Alle Schulkinder kennen sie aus dem Biologieunterricht, die Versuche von Gregor Johann Mendel. Seine Erkenntnisse aus der Kreuzung unterschiedlicher Erbsenpflanzen gelten als Basis für die Genetik. Heutzutage wird Mendel in Brünn/Brno gefeiert. Zu Lebzeiten aber war der Weg des Bauernsohns aus Mährisch Schlesien ein sehr steiniger. Von Renate Zöller
Januar 2023 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1433
1
Gregor Johann Mendel ist vor allem für die Kreuzung von Erbsensorten bekannt. Mit 28 000 soll er experimentiert haben. ©encierro/AdobeStock

Wenn seine Studenten verzweifelt sind, wenn ihnen in der Prüfung kein Wort mehr einfällt von dem, was sie doch wochenlang gebüffelt haben, wenn sie das Gefühl haben, Gott und die Welt habe sie im Stich gelassen und ihre akademische Laufbahn sei am Ende, bevor sie überhaupt richtig gestartet ist – dann erzählt ihnen Marek Vácha, unter anderem Dozent an der medizinischen Fakultät der Prager Karls Universität, von Johann Mendel. Von dem Bauernsohn aus dem schlesischen Dörfchen Heinzendorf/Hynčice, das heute im östlichen Zipfel Tschechiens liegt, zwischen Olmütz/Olomouc und Ostrau/Ostrava. Dieser Mendel, erklärt er ihnen dann, war unfassbar klug, aber er hatte eine unbezähmbare Prüfungsangst. Diese »Nervenschwäche«, wie Vácha es nennt, war sogar so groß, dass er zweimal an der Universität versagte und nie einen Abschluss erlangte. Er war unglaublich beschämt, es war eine Katastrophe. Aber aus unserer heutigen Sicht konnte nichts Besseres passieren. Denn so fand er als Bruder Gregor im Augustinerkloster in Alt Brünn/Staré Brno die Voraussetzungen und die Gelegenheit, die wichtigsten Gesetzmäßigkeiten der Vererbung bei Erbsenpflanzen zu entschlüsseln und ging als »Vater der Genetik« in die Geschichte ein.

Marek Vácha, geboren 1966 in Brünn/Brno, ist nicht nur Dozent und Präsident des Akademischen Senats der Dritten Medizinischen Fakultät, er ist auch ein römisch-katholischer Priester, ebenso, wie Mendel es war. Er hat sich intensiv mit diesem auseinandergesetzt, sowohl mit dessen wissenschaftlicher Arbeit als auch mit der historischen Persönlichkeit. Immer wieder, erzählt er, werde er bei Interviews im Radio oder im Fernsehen gefragt, wie das denn zusammenpasse, der Glaube und die Wissenschaft. Und dann bemüht er gerne eine Metapher von Gregor Mendel: Das Leben sei wie ein Samenkorn, man müsse es aus eigener Kraft entwickeln. Aber wie das Samenkorn dafür Wasser, Erde, Luft und Sonne braucht, brauche der Mensch zu seiner geistigen Entwicklung Gott. Vácha ist überzeugt: »Tatsächlich war Mendels Weg zum Wissenschaftler so hart, ohne seinen Glauben hätte er ihn wahrscheinlich nicht geschafft!«

Bei seiner Geburt sprach zunächst nicht viel dafür, dass Johann Mendel je seine schlesische Heimat verlassen würde. Schon sein Vater Anton war 1789 in Heinzendorf geboren, einem 479-Seelen-Dorf im schlesischen Kuhländchen. Anton Mendel war ein Kleinbauer und musste neben den Arbeiten für den eigenen Hof unbezahlten Frondienst für den Gutsherrn leisten. Am 6. Oktober 1818 heiratet er Rosine Schwirtlich, ebenfalls aus Heinzendorf. Zwei Jahre später wurde das erste Kind geboren, Veronika. Am 22. Juli 1822 folgte die Geburt des einzigen Sohnes, der nach seinem Onkel väterlicherseits Johann genannt wurde. Den Namen Gregor sollte er erst viel später im Kloster annehmen. 1829 kommt die jüngere Schwester Theresia zur Welt. 

Der kleine Johann sollte eines Tages den Hof übernehmen, und er war schon früh dabei, wenn der Vater an der Veredelung seiner Obstbäume experimentierte, die er von der Gutsherrin Gräfin Maria Truchsess-Ziel bekam. Die soll sehr an Naturwissenschaften interessiert gewesen sein und dafür gesorgt haben, dass auch an Johanns Schule Mathematik, Physik und Biologie unterