Die Dankesreden der Preisträgerinnen und Preisträger anlässlich der Verleihung des Georg Dehio-Buchpreises 2024

Gehalten am 10. Oktober 2024 im Simón-Bolívar-Saal der Staatsbibliothek zu Berlin

Ulrike Draesner, Georg Dehio-Buchpreis 2024 – Hauptpreis

Ulrike Draesner bei ihrer Dankesrede. Foto: © Deutsches Kulturforum östliches Europa, 2024 • Markus NowakUlrike Draesner. Foto: © Deutsches Kulturforum östliches Europa, 2024 • Markus Nowak

»Man schrieb das Ende der 90er Jahre, als ich auf einem Poesiefestival in Paris den polnischen Dichterkollegen Tomasz Różycki kennenlernte. Unsere Zimmer lagen nahe beieinander im selben Stockwerk des Hotels, und ich erinnere mich an ein abendliches Gespräch dort zwischen Tür und Tür. Tomasz erzählte mir, dass er aus Oppeln stammte, ich sage es auf Deutsch, und er sagte es Polnisch und Deutsch und das war ziemlich genau, was er mir dann erzählte: Polnisch und Deutsch. Gesprochen in einem Mischmasch aus Englisch und Französisch. Damals hörte ich zum ersten Mal von den Wieder-bewohnten-Häusern, und es war eine denkwürdige Geschichte, eine wirkliche Um-Drehung meines Gehirns, denn ich kannte diese Häuser. Sie waren die Für-immer-Verlassenen, so kannte ich sie, ich hatte Fotos gesehen, Grundrisse gesehen, Sehnsucht gespürt nach ihren Wänden, nach Dingen: bei  Oma und Opa und all ihren Münchner Freunden. Und bei meinem Vater.

Und nun, erst nun, ich war fast vierzig, drehte sich, innerhalb eines Sekundenbruchteils, die Perspektive um.

Gießt man eine Skulptur, baut man sie als Umriss und Hohlform, man baut sie als den Luftraum der Gussform, oft von zwei Seiten, der sie spiegelnd enthält, sozusagen im Positiv, das man auch als Negativ bezeichnen wird, denn wird die Skulptur gegossen, wird das eine das Andere werden des jeweils Anderen. Mitunter müssen die Gussformen zerschlagen werden, um das gegossene Kunstwerk, etwa eine Glocke, zu bergen, man spricht dann von einer verlorenen Form.

Tomasz sprach vom Gegenteil. Von einer Form, die blieb. Leer und gefüllt in einem. Seine Geschichte war für mich, wie ich da stand, in Verkehrung der historischen Abläufe, die Gussform der Geschichte meiner Großeltern. Sprich: das gespenstische Deutschenwohnen der polnischen Familie Różycki half mir, das ewig gespensterhafte Verloren-Wohnen meiner Großeltern kurz zu sehen.

Spiegel um Spiegel, Projektion um Projektion. Es tut mir leid, einfacher wird es nicht. Denn Menschen sind und waren im Spiel. Und die Tiere namens Mensch und vielleicht auch andere Tiere, stellen sich alternative Wirklichkeiten und absente Räume vor. So dachten meine Großeltern nach über jene, die in ihre Wohnung eingezogen sein mussten. Sie hofften, dass der Dackel rechtzeitig gefunden und gerettet worden war. Und so dachten jene, die eingezogen war, zum einen über meine Großeltern und meinen Vater nach, die sie sich gut vorstellen konnten – aus der Wohnung heraus, ihren Dinge, Briefen Fotografien. Und sie dachten, ihrerseits Flüchtlinge aus Lviv, wie ich heute weiß, denn wir kennen uns seit 2012, zurück an ihre Wohnung in Lemberg und die Menschen, die nun darin wohnen mochten und die sie kennenlernten – in den Spuren und Abdrücken der Wohnung in Lemberg – und aus den Geistern, die man willentlich oder unwillentlich in einer Wohnung zurücklässt.

So kreiseln wir, Gespenstern gleich, über den Rahmen, den Webrahmen der Geschichte.

Einfacher wird es nicht. Dafür bin ich dankbar. Denn wenn wir die Projektionen NICHT unterbrechen, wenn wir Vorstellungen und Phantasie ernstnehmen, wenn wir zulassen, dass Dinge uns ›angehen‹, erkennen wir, was uns verbindet.

Meine Großeltern hatten stets von Leere erzählt, einem Hohlraum. Doch Tomasz sprach von Überfüllung. Beide Geschichten gehörten zusammen, das verstand ich dort auf dem Pariser Hotelflur, nur gemeinsam bildeten sie eine bewohnbare Landschaft: Das eine die Erdlinie, das andere der Himmel. Keines ist besser oder schlechter, beides bedingt einander. Nur zusammen bilden sie einen Horizont.

