Gern erzählte Zbigniew Czarnuch von seiner frühen Jugend im Raum Lodz, in einer – wie er sagte – gewachsenen alt-europäischen Welt voll warmen Lebens. Hier, in der Kleinstadt Lututów und deren Umfeld, war die angestammte Heimat der Czarnuchs, hier lebte die gebildete Familie in friedlicher Nachbarschaft und Hausgemeinschaft mit Juden und Deutschen.
Mit dem Überfall 1939 auf Polen und dem dann bis 1945 andauernden rassenideologischen Vernichtungskrieg zertrümmerte Hitler-Deutschland dieses Alt-Europa. Juden und Polen wurden umgehend zu Opfern, nach vielen anderen auch die Deutschen selbst.
Zbigniew Czarnuch (rechts) und Günter Wollstein 2023 im Gespräch im Regionalmuseum in Vietz/Witnica. Foto: © Deutsches Kulturforum östliches Europa, Renate Zöller
Schon am Tag der Kriegseröffnung waren der neunjährige Zbigniew und seine Familie Zeugen, als die deutsche Luftwaffe in unmittelbarer Nähe ihren Bombenterror begann. Für die Czarnuchs setzte eine finstere Zeit voller Not und Ausgrenzungen ein, mit den Deutschen als Feinden. Früh wurde ihr Haus von Deutschen besetzt, wiederholt musste man fliehen und der Vater sich verstecken. Unterricht für die Kinder gab es nur sporadisch. Letzteres nahm Zbigniew leicht, denn er wurde für Jahre Schafhirt und schätzte seinen Platz »im Freien« in der Natur.
Bei alledem war Zbigniew zeitlebens besonders vom Schicksal seiner jüdischen Freunde und Mitbürger in Lututów erschüttert, und es traf ihn ins Mark, dass die polnische Regierung 1968 im Zuge ihrer »antizionistischen« Kampagne auch in Vietz/Witnica noch einmal einen zerstörerischen Judenhass entfachte. Czarnuch wurde nicht müde, über die jüdische Bevölkerung und ihren Beitrag zur Geschichte des Warthebruchs zu referieren.
Für seine Forschungen und Initiativen zur Erhaltung und Vermittlung der Kulturlandschaft Neumark/Nowia Marchia wurde Zbigniew Czarnuch im Jahr 2009 mit dem Georg Dehio-Kulturpreis – Ehrenpreis ausgezeichnet. Rechts Dr. Ingeborg Berggreen-Merkel, damalige Abteilungsleiterin beim Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien. Foto: © Deutsches Kulturforum östliches Europa, Mathias Marx
Mit der Niederlage Hitler-Deutschlands trafen Leid und Tod mit voller Wucht auch den Großteil der Deutschen. Angesagt waren nicht zuletzt enorme Grenzverschiebungen, weithin gekennzeichnet durch Flucht und Vertreibung. Hierbei fiel das nicht einmal hundert Kilometer östlich von Berlin beginnende Warthebruch an Polen. Dorthin, genau genommen in die Kleinstadt Vietz – die alsbald in Witnica umbenannt wurde – verschlug es die Czarnuchs, weitab von ihrer alten, weithin zerstörten Heimat. Ob dabei auch die zeitgenössische Propaganda mit dem Slogan: »Im Westen wartet das Land« eine Rolle spielte, ist unklar. Vater Czarnuch wurde Bürgermeister. Aktiv wurde auch der nun 15-jährige Zbigniew als Mitglied einer Pfadfindergruppe, und zwar darin, die Spuren der »deutschen Vergangenheit« zu beseitigen. Friedhöfe wurden zerstört und deutsche Inschriften an Häusern beseitigt. Czarnuch verschwieg dies nie, sah in seinem Einsatz als Jugendlicher vielmehr den markanten Ausgangspunkt eines Weges, auf dem er zum Versöhner von Deutschen und Polen wurde. Ob sich seine klugen Eltern dies gewünscht hatten, als sie ihm den Namen Zbigniew gaben, übersetzt: »Zerstreuer von Zorn und Hass«?
Als Zbigniew sein Studium begann, schwankte er, ob er seine weitere Ausbildung dem örtlichen Priester anvertrauen oder die kommunistische Lehrerbildungsanstalt in Warschau besuchen sollte. Ohne die Verbindung zur Kirche aufzugeben, entschied er sich für Warschau. Nach dem Examen wirkte Czarnuch als Lehrer und Rektor einer Schule in Grünberg/Zielona Góra, und dies bei mancherlei Auseinandersetzungen mit den kommunistischen Behörden. Es folgte seine Tätigkeit als Lehrer in Vietz. Entscheidender wurde jedoch, dass er zu einem herausragenden Regionalisten wurde.
Das Warthebruch wurde für ihn zur liebenswerten und geliebten Heimat, die jedweden Nationalismus abgestreift hat. Mit unglaublicher und bis ins hohe Alter bewahrter Schaffenskraft forschte, schrieb und referierte er über diese seine neue Heimat. Richtungsweisend ist hierbei sein Buch über die über Jahrhunderte immer wieder angestrebte »Bändigung« der Warthe, die vormals das Land oft überschwemmte und zahllose Opfer forderte.
Czarnuch revidierte nun auch seine Jugendsünden als Pfadfinder, indem er bei der Sicherung von Spuren der deutschen Vergangenheit im heutigen West-Polen mitwirkte. So war die Residenz Carolath/Siedlisko, seinerzeit eines der größten Schlösser Deutschlands, 1945/46 von russischen Besatzungstruppen niedergebrannt worden. Czarnuch packte mit an, als Jahre später die Reste des auch als Ruine beeindruckenden Bauwerkes abgestützt wurden. Markant ist zudem seine Errichtung eines einzigartigen »Parks der Wegweiser und Meilensteine der Kulturen« in Vietz, der dem Geschehen 1945 gewidmet ist. Mit den vielen Alltagsgegenständen aus der Zeit sowie unzähligen Dokumenten und Artefakten gründete er zudem das kleine Heimatmuseum der Stadt.
Von dem als Regionalisten vielfach ausgezeichneten – u.a. 2009 mit dem Georg Dehio-Kulturpreis des Deutschen Kulturforums – und weit über das Warthebruch hinaus bekannten Zbigniew Czarnuch will ich abschließend berichten, wie ich ihn kennenlernte und wie wir uns zum letzten Mal trafen. 2001 suchte ich nach Spuren des Forsthauses »Glückauf« in der Massiner Heide, in dem mein Vater im frühen 20. Jahrhundert als Revierförster gewirkt hatte. Ich suchte Czarnuch, den ich nicht kannte, auf, und bat ihn mir zu helfen, schließlich hatte das gesuchte und seinerzeit höchst einsame Haus in seiner Nachbarschaft gelegen. Es war aber versteckt in unendlichen Kiefernwäldern und 1945 zudem von sowjetischen Besatzungstruppen niedergebrannt worden.
Czarnuch war mit Feuer und Flamme bei der Suchaktion dabei, und schließlich und endlich fanden wir einige überwachsene Ziegelsteine sowie den vormaligen Fischteich und ein paar für einen Kiefernwald untypische Gartengewächse. Czarnuch erläuterte, warum er so engagiert und freudig mitgemacht hatte. Zum einen behagte es ihm, dass ich nun zu der nicht kleinen Schar derer hinzugekommen war, die durch und durch versöhnt in ihre 1945 verlassene Heimat zurückkehrten; eigentlich wollte er am liebsten alle begrüßen, die unter Schmerzen die Region einst verlassen hatten. Und zum anderen hatte er einen ihm bislang völlig unbekannten Ort mit unbekannter Vergangenheit kennengelernt.
2023 schließlich fuhren wir für eine Recherche der Zeitschrift Kulturkorrespondenz östliches Europa gemeinsam Stunde um Stunde durch das Warthebruch und sehr emotional gestand Czarnuch, dass er am liebsten jeden Tag die vertrauten Orte dort aufsuchen wolle. Er sprach von sich als einem Historiker, der ja »nur« seine »kleine Heimat« erforsche, während ich – befasst vor allem mit dem Revolutionsjahr 1848 – »große Heimaten« beackern würde. Das lud zum Schmunzeln ein, denn Czarnuch wusste, wie groß und großartig ich seinen Wirkungsbereich finde.
Mit Zbigniew Czarnuch verstarb am 22. September 2024 ein großer Historiker, der die »große und die kleine Heimat« auf liebenswerte Art miteinander verwob. Er war besorgt, dass nach seinem Tod seine Bemühungen um ein friedliches Miteinander der europäischen Nachbarn in Vergessenheit geraten würde. Es liegt an den kommenden Generationen, das Erbe dieses großen Mannes weiter in die Zukunft zu tragen.