Als Fünfjähriger musste Günter Wollstein mit seiner Familie zum Kriegsende 1945 seine Geburtsstadt Landsberg an der Warthe/Gorzów Wielkopolski verlassen. Zbigniew Czarnuch kam etwa zur gleichen Zeit als Fünfzehnjähriger in das nahe gelegene Vietz/Witnica. Eine Begegnung. Von Renate Zöller.
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Zbigniew Czarnuch und Günter Wollstein im Gespräch. © Renate Zöller

Es regnet. Zwei Jugendliche hocken oben auf dem Gelände des hölzernen Unterstands im Park der Wegweiser und Meilensteine der Kulturen (Park Drogowskazów i Słupów Milowych Cywilizacji) in Vietz, die Köpfe tief über ihre Mobiltelefone gebeugt. Sie zocken und nehmen Günter Wollstein und Zbigniew Czarnuch kaum wahr, die neben ihnen Zuflucht suchen und den Regen aus den Haaren schütteln. Toll, dass der Park von jungen Leuten genutzt wird, könnte man meinen. Aber der »Vater« des Skulpturenparks, Czarnuch, schüttelt unwillig den Kopf: »Die machen viel kaputt!« Er weist auf den Müll, der herumliegt, auf den Mühlstein, der eben erst wieder mit Sandstrahler gereinigt werden musste. Die Gemeinde setzt sich zur Wehr, neue Gehwege werden angelegt, um den Park für Spaziergänge attraktiver zu machen. Es ist nicht nur ein Kampf gegen die Verwahrlosung. Es ist ein Kampf gegen das Vergessen.

Vor rund dreißig Jahren begegneten Wollstein und Czarnuch einander das erste Mal. Wollstein und seine Schwester waren auf der Suche nach den Überresten eines einsamen Forsthauses, in dem ihr Vater gearbeitet hatte. Die Schwester war etwas älter, kannte die Dörfer, wusste von riesigen Kiefernwäldern mit Wegen. Aber die Suche erschien hoffnungslos. »Fragen Sie doch mal diesen Lokalhistoriker …«, wurde ihnen geraten. So kontaktier­ten sie Czarnuch und der stimmte zu, bei der Suche zu helfen. Tatsächlich entdeckten sie gemeinsam mit ihm von einem Waldweg abzweigend die Reste einer Allee, die zu einer Erdhöhle führte, darin die Mauerreste des Forsthauses. Kein Wunder. Czarnuch kennt »seine« Neumark wie seine Westentasche. Er hat sprichwörtlich jeden Stein in der Gegend umgedreht, zunächst voller jugendlichem Enthusiasmus, die »Wiedergewonnenen Gebiete« von allem Deutschen zu säubern.

Zbigniew Czarnuch, 1930 in der Woiwodschaft Łódź geboren, kam als junger Pfadfinder nach Vietz, weil seinem Vater dort nach Kriegsende eine Stelle als Bürgermeister angeboten worden war. Endlich konnte Czarnuch wieder zur Schule gehen. Das war ihm zuvor von den Nationalsozialisten jahrelang verwehrt worden. Er hatte Schafe gehütet. »Von denen habe ich eine Menge gelernt«, sagt er. Damals war er davon überzeugt, dass es richtig war, die deutschen Spuren zu beseitigen. Nach dem Schulabschluss zog es ihn zum Geschichtsstudium nach Posen/Poznań, dann nach Warschau. Erst 1981 kam er als Geschichtslehrer zurück nach Vietz und unterrichtete dort an der Schule. Er begründete ein Regionalmuseum und initiierte den polnisch-deutschen Verein »Educatio Pro Europa Viadrina«. Er organisierte Studienreisen in die Grenzregion und begann, unermüdlich für die Bewahrung des deutschen Erbes in der Neumark und die polnisch-deutsche Versöhnung zu werben. 2009 wurde er dafür vom Deutschen Kulturforum östliches Europa mit dem Georg Dehio-Kulturpreis ausgezeichnet.

