Am 2. Oktober 2021 wurde Roswitha Schieb mit dem Kulturpreis Schlesien des Landes Niedersachsen 2021 ausgezeichnet. Den Preis überreichten Boris Pistorius, Niedersachsens Minister für Inneres und Sport, und Cezary Przybylski, der Marschall der Woiwodschaft Niederschlesien, im Rahmen eines Festaktes in der Breslauer Oper. In der Begründung der Jury heißt es:
»Roswitha Schieb ist […] bereits seit vielen Jahren eng mit Schlesien verbunden. Dabei ist in ihren verschiedenen Werken eine Entwicklung zu spüren, die man auch als eine immer größer werdende Verbindung zu Schlesien deuten kann. Roswitha Schieb […] schafft es immer wieder, ihre Leserinnen und Leser in den Bann zu ziehen, während sie die Heimat ihrer Eltern erkundet. In den vergangenen zwanzig Jahren veröffentlichte Roswitha Schieb eine große Zahl von Büchern mit Bezug zu Schlesien. Dabei hat sie sich auch mit der Verbindung Berlins mit Schlesien auseinandergesetzt und die Stadt Breslau genauer betrachtet.«
Viele dieser Bücher erschienen im Verlag des Deutschen Kulturforums östliches Europa. Wir gratulieren unserer Autorin Roswitha Schieb ganz herzlich und veröffentlichen nachfolgend Ihre Dankesrede:
»Meine erste Reise nach Schlesien im Jahr 1998 gehörte zu jenen Reisen, die ›Epoche im Gemüte machen‹, wie es Wilhelm von Humboldt einmal formulierte. Absichtslos und zufällig, auf dem Weg von Berlin nach Krakau, fuhr ich durch Schlesien und entdeckte auf der zweisprachigen Landkarte plötzlich all die Ortsnamen, die ich von meinen Eltern unendlich oft gehört hatte. Elektrisiert stellte ich fest, dass die Orte gar nicht so irreal und im schwarzen Schutt der Geschichte versunken waren, wie ich immer gedacht hatte. Ich sah liebliche Hügellandschaften mit Barockkirchen und fruchtbares Bauernland, die charakteristischen Stadtanlagen mit dem Rathaus auf dem Ring, aber auch nach über 50 Jahren noch viele Wunden, die der Krieg und seine Folgen geschlagen hat. Im Dorf in der Nähe von Grottkau, aus dem meine Mutter stammt, sagte mir eine dortgebliebene Deutsche, die meine Mutter zum letzten Mal 1946 gesehen hatte, Familienähnlichkeiten auf den Kopf zu. Ich erfuhr, dass die Bauern, die sich in der Nachkriegszeit hier ansiedelten, aus der Gegend von Lemberg stammten und ihrerseits vertrieben worden waren. Diese Reise und das ganze Gefühls- und Gedankenkonglomerat, das sie auslöste, wurde zu einem sehr starken Motor, mich mich Schlesien, mit Polen zu beschäftigen, der bis heute nicht schwächer wird.
Roswitha Schieb während ihrer Dankresrede am 2. Oktober 2021 in der Breslauer Oper
Ich begann Polnisch zu lernen, fuhr nach Lemberg in die Ukraine, entdeckte den autobiographischen Essay des leider unlängst verstorbenen Dichters Adam Zagajewski, Zwei Städte, der für mich zu einem Schlüsseltext wurde: Ich hatte das Gefühl, dass sich für mich durch diese brillante doppelbödige Lemberg-Gleiwitz-Betrachtung und überhaupt durch die Beschäftigung mit Schlesien, mit Breslau, mit der schlesischen Kunst und Literatur damals und heute viele Tore öffneten, nach Polen, in die Ukraine, auch nach Litauen, Tschechien, und sogar Berlin entdeckte ich auf schlesischen Spuren neu.