Ich dachte damals darüber nach, einen Roman über die Physik des frühen 20. Jahrhunderts zu schreiben. Ich schrieb die Sieben Sprünge vom Rand der Welt. Das dauerte dann 14 Jahre … Tomasz hatte mich noch auf eine andere Weise berührt. Seine Gefühle als Kind, nicht wirklich dorthin zu gehören, wo er aufwuchs; das falsche Kind zu sein, entstanden nur als späte Folge einer Zwangsmigration, keine Heimat zu haben oder eben nur eine für den einen Fuß – und mit dem anderen Fuß in der Luft zu rudern – , diese Gefühle kannte ich. Als die meinen. Gussform und gegossene Form, Druck und Abdruck sind zwei Seiten eines Gesichts. Ich wusste, was es heißt, nicht dazuzugehören. Meinem Vater war „Polacke, geh hoam“ auf der Straße nachgerufen worden, meine Schwester und ich, protestantisch getauft wie er, wurden von katholischen Kindern durchs Dorf gejagt. Du bist falsch oder am falschen Ort, dabei ist es doch der richtige, du fühlst beides zugleich. Ein Teil deiner Familie will nicht da sein, will nach 30 Jahren noch immer anderswo sein, in einem Anderswo, das es längst nicht mehr gibt. Die Großeltern und der Vater wissen das, aber Wünsche und Sehnsüchte kümmern sich wenig darum, was man weiß, und der Abdruck der Landschaft, aus der sie gekommen waren, lebte in ihnen weiter, und machte eine Hohlform, in die sie nichts hineinzugießen hatten außer verblassenden Erinnerungen.

Das war die Musik, die ich hörte aus schlesischen Wörtern und Liedern, Gerüchen und Händen, der Weichheit meiner Oma, aus Gesichtern und Geschichten, die anders waren. Sie umschlossen auch mich und füllten sich in mich ein. Und so bin ich fast am Ende mit meinem Dank für den Georg-Dehio-Buchpreis 2024. Einem Preis für Verständigung im Kern – im KERN Europas. Dies macht mich besonders stolz.

Ich danke Ihnen – und bitte sie noch um einen Moment ihrer Aufmerksamkeit.

Im Sommer 1984 fuhr ich zum ersten Mal nach Polen. Ich war 22 Jahre alt, kam aus England vom Studium und tat meinem Vater einen Gefallen. So dachte ich, es stimmte wohl auch, doch zu meiner Überraschung tat ich den Gefallen auch mir. Zum ersten Mal stand ich in  Oleśnica (Oleschnízza) am Ring vor dem Haus der Urgroßeltern, das sich aus Erzählungen kannte und das, selbstverständlich, nun in der Wirklichkeit 1984 ganz anders war als vorgestellt. Viel kleiner, wie es mit Kindheitserinnerungen ebenso geht, selbst wenn es nicht die eigenen sind. Seltsam, nicht wahr: selbst, wenn es nicht die eigenen sind. Und fremd: die Sprache, das Geld, der Kommunismus. Und wunderschön: Die Oder in Wrocław. Der Himmel, der Horizont, der sich zeigte, die Streuselkuchen. Und: Dass die Häuser noch standen und neu gefüllt waren, mit Leben.

Zum zweiten Mal habe ich nun das Wort Horizont gebraucht. Er liegt mir am Herzen. Nur gemeinsam ergeben wir ihn. Ich nenne ihn den Horizont der Nachbarschaftlichkeit, des gewussten und gefühlten Nachbarseins. Nebeneinander wohnen, aber nicht nebeneinanderher. Eingedenk all dessen, was das 20. Jahrhundert verbrochen hat. Und wie es über die Äderchen, Schlängelpfade und Rinnsale der intergenerationellen Vererbung weiterrinnt und weitergeronnen ist in unser Seelen, Psychen, unsere Erinnerungen und Körper. Es ist gut, dieses Wissen zu lüften. Verantwortung zu übernehmen, ohne Schuld und Unrecht heimlich im Keller zu pflegen. Verantwortung in einer nachgenerationellen, dem 21. Jahrhundert entsprechenden Form, die Identitäten als hybride, stets neu in Verflechtungen auszuhandelnde Prozesse begreift. Es tut gut, gemeinsam am europäischen Haus zu bauen. Zusammenzustehen.

Zueinanderzustehen.

 

Karolina Kuszyk, Georg Dehio-Buchpreis 2024 – Förderpreis

Karolina Kuszyk bei ihrer Dankesrede. Foto: © Deutsches Kulturforum östliches Europa, 2024 • Markus NowakKarolina Kuszyk. Foto: © Deutsches Kulturforum östliches Europa, 2024 • Markus Nowak

 

Die Dankresrede von Karlonia Kuszyk folgt in Kürze.

 

Bernhard Hartmann, Georg Dehio-Buchpreis 2024 – Förderpreis

Bernhard Hartmann bei seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Georg Dehio-Buchpreises 2024. Foto: © Deutsches Kulturforum östliches Europa, 2024 • Markus NowakBernhard Hartmann. Foto: © Deutsches Kulturforum östliches Europa, 2024 • Markus Nowak

»Ich wollte nie Übersetzer werden, bis ich es war. Doch eigentlich war ich Übersetzer, seit ich mit sechzehn im Rahmen eines Schüleraustauschs zum ersten Mal nach Polen kam – zumindest, wenn man vom polnischen Wort für ›übersetzen‹ ausgeht, ›tłumaczyć‹, das auch ›erklären‹ bedeutet. Seit diesem ersten Besuch war ich immer wieder in der Situation, dass ich in den unterschiedlichsten Kontexten erklären musste, was es mit diesem liebens- und doch oft auch merkwürdigen Land jenseits der Oder auf sich hat. Und das ist auch eine wichtige Motivation für meine Arbeit als Übersetzer: Texte ins Deutsche zu bringen, die etwas erklären und die uns Deutschen verstehen helfen, warum Polen so ist, wie es ist. Oft sind aber gerade die Texte, die etwas erklären, keine literarischen, sondern wissenschaftliche und als solche oft wenig leser- und übersetzerfreundlich geschrieben. Die ›Häuser der anderen‹ waren deshalb für mich als ›Tłumacz‹ ein Glücksfall: Ein Buch, das auf zugängliche und im besten Sinne unterhaltsame Weise viel Wichtiges erklärt und verständlich macht.«

 

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