Günter Wollstein, geboren 1939, musste als Kind die Neumark verlassen und fand im südlichen Sauerland eine neue Heimat. Anfangs wurde auf Strohsäcken geschlafen, ein Tisch aus rohen Holzlatten gezimmert. Der Junge war klug, schaffte das Abitur, studierte in Marburg an der Lahn, wurde schließlich Geschichtsprofessor in Köln. Sein besonderes Interesse: 1848 und die Entstehung der Zivilgesellschaft in Deutschland. Er schrieb Aufsätze zur Solidarność und Lech Wałęsa, organisierte für seine Studierenden Exkursionen nach Westpolen. Als Emeritus begann er, seine Familiengeschichte im Kontext der historischen Ereignisse aufzuschreiben. Das Buch ist noch in Arbeit. Auch deshalb war Wollstein in den letzten zwei Jahren gleich mehrfach in der »alten Heimat«.
Auch heute führt der Weg ihn und Czarnuch nach Landsberg. Der Regen hat nachgelassen. Wollstein will sein Elternhaus aufsuchen, die Kirche sehen, die nach einem Brand 2017 wiederaufgebaut werden musste, die Friedensglocke besuchen.

Czarnuch dirigiert das Auto durch holprige Kopfsteinpflastergassen zu einem offenen Platz, auf dem ein riesiges sowjetfreundliches Kriegerdenkmal thront – mit in Stein gefrästem Relief von einer dankbaren Mutter mit Kind, das vier Soldaten einen Strauß Blumen reicht. Nach der Wende kamen Diskussionen auf, erzählt der 93-Jährige. Die Polen hatten keine Lust mehr, die »Befreiung« durch die Rote Armee zu feiern. Das Denkmal sollte weg. Zugleich blieb die Erinnerung an das Grauen der nationalsozialistischen Zeit und natürlich wollte man auch weiterhin des Kriegsendes gedenken. 2006, pünktlich zum 750. Jubiläum der Stadt, kam die Lösung in Form von 1 200 Kilogramm Bronze: eine Friedensglocke. Gestiftet wurde sie von der »Bundesarbeitsgemeinschaft Landsberg an der Warthe« und der Stadt Gorzów. »Eine so gute Zusammenarbeit von Polen und Vertriebenen finden Sie sonst nirgends«, ist sich Czarnuch sicher. »So können die früheren und die heutigen Bürger der Stadt gemeinsam das Kriegsende feiern.« Jedes Jahr am 30. Januar, dem »Tag des Gedenkens und der Versöhnung«, wird die Glocke geläutet, ein Gottesdienst abgehalten, gemeinsam gewandert, gegessen. »Ein einzigartiges Fest!«, schwärmt Wollstein.

KK 1435 16 19 RZ Czarnuch und Wollstein Pan Janusz 1200x893Die Künstlerinnen Ewa Kozubal und Ewa Bone schufen 2015 die Harzskulptur. Für Zbigniew Czarnuch ist sie das beste Symbol für einen polnischen Spießbürger. © Renate Zöller

Als nächstes wird die Uferpromenade angesteuert. Czarnuch weist mit dem Arm über den Fluss: »Das ist die schönste Aussicht auf die Warthe!« Es gibt aber noch einen Grund, warum er uns hierhergeführt hat. Pan Janusz. Herr Janusz, vielleicht sechzig Jahre alt und mit einem breiten Schnauzbart, sitzt trotz bitterkaltem Wind und Regen in Badehose mit ölig glänzender Haut, Badeschlappen und Anglerhut breitbeinig auf seinem Klappstuhl und liest Zeitung. Die Künstlerinnen Ewa Kozubal und Ewa Bone haben die Harzskulptur 2015 geschaffen und sie ist längst zu einer Kultfigur geworden, posiert ständig auf Selfies und hat sogar einen eigenen Internetauftritt. Für Czarnuch ist sie das beste Symbol für einen polnischen Spießbürger. Der will einfach seine Ruhe haben, nicht mit Geschichte belästigt werden, nicht über Ungerechtigkeit nachdenken oder Versöhnung. Er handelt intuitiv, ist nicht einmal böse, aber träge und dadurch zugänglich für einfache Antworten und Vorurteile. Ihr Leben lang haben Wollstein an der Universität in Köln und Czarnuch an der Schule in Vietz gegen Schwarz-Weiß-Malerei gekämpft, haben versucht, zu kritischem Denken anzuregen. Pan Janusz ist ihnen ein Grauen.

