebel erzeugten, an dem sie zugleich litten, was sie nie zugegeben hätten, denn sie taten es, um sich zu schützen. Dass sie auch uns auf diese Weise abschnitten von unserer Vergangenheit und den Tiefenlinien unserer Existenz, geschah gleichsam ›kollateral.‹«
Die Metapher »Nebelkind« verdeutlicht die emotionale Verwirrung und den Mangel an Klarheit bezüglich der eigenen Herkunft und Identität. Die Protagonistinnen müssen daher erst herausfinden, welche zerstörerische Rolle der Krieg in ihren Familien gespielt hat, suchen Puzzleteile der Familiengeschichte und versuchen zu verstehen, wie der Krieg ihr Leben beeinflusst, und suchen ihren eigenen Weg.
Draesners Romane sind komplex, aus mehreren Perspektiven erzählt, es gibt keine einzige Wahrheit, keinen richtigen Lebensweg, nichts ist dauerhaft. Die Autorin sagt: »Ich schreibe, um das, was normalerweise nicht gesagt wird, was als unsprechbar gilt, hörbar zu machen und in Sprache zu übersetzen.« Aber wie erzählt man von seinem Schicksal, von so traumatischen Erlebnissen wie Krieg, Verlassensein, das ungeklärte Verschwinden eines Sohnes in der Dunkelheit der Nacht, wie Vergewaltigung, Kindesentzug, Hunger, verdrängte Identität? Eustachius, der als Jugendlicher aus Schlesien fliehen musste, hat seine eigene Überlebensformel: »Freu dich, dass du lebst« und versucht, so zu leben, als ob er sich freuen würde. Draesner gibt ihren Figuren eine Stimme und den Mut, über ihre Tragödien zu sprechen, aber auch darüber, wie sie dachten, wie sie die Welt verstanden und warum sie bestimmte Entscheidungen trafen, auch wenn diese niemand versteht.
Jedes Werk der Autorin Ulrike Draesner ist einzigartig. Ihre Romane sind kompliziert, spannend und von außerordentlicher Sprachgewalt. Als genaue Beobachterin beschäftigt sie sich mit der Wahrnehmung von Raum und Zeit und setzt sich mit den psychologischen Mechanismen des Verdrängens, der Verarbeitung, des Vergessens und des Erinnerns auseinander.
Die Schlesischen Romane bilden mit dem Roman Schwitters eine »Nebelkinder«-Trilogie. Frieder von Ammon sprach dabei von Menschenwissen und Literatur auf Augenhöhe, »gleichberechtigt, sich gegenseitig durchdringend und bereichernd«. Im Schreiben lichte Ulrike Draesner den Nebel des Gedächtnisses der Gewalt. Draesner betont stets, dass jedes Trauma eine individuelle Angelegenheit ist. Traumata sind so verschieden wie die Menschen, die sie erleben, und deshalb sind auch ihre Geschichten einzigartig und schwer nachvollziehbar. Durch diese tiefgründige Auseinandersetzung mit den komplexen Facetten menschlicher Erfahrungen gelingt es der Autorin, Werke von bleibender Bedeutung zu schaffen.
Draesners Werk ist ein wichtiger Beitrag zur europäischen Gegenwartsliteratur. Es spricht von Migrationen – erzwungenen, freiwilligen und verhinderten. Es erzählt von der Beständigkeit von Kulturen, Sprachen und Erinnerungen trotz Veränderungen, Verlusten und Zerstörungen. Ihre Romane sind nicht nur literarische Meisterwerke, sondern auch wichtige Beiträge zum Verständnis unserer gemeinsamen europäischen Geschichte.
Liebe Ulrike Draesner, Deine Werke berühren, erschüttern und bereichern uns. Sie geben den Stummen eine Stimme und machen das Unsichtbare sichtbar. Für Deinen unermüdlichen Einsatz für die Literatur, für Deine sprachliche Virtuosität und für Deinen Mut, auch schwierige Themen anzugehen, gebührt Dir unser tiefster Respekt und unsere höchste Anerkennung.
Meine Damen und Herren, lassen Sie uns Ulrike Draesner feiern – eine große Schriftstellerin, eine wichtige Stimme unserer Zeit und eine unermüdliche Erforscherin der menschlichen Seele.
Danke Ulrike, dass du schreibst!
Und damit Herzlichen Glückwunsch!
Die polnische Germanistin und Literaturwissenschaftlerin Monika Wolting ist Ordentliche Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Wrocław.
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