Sehr herzlich möchte ich der Jury für die Wahl zum diesjährigen Kulturpreis Schlesien danken. Als ich davon erfuhr, fiel mir mein zweiter Doktorvater ein, der aus Schlesien stammte. Er erzählte mir einmal, dass er – wohl um 1980 herum – den Kulturpreises Schlesien, diesen, wie er es ausdrückte, ›Vertriebenenpreis‹, abgelehnt habe – war doch das schlechte Renommée der Vertriebenen in dieser Zeit nicht gerade karrierefördernd. Zwar hat sich seit damals Vieles geändert und es ist äußerst begrüßenswert, dass dieser Preis seit langem schon zu einem deutsch-polnischen Preis geworden ist. Doch auch heute kann die Beschäftigung mit Schlesien in Deutschland immer noch Irritationen auslösen und immer wieder kann es vorkommen, dass ich unter Beweis stellen muss, nicht ›so eine‹ zu sein – sprich revanchistisch bis rechts – , was oft reflexhaft unterstellt wird. Mittlerweile aber kann ich der ärgerlichen Ignoranz angestammter Bundesbürger zweierlei entgegensetzen. Einmal den treffenden Satz, der in der FAZ zu lesen war: ›Es wäre der Mehrheit der Deutschen recht gewesen, wenn die deutsche Schuld an den Vertriebenen haften geblieben wäre und alle anderen erlöste‹ – ein Satz, der aufgrund seiner Komplexität immer kurzes nachdenkliches Schweigen auslöst.
Und dann erzähle ich davon, wie sehr sich viele polnische Schlesier oder Polen, die in Schlesien wirken, schon seit Jahrzehnten um das deutsche, österreichische, böhmische Erbe verdient gemacht haben, es manchmal bis in die kleinsten, erstaunlichsten Verästelungen erforschen und bewahren – ich denke an Persönlichkeiten wie den Denkmalpfleger Andrzej Tomaszewski, den Kunsthistoriker Jerzy Kos, den Breslauer Museumsdirektor Maciej Łagiewski, die Literaturwissenschaftler Marek Zybura, Wojciech Kunicki und viele andere. Ich denke an die Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk und etliche andere Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Schlesien, die sich auch immer wieder mit der Doppelbödigkeit dieser Region beschäftigen. Ich denke an den Breslauer Künstler Jurek Kozieras, der in Breslau aus einer alten Müllkippe aus deutscher Zeit Scherben, Gläser, Türschlösser, Zeitungsfetzen, Bierflaschenstöpsel aus Porzellan, Püppchenköpfe und anderes ausgräbt, um sie zu Assemblagen, oft mit Schlesien- mit Breslau-Bezug neu zusammenzusetzen. Es sind Assemblagen, denen er wunderbar poetische Titel gibt wie ›Haus ohne Adresse‹ oder ›Die fünfte Seite des Rings‹.
Seine Assemblage ›Schlesische Schlösser‹ zeigt von weitem eine Schlössersilhouette, von nahem aber sieht man, dass diese aus verrosteten Türschlössern besteht – es sind Schlösser, denen die Schlüssel fehlen. Im Schlesischen Museum zu Görlitz hingegen hängen an einer Wand Schlüssel, die nie mehr ein Schloss öffnen werden. Diese doppelten Wirklichkeiten zusammenzudenken und aus ihnen, trotz aller schwierigen historischen Verwerfungen, Funken zu schlagen, ist mein Anliegen seit über zwei Jahrzehnten – und nicht nur meines, sondern einer Fülle mit Schlesien verbundener Wissenschaftler, Künstler und Schriftsteller, die zeigen, dass Schlesien ein reiches Land war und ist und bleiben wird.«
gehalten am 2. Oktober 2021 in der Breslauer Oper
Kulturpreis Schlesien des Landes Niedersachsen 2021
Weitere ausführliche Informationen zu allen Preisträgern auf der Website des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport
Bücher und Projekte von Roswitha Schieb
die im Verlag oder in Kooperation mit dem Deutschen Kulturforum östliches Europa erschienen sind und einen Bezug zu Schlesien haben:
Roswitha Schieb: Literarischer Reiseführer Breslau
Sieben Stadtspaziergänge durch Raum und Zeit
Roswitha Schieb: Breslau/Wrocław
Ein kunstgeschichtlicher Rundgang durch die Stadt der hundert Brücken
Roswitha Schieb: Jeder zweite Berliner
Schlesische Spuren an der Spree
Breslau – Wrocław. Augenblicke einer Stadt – Miasto uchwycone w czasie
zweisprachiger Katalog zur gleichnamigen Ausstellung mit Fotos von Mathias Marx und Texten von Roswitha Schieb
(vergriffen)
Blog: Jeder-zweite-Berliner
Die Autorin Roswitha Schieb auf Spurensuche nach schlesischen Einflüssen in Berlin
Außerdem erschien in unserem Verlag:
Roswitha Schieb: Literarischer Reiseführer Böhmisches Bäderdreieck
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