Zum Bahnhof sind es von hier nur 800 Meter. Günter Wollstein zögert. Er will keine finsteren Erinnerungen auffrischen. Mit der »Ostbahn«, die einst regelmäßig von Berlin bis nach Königsberg/Kaliningrad fuhr, verbindet Wollstein etwas Besonderes. Er gesteht lachend, dass er am 30. Januar 1945, beim Beginn der Flucht morgens in eisiger Kälte nicht sehr hilfreich gewesen sei. Zu Fuß unterwegs zum Bahnhof begann er schon unweit vom Haus zu heulen, weil er seine »Zottel« vergessen hatte. Zum Glück rannte die zehnjährige Nachbarstochter mit dem Kuscheltuch hinterher. Nur bruchstückhaft drang das darauffolgende Grauen in sein Bewusstsein. Die vielen Verwundeten am Bahnhof, die blutdurchtränkten Verbände, die vielen aufgeregten Krankenschwestern, die Angst, einander beim Einsteigen aus den Augen zu verlieren, die erschrockenen Gesichter, wenn die berüchtigte »Stalinorgel«, der sowjetische Mehrfachraketenwerfer, aus der Ferne zu hören war. »Erst, wenn die Erwachsenen Panik bekamen, war ich alarmiert«, sagt er. Der Zug mit den Wollsteins fuhr als vorletzter in Küstrin/Kostrzyn nad Odrą über die Oder, dann wurde die Brücke gesprengt. Am 30. Mai 1992 durfte die Ostbahn erstmals wieder Zivilistinnen und Zivilisten über die Grenze bringen. Zufällig stand Wollstein gerade in diesem Moment mit einer Fremdenführerin und Studierenden unter der Brücke.

»Die Verbindung der einst legendären Ostbahn ist heute ein Desaster«, schimpft Czarnuch. Es fahren kaum Züge, von Berlin ist Landsberg schlecht zu erreichen. Und das merkt man auch an der Gleisstrecke, die von Landsberg bis Küstrin immer in Sichtweite der Autostraße liegt. Ein Zwischenstopp in Tamsel/Dąbroszyn offenbart die traurigen Folgen dieser Verkehrspolitik. Züge halten hier kaum noch. Das Schloss steht leer und zum Verkauf, in der Kapelle vor dem baufälligen Herrenhaus wohnen Ziegen. Der Bahnhof, bei dem Wollsteins Zug damals stundenlang wegen Beschuss ausharren musste, ist nur noch über einen matschigen Feldweg erreichbar. Nur die Kirche neben dem Schloss ist restauriert und gut besucht. Orgelmusik und Gesang begleiten den Spaziergang im verwilderten Schlosspark.

Kommen eigentlich viele Deutsche? Leider immer weniger, sagt Czarnuch: »Das Interesse der Vertriebenen an ihrer Heimat war sehr groß und sie haben unglaublich viel Geld und Energie investiert. Aber wir Polen haben diese Chance nicht ausreichend genutzt.« 78 Jahre nach Kriegsende ist viel geschehen, überall in der Neumark gibt es Zeichen der Versöhnung. Aber es bleibt eben auch noch eine Menge zu tun. Czarnuch und Wollstein haben den Krieg beide noch erlebt und wissen, wie schnell eine Gesellschaft verführt werden kann. »Wir haben getan, was wir konnten, um in Europa für Frieden zu werben«, sagt Czarnuch. »Jetzt ist es an der Zeit, den Staffelstab weiterzugeben.«