Deutsche Welle • Monitor Ost- / Südosteuropa • 11.03.2004
Bonn, den 11.3.2004, DW-RADIO, Vladimir Müller
Am Freitag (12.03.) treffen sich in der ost-slowakischen Stadt Kosice die Staatspräsidenten der »Visegrad-Gruppe«, der so genannten V4: Polen, die Slowakei, Tschechien und Ungarn zeigen kurz vor ihrem EU-Beitritt verstärkt Flagge. Schon am Montag (08.03.) trafen sich auf einem Schloss bei Prag die Ministerpräsidenten dieser Länder zu einem Meinungsaustausch. Die Zusammenkünfte auf höchster Ebene können jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die bereits 1991 ins Leben gerufene »Visegrad-Gruppe« in der Politik der Mitgliedstaaten bislang nur eine bescheidene Rolle gespielt hat. Hintergrund-Informationen von Vladimir Müller:
Es gibt sogar Stimmen, die fordern, die »Visegrad-Gruppe« aufzulösen. Es wäre natürlicher, wenn Tschechien zusammen mit der Slowakei und Ungarn im Rahmen der EU enger mit Österreich und Slowenien kooperierten, meinte unlängst Jiri Pehe, Direktor der New York University in Prag. Polen, dass noch größer ist als die drei übrigen Partner zusammen, habe seine eigene Interessen. In der Debatte über die EU-Verfassung fand Warschau in der Tat einen Verbündeten am anderen Ende des europäischen Kontinents – in Madrid. »Visegrad hat Sinn, auch wenn seine Mitglieder nicht in allen Fragen übereinstimmen«, beruhigte dagegen nach dem Treffen am Montag (08.03.) der slowakische Ministerpräsident Mikulas Dzurinda. Es gelang wieder einmal nicht, eine gemeinsame Linie zu finden – diesmal in der Frage der Arbeitsmarktbeschränkung: Bis zu sieben Jahren kann es dauern, bis Menschen aus den künftigen EU-Ländern in den alten Mitgliedstaaten ohne Restriktionen arbeiten dürfen. Diesmal hielt Ungarn nicht Schritt mit den anderen: Allein Budapest ist entschlossen, mit Gegenmaßnahmen auf die Übergangsregelung der EU zu reagieren. Die anderen »Visegrader« wollen lieber Überzeugungsarbeit leisten und die baldigen Partner in den westeuropäischen Hauptstädten von ihrer »Angst vor den Neuen« abbringen.
An diesem unterschiedlichen Vorgehen wird sich auch nach dem EU-Beitritt wohl nicht viel ändern. Der slowakische Außenminister Eduard Kukan im Gespräch mit der Deutschen Welle: »Es wird sicher Fälle geben, wenn die Interessen der einzelnen vier Mitglieder stärker sein werden als das Streben nach Einigkeit. Solche Fälle wird es aber weniger geben. Ich denke, wir werden uns auf die Fragen konzentrieren, wo eine Zusammenarbeit realistisch ist. Das hilft uns dann auch unsere eigenen Interessen durchzusetzen.«
»Realistisch« scheinen auch die Beziehungen der V4-Staaten untereinander zu sein. Die Idee eines Mitteleuropa gehöre der Vergangenheit an, sagte zum Beispiel vor wenigen Monaten Ungarns Premierminister Peter Medgyessy dem französischen Magazin »L'Express«. Doch es war gerade diese Idee, die nach den gewaltlosen Revolutionen 1989 viele Intellektuelle und Politiker faszinierte: ein multi-ethnischer und multi-religiöser Raum mit Menschen, die in friedlicher Koexistenz zusammenleben.
Entscheidend für die Entstehung der »Visegrad-Gruppe« waren aber Anfang der 1990er Jahre praktische Gründe: Die regionale Zusammenarbeit sollten die wirtschaftlichen Folgen des Zusammenbruchs des Sozialismus abfedern und die Integration in die transatlantischen und europäischen Strukturen erleichtern - Diese Ziele wurden mit dem NATO- und EU-Beitritt auch erreicht
Die V4 habe jedoch häufig nur Erklärungen über gemeinsame Positionen abgegeben, die nicht umgesetzt worden seien, beklagen viele Kritiker. Nur im kulturellen Bereich seien punktuelle Erfolge zu vermelden, unter ihnen die Gründung einer Visegrad-Stiftung. Bei den Verhandlungen mit der EU über die Aufnahme in die Union gab es tatsächlich keine gemeinsame Linie – im eigenen Interesse wetteiferten Prag, Warschau, Bratislava und Budapest um mehr Ausnahmeregelungen und günstigere Quoten.
Vielleicht könnte sich das nach dem EU-Beitritt am 1. Mai ändern. Der slowakische Außenminister sieht jedenfalls Chancen für die V4, in Zukunft mit gemeinsamen Vorschlägen Politikfelder der EU zu erweitern: »Die V4-Staaten können zum Beispiel bei der Ostpolitik der EU einen Beitrag leisten. Was die Beziehungen zur Ukraine oder zum westlichen Balkan betrifft, da ist unsere Gruppe in vielerlei Hinsicht näher an dieser Region. Dies könnte auch für die EU im Hinblick auf das Konzept eines erweiterten Europa nützlich sein.«
Laut aktuellen Umfragen wünscht sich die Mehrheit der Bevölkerung in drei Visegrad-Staaten – in Tschechien immerhin 50 Prozent – eine enge Zusammenarbeit der Vier auch nach ihrem EU-Beitritt. Den »Solo-Auftritt« der Polen beim Streit um die EU-Verfassung scheinen die Befragten offensichtlich zu tolerieren. Denn schließlich ist jedes Visegrad-Land im Laufe der EU-Beitrittsverhandlungen oft eigene Wege gegangen. Das vorläufige Scheitern der EU-Verfassung sieht übrigens der slowakische Außenminister Eduard Kukan gelassen: »Ich glaube nicht, dass wir uns beeilen müssen. In einigen wichtigen europäischen Ländern finden noch Wahlen statt. Wenn die neuen Regierungen angetreten sind, werden auch die schwierigsten Fragen durch Kompromisse zu lösen sein.« (md)
- »Zusammenarbeit dort, wo sie realistisch ist«
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