Radka Denemarková
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Der Roman Ein herrlicher Flecken Erde ►► erschien 2009 in der Deutschen Verlagsanstalt
Radka Denemarková
stehend von links: Rolf Seelige-Steinhoff (Chef der Seetel Hotelgruppe), Radka Denemarková, Hellmuth Karasek (Jury-Mitglied und Laudator), Eva Profousová, Klaus Kottwittenborg (Bürgermeister von Heringsdorf), Dr. Karin Lehmann (stellvertr. Kurdirektorin),

Die feierliche Preisverleihung an Radka Denemarková und ihre Übersetzerin Eva Profousová fand am 3. April 2011 im Atelier Otto-Niemeyer-Holstein auf der Insel Usedom statt.

► zur dankesrede von eva profousová

Sehr geehrte Damen und Herren,

meine Romane sind Gleichnisse für die Auseinandersetzung mit der Geschichte meines Landes. Ein Versuch, sich mit etwas auseinanderzusetzen, womit man sich hierzulande nicht auseinandersetzen kann. Die Tür zu einer nackten Geschichte zu öffnen, dem Drama seine Kraft zurück zu geben. Die Wahrheit sagen und nicht nur die Wirklichkeit abbilden. Das kann nur Literatur schaffen.

Die Stimmung in unserem Land speist sich aus der Überzeugung, wir seien lediglich eine Art Prellbock zwischen dem Westen und dem Osten. Dazu beigetragen hat auch unsere erste Massenhysterie: die Vertreibung der Deutschen von 1945. In der Schule hat man mir nie erzählt, dass vormals Tschechen und Deutsche hier Jahrhunderte lang friedlich nebeneinander gelebt haben. Das Münchner Abkommen, das Heimholen der Sudetendeutschen zurück ins Reich, die Anwendung der Nürnberger Gesetze im Protektorat Böhmen und Mähren, die Okkupation, der Holocaust und die Vernichtung der jüdischen Kultur wie auch die auf den Nationalsozialismus folgenden Vertreibungen in der Nachkriegszeit beendeten die deutsch-tschechische Koexistenz gewaltsam.

Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in Böhmen und Mähren beinah drei Millionen Deutsche. Nach dem Zweiten Weltkrieg bekamen undifferenzierte, gehässige antideutsche Stimmungen die Oberhand. Vom Prinzip der Kollektivschuld ausgehend, vermengten sie sich auf eine absurde Weise mit dem traditionellen tschechischen Antisemitismus und fanden ihren Höhepunkt in der Vertreibung der Deutschen. Das jüdische und deutsche Element in der Geschichte der Länder der böhmischen Krone wurde mithilfe von nationalistischen Argumenten entweder verzerrt oder ganz ignoriert, manchmal wurde die ablehnende Haltung auch klassenkämpferisch untermauert. Die solcherart deklarierte – und ohnehin latent vorhandene – Aversion war bezeichnend für das Verhältnis zur deutschen Kultur insgesamt. Die organisierte Vertreibung der Mehrheit der deutschen Bevölkerung aus Böhmen und Mähren (Dezember 1945 bis Dezember 1946), die ja im Rahmen einer beabsichtigten nationalen Einheit ihre Rechtfertigung fand, wurde im Einvernehmen mit den Siegermächten ausgeführt. Bereits im Sommer 1945 kam es allerdings zu der sog. wilden Vertreibung, die durch Organe der Staatsmacht vor Ort durchgeführt und vom Terror und Massenmord an Deutschen, Kollaborateuren und unschuldigen, denunzierten Mitbürgern begleitet wurde. Diese Revolutionsexzesse nahmen die politischen Säuberungen nach Februar 1948 vorweg.

Bis in die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts stellten in der Tschechoslowakei die deutsch-tschechischen Beziehungen ein zutiefst tabuisiertes Thema dar. Aus der Vertreibung der Deutschen leitete sich ein stark von Revisionismus und revanchistischen Tendenzen geprägtes Deutschlandbild ab. Die Deutschen waren vertrieben, die Juden tot oder im Exil. Für lange Jahrzehnte wurde jeglicher deutsche oder jüdische Beitrag zur tschechischen Kulturgeschichte praktisch verschwiegen.

Die Atmosphäre der hiesigen Geschichtsverdrängung wird bis heute von populistischen tschechischen Politikern als Schreckgespenst benutzt. Außerdem bereitete die wilde Vertreibung anderen furchtbaren Geschehnissen den Boden. Der im amerikanischen Exil verstorbene Journalist Ferdinand Peroutka schrieb 1956 in einem Beitrag für radio freies europa:

»Durch die Vertreibung der Deutschen ist eine Atmosphäre entstanden, in der es möglich ist, den politischen Gegner ohne großen Alarm zu beseitigen, eine Atmosphäre, die ein Leben ohne Recht und außerhalb des Gesetzes möglich macht … Dies sind die moralischen Folgen der Massenvertreibung, die bereits heute zu ahnen sind: Wenn es möglich ist, einen Menschen dafür zu bestrafen, dass er zu einer bestimmten Nation gehört, dann ist es auch möglich, ihn dafür zu bestrafen, dass er einer bestimmten gesellschaftlichen Klasse oder politischen Partei angehört.«

