Im Museum des siebenbürgischen Mediasch/Mediaş findet man einen Kassenschlager: den ersten automatisch betriebenen Scheibenwischer aus den USA, der millionenfach verkauft wurde. Die revolutionäre Erfindung des Scheibenwischers geht auf die US-Amerikanerin Mary Anderson zurück. Sie hatte beobachtet, wie Straßenbahnfahrer in New York City bei Regen und Schnee ihre Frontscheiben öffneten, um noch etwas vom Verkehr sehen zu können. Andersons Scheibenwischer – so schrieb sie 1903 im Patentantrag – »ist ein einfacher Mechanismus, um Schnee, Regen und Graupel von der Glasscheibe zu entfernen«. Man musste dafür im Wagen kräftig mit einem Hebel kurbeln, um die Wischarme auf der Frontscheibe hin- und herzuschieben.
Wenige Jahre später, 1919, meldeten die Brüder William und Fred Folberth in Cleveland im US-Bundesstaat Ohio ihr Patent für einen automatisch betriebenen Scheibenwischer an. Die Männer nutzten den Sog im Ansaugkrümmer des Verbrennungsmotors, um die Wischer auf der Frontscheibe in Bewegung zu setzen. Auch diese Konstruktion hatte ihre Tücken: Je schneller das Auto fuhr, umso schneller bewegte sich der Wischer, beim Warten an der Ampel hingegen konnte er nicht betrieben werden. Dennoch wurde die Erfindung zum millionenfachen Verkaufsschlager, weil sie das Fahren sicherer machen sollte. In der Folberth-Gebrauchsanweisung hieß es, der Scheibenwischer sorge nicht nur für »freie Sicht«. Auch müssten die Fahrer nicht mehr kurbeln, sondern könnten »ihre beiden Hände am Steuer lassen«. Je nach Quelle sind die Folberths entweder Amerikaner oder Siebenbürger Sachsen. In der Online-Enzyklopädie Ohio History Central werden sie als die ersten US-Amerikaner gepriesen, die einen automatischen Scheibenwischer erfanden. In der Allgemeinen Deutschen Zeitung für Rumänien kann man dagegen von ihrem »siebenbürgischen Erfindergeist« lesen, den die beiden Männer bewiesen hätten.
Das Stadtmuseum in Mediasch verfügt über einen Scheibenwischer nebst Originalverpackung – eine Spende der Heimatgemeinschaft Mediasch. Er habe nicht intensiv gesucht, sondern vor allem geduldig gewartet, sagt Hansotto Drotloff, der vor Jahren in einer Internetauktion einen Folberth-Bausatz in den USA für umgerechnet rund 100 Euro ergatterte: »Ein jungfräuliches Modell, das vermutlich noch nie im Einsatz war.« Für Drotloff, der das Leben der Folberth-Brüder intensiv erforschte, ist der Scheibenwischer ein Stück Heimatgeschichte – die beiden Siebenbürger Sachsen wurden in Mediasch zu Schlossern ausgebildet, zu Beginn des 20. Jahrhunderts wanderten sie nach Amerika aus. Sie gehörten zu jenen 2,1 Millionen Auswanderern aus der Habsburgermonarchie, die die US-Einwanderungsbehörden zwischen 1900 und 1910 registrierten. Man sprach vom »Amerikafieber«, das auch die Gruppe der Sachsen in Siebenbürgen erfasst hatte. In den Kirchlichen Blättern in Hermannstadt wird 1906 notiert: »Es ist eine wahrhaft fieberhafte Erregung und Bewegung in unser sesshaftes Volk geraten.«
Die wirtschaftliche Lage in Siebenbürgen, das nach dem Österreichisch-Ungarischen Ausgleich von 1867 zum ungarischen Reichsteil gehörte, begann zu jener Zeit schwieriger zu werden. Der Zollkrieg zwischen Österreich-Ungarn und dem Königreich Rumänien von 1886 bis 1891 stürzte die Handwerker und Landwirte in eine Wirtschaftskrise. Hohe Steuern verteuerten das Leben, auch fiel Rumänien als wichtiger Exportmarkt zwischenzeitlich weg. Aus dem fernen Amerika dagegen bekamen die Folberths zahlreiche Erfolgsgeschichten zu hören. Sie verließen Mediasch, »auch weil ihnen die bedrückenden Verhältnisse nicht mehr zugesagt hatten«, erzählt Hans-Otto Drotloff. »Sie galten als hartnäckig, sie hatten Fantasie, sie wollten sich verwirklichen.«
Kann man die Folberths überhaupt siebenbürgische Erfinder nennen, wenn sie sich erst in den USA verwirklichen konnten? Wie hätten die beiden Brüder darüber gedacht? Die Antworten müssen 120 Jahre später andere für sie geben. Dass beispielsweise die Heimatgemeinschaft Mediasch den Werdegang der beiden akribisch aufarbeitet, verwundert den Osteuropahistoriker Harald Roth nicht. Erfolgsgeschichten wie die der Folberths fungieren als »Selbstvergewisserung, Bestätigung und Identität für die Gruppe der Siebenbürger Sachsen«, sagt Roth, der selbst zur Gemeinschaft gehört.
Die Geschichte der Folberths und anderer Erfinder erzählt zudem, wie gut vernetzt die Siebenbürger in den vergangenen Jahrhunderten trotz der Ländergrenzen waren. Für eine höhere Bildung ging man an die Universitäten unter anderem in Bologna, Wittenberg, Leipzig oder Göttingen. Manch ein Bauer, heißt es in den Chroniken, verkaufte ein Stück Großvieh, um das Hochschulsemester des Kindes zu bezahlen.