Nach der kommunistischen Machtübernahme von 1948 und der sowjetischen Okkupation von 1968 wurde der geltende Rechtsstatus für weitere Hunderttausende aufgehoben. Der Stalinismus florierte bei uns ohne Rücksicht darauf, was zur gleichen Zeit in der UdSSR passierte. Stalin galt bei uns als ein Vorbild – dabei wusste man bereits, dass er ein Massenmörder war. Jene Generation, die sich damals auf ihn berufen hatte, wischte 1968 mit einem einzigen Satz ihre Taten vom Tisch. Sie erklärte: »In unserer Jugend haben wir einige Fehler und Irrtümer begangen«. Hinter dem Plural »wir« fanden viele Gesichter Platz. Die »Fehler und Irrtümer« hätten aber auch vermieden werden können. Man kann immer etwas nicht tun.

»Den Lesern nie zu viel erklären, nie hoffieren. Ich bin der Schmerz. Nicht der Arzt. Ich will nicht berühmt sein, ich will gut sein.«
Radka Denemarková

Und was passierte mit den nicht gelebten, verkrüppelten Leben? Die Opfer haben schweigen müssen. Bis heute will keiner das Zeugnis der Überlebenden hören. Während zwanzig langer Jahre nach 1989 wurde kein einziges Mal erwähnt, dass ein Mensch sich nach seinen Taten und nicht nach seinen Worten bemisst. Die Worte kann man ändern, je nachdem ob wir gerade 1945,1953 oder 1968 bzw. 1989 oder 2011 schreiben. Wer einmal auf der Seite von einem Regime stand, das gemordet hat, der muss sich zu seinen Taten bekennen. Das Verschweigen beleidigt die Toten. Und mit ihnen auch diejenigen, die zwar physisch überlebt, psychisch aber ruiniert sind. Keiner wurde bestraft und wird es auch nicht werden, weil wir unseren Teil der Schuld nicht annehmen wollen. Womit wir der jüngeren Generation eine klare Botschaft übergeben: Im Leben ist alles erlaubt, denn jede Abartigkeit lässt sich mit dem Satz »in unserer Jugend haben wir Fehler und Irrtümer begangen« vom Tisch wischen.

 

Europäisch zu sein bedeutet gut zu sein, nicht europäisch sein zu wollen. Es gibt gute und schlechte Literatur und die gute ist schon europäisch. Wenn man die Thematik von seiner inneren Welt erarbeitet, das ist schon Weltliteratur, weil die Probleme uns allen gemeinsam sind, die existentielle Substanz bleibt die gleiche. Wir alle existieren zwischen zwei Punkten, der Geburt und dem Tod und bemühen uns, diesen Raum zu füllen und ihm einen Sinn zu geben. Das ist die Weltthematik, weil sie die ganze Menschheit betrifft. Und das ist in der tschechischen Literatur auch nicht anders. Von diesem inneren Standpunkt der schriftstellerischen Arbeit her sehe ich auch die gesellschaftliche Aufgabe der Literatur. Ich kann nur verschiedene gesellschaftliche Phänomene von verschiedenen Seiten beobachten und niederschreiben. Aber ich bin nicht das Gewissen der Gesellschaft, die Verantwortung trage ich wie die anderen auch. Ich bin nicht der Arzt, ich bin der Schmerz.

Wo sehe ich meine Rolle der Schriftstellerin, habe ich mir im Jahre 2007 ins Tagebuch geschrieben:

»Man steigt in die Berge, lässt den Balast im Tal. Doch kommt die Zeit, wo man ins Tal zurückkehren muss. Als wenn in diesem Jahr alles niedergebrannt wäre. Ich dachte, es wäre das Ende. Stattdessen bekam ich eine riesige Chance. Vom allerersten Anfang zu beginnen. Wenn ich nicht allein hier sitzen würde, kämen die Wörter nicht. Die innere Welt lebt hier auf und niemand reißt sie in Fetzen. Alles würde ich bewältigen, ich bin nicht zu bremsen. Die Themen strömen herbei, ich überlege, welche Gestalten ich ihnen zuteilen werde. Bevor wieder die Arbeit anfängt, bei welcher ich von Prags Lärm abgelenkt werde, vom Drängen meiner anderen Rollen. So in die eigene Welt zurückkehren. Und nichts von der Außenwelt ahnen. Warum ich als Schriftstellerin nicht ertrage, wenn jemand meine Gestalten kritisiert. Sie sind für mich lebende Wesen. Es genügt zu rufen und sie laufen hinaus, schlüpfen zwischen den Seiten durch, heben sich von den Zeilen ab. Als ob mir diejenigen, die die Feder spitzen, auf meine Welt, mein Leben spucken würden. Die tschechische Schauspielerin Hana Maciuchová sah im Drama über Johann Wolfgang Goethe, dass die Zuschauer nicht reagieren. Also doppelte sie nach. Jiří Adamíra sagte damals zu ihr: ›Das sollst du niemals machen. Hoffiere nicht.‹ Was auch auf mein Schreiben bezogen werden kann. Den Lesern nie zu viel erklären, nie hoffieren. Ich bin der Schmerz. Nicht der Arzt. Ich will nicht berühmt sein, ich will gut sein. Es nieselt und die Zeit vergeht. Meine Gestalten wickle ich in Wörter wie in Watte. Damit sie den Transport in die Welt überleben. Allein verlieren sie den Sinn für die Realität, oder eher als für die Realität für ihre Proportionen. Ich liebe das Tschechische. Eine saftige, opulente Sprache. Wie eine Hochzeit von Adligen, während ringsumher die Hungersnot wütet. Ich bleibe ein Einzelgänger. Einzig das gibt mir Freiheit. Schreiben und arbeiten. Und nichts dafür wollen. Nichts. Keine Belohnung. Jedes Buch liest und nimmt man in jedem Alter anders wahr. Wie sich das Lesen mit den Erfahrungen und der psychischen Verfassung verändert … Wenn man ein Buch nicht in einem bestimmten, im richtigen Alter liest, verpasst man es für immer. Darum ist eine Wissenschaft der Literatur eine Lüge. Sie sollte nicht von Menschen erdacht werden …

Ein typischer Satz in meinem Stil: ›Ich schiebe eine Haarsträhne von der Stirn. Von der Stirn, hinter welcher die Ambosse schmerzhafter Unruhe klopfen.‹ Und ein für meine Arbeit charakteristisches Zitat. Aus ein herrlicher flecken erde. ›Ottla wiegte mich in den Armen, sagte, ich sei ihr wehrloses Vögelchen. Das sich in seltenen Momenten, unerwartet und unverschämt, in einen blutrünstigen Raubvogel verwandelt. Der in alles lebende um sich herum hackt, blutige Fleischstücke zerrt und reißt. Am meisten aus sich selbst.‹ Ich greife zu einem riesigen Pinsel und übermale die Realität mit einer dicken Farbschicht. Zur Zeit, als ich ein herrlicher flecken erde beendete, war ich so erschöpft, dass ich als Gita Lauschmannová unterschrieb. Als meine Tochter Ester drei Jahre alt war, nahm sie das Buch sein eigener feind, das ich herausgegeben hatte, in die Hand. ›Das hast du geschrieben?‹ – ›Ja.‹ – ›Du bist meine Mutter.‹ Und sie umarmte mich. Ich war so überrascht, dass ich vors Haus treten, den Sternhimmel anschauen und den kühlen Schnee anfassen musste. Man nennt es gerührt sein …

Die Arbeit eines Schriftstellers kann kein von-bis oder ein Tagespensum geschriebener Seiten irgendwo in idealen Bedingungen der Einsamkeit sein. Eine Schriftstellerei, die sich vom innersten Wesen nicht losgerissen hat... Das ist das Auffangen von Sätzen, die den Zustand des Menschen der Wahrheit näher bringen. Es ist kein Warten auf die Erleuchtung, der Schriftsteller bereitet den Weg für solche Augenblicke durch Beobachtungen, Überlegungen, tiefe innerere Einfühlung, Weiterbildung. Und dann beginnen die Ambosse im Kopf lauter und lauter zu klopfen, bis sie den Menschen dazu zwingen sich hinzusetzen und durch die Hand und die Tinte, durch die Hand und die Tastatur fließt ein Strom und niemand weiß, wann er austrocknet und niemand weiß, wann und von wem der Hahn zugedreht wird. Nichts bleibt an Ort. Das Laub auf dem Baum vor meinem Fenster ist abgefallen. Die scheinbar klaren Fakten verschleiern oft den Sinn der Dinge. Worauf sind denn die Schriftsteller so stolz, sie schreiben doch vom Leben ab. Sie sind mit Recht stolz. Sie schreiben von ihrem inneren Leben ab. Das kennt jeder: es kommt ein Augenblick im Leben, und ich glaube, dass er vom Schicksal bestimmt ist, dem man nicht entgehen kann und in dem alles bezweifelt wird: das bisherige Leben, die Ehe… Und der Zweifel weitet sich aus. Dieser Zweifel ist allein, es ist ein Zweifel der Einsamkeit. Er ist aus ihr, der Einsamkeit geboren. Man kann das Wort schon benennen. Ich glaube, dass viele Menschen das, was ich jetzt sage, nicht ertragen und davonlaufen würden. Vielleicht gerade deshalb ist nicht jeder Mensch ein Schriftsteller.«

Ich möchte mich bei allen bedanken, die meine literarische Gestalt Gita Lauschmannová verstehen. Ich danke der Insel Usedom.

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