»In Europa war man damals viel beweglicher, als wir das heute denken«, sagt Roth, der auch Direktor des Deutschen Kulturforums östliches Europa ist. Studierende, Händler und Handwerker – sie alle sorgten für einen Austausch von Ideen und Berufserfahrungen zwischen den Welten. In Siebenbürgen kann man heute unzählige Patentanmeldungen finden, die Weiterentwicklungen von westlichen Erfindungen waren. »Tüfteln war Teil der Lösungssuche. Siebenbürgen war schließlich technisch und wirtschaftlich nicht so gut ausgestattet wie der Westen. Doch durch den Mangel entstanden Innovationen«, sagt Roth. Einige Erfindungen haben über die Ländergrenzen hinweg von sich reden gemacht.
Paul Traugott Meißner (* 1778 Mediasch, † 1864 Neuwaldegg bei Wien). Der Chemiker entwickelte in Wien die »Heizung mit erwärmter Luft«, die in öffentlichen Gebäuden, aber auch in Eisenbahnwaggons zur Anwendung kam. Sie war die Basis für Warmluft-Zentralheizungen, noch heute spricht man von der Meissnerschen Heizung.
Gustav Adolf Raupenstrauch (* 1859 Bistritz/ Bistriţa, † 1943 Wien). Der Pharmazeut und Chemiker entwickelte in Deutschland das wasserlösliche Desinfektionsmittel Lysol, das während der Cholera-Epidemie in Hamburg 1892 zum Einsatz kam.
Rudolf Eisenmenger (* 1871 in Karlsburg/Alba Iulia, † 1946 Wien). Der Mediziner baute im siebenbürgischen Broos/Orăştie einen »Biomotor« zur künstlichen Beatmung, den Vorläufer der Eisernen Lunge, die wiederum die maschinelle Beatmung des Menschen ermöglichte.
Stefan Hedrich (* 1919 in Bistritz, † 2010 in Rimsting am Chiemsee). Der studierte Maschinenbauer entwickelte die magnetische Schwebebahn mit einer Reisegeschwindigkeit von rund 500 Kilometern pro Stunde mit. Er gilt als »geistiger Vater des Transrapid«, der heute in China eingesetzt wird, und als Erfinder der Fahrwegkomponente des Systems. Sie wurde 1971 in Deutschland patentiert.
Der wohl bekannteste Erfinder aus Siebenbürgen ist der 1894 in Hermannstadt/Sibiu geborene und 1989 im fränkischen Feucht verstorbene Physiker Hermann Oberth. Er grübelte als Dreizehnjähriger darüber, wie Menschen bis zum Mond fliegen könnten, nachdem er Jules Vernes Reise zum Mond gelesen hatte. Als Schüler experimentierte er im städtischen Schwimmbad, um Fragen zur Schwerelosigkeit zu lösen. Als achtzehnjähriger Gymnasiast kam ihm die Idee einer Flüssigkeitsrakete mit einem Zwei-Komponenten-Treibstoff aus flüssigem Sauerstoff und Alkohol. Er fasste als einer der ersten Wissenschaftler die physikalischen, chemischen und aerodynamischen Grundlagen der Raketentechnik zusammen. Würde er heute leben, wäre er wohl ein berühmter Influencer für Raumfahrtfreaks. Sein Buch Die Rakete zu den Planetenräumen, 1923 verlegt und von Oberth selbst finanziert, begeisterte unzählige Menschen von der Idee, eine Rakete zum Mond zu senden. 38 Jahre später betrat US-Astronaut Neil Armstrong als erster Mensch den Himmelskörper.
Oberth kann man als Visionär, als Weltverbesserer beschreiben, doch biederte er sich im Zweiten Weltkrieg auch als opportunistischer Raketenbauer den Nationalsozialisten an. Der kanadische Historiker Michael Neufeld, der zur deutsch-amerikanischen Geschichte der Raumfahrt geforscht hat, sagt: »Oberth war als ethnischer Deutscher von den Nazis und von Hitler begeistert, zumindest eine Zeit lang.« Bei seinen Recherchen im Bundesarchiv-Militärarchiv stieß Neufeld auf einen Brief, in dem Oberth »seinem Führer Adolf Hitler« den Bau ballistischer Raketen mit einer Reichweite von 3 000 Kilometern vorschlägt. Er wollte für das NS-Regime als Wissenschaftler arbeiten und wurde in die Versuchsanstalten Peenemünde geholt, wo die berüchtigte Vergeltungswaffe V2 entstand. Historiker Neufeld vermutet allerdings, dass ihn das NS-Regime nur unter Kontrolle halten wollte, nicht aber an seiner Expertise interessiert war. Nach 1945 blieb Oberth nationaldeutschen Vorstellungen verhaftet und wirkte kurz nach Gründung bis zu seinem Parteiaustritt 1967 als Aushängeschild der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands (NPD); inwieweit er sich später überzeugend distanzierte, ist bis heute nicht abschließend geklärt.
Im siebenbürgischen Mediasch, wo Oberth mehrere Jahre Lehrer war, gibt es trotzdem zahlreiche Büsten von ihm. Beispielsweise trägt die Grundschule seinen Namen und in seinem früheren Wohnhaus ist ihm eine regelrechte Gedenkstätte eingerichtet. Erzählt wird darin die Geschichte des unermüdlichen Erfinders und erfolgreichen Raketenpioniers. Aber das ist nur die halbe Wahrheit, die andere Hälfte wartet noch darauf, aufgearbeitet zu werden.
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Der Artikel erschien im Magazin
KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa
Ausgabe № 1433 | Januar 2023
mit dem Schwerpunktthema:
Erfindungen: Von Geistesblitzen und kühnen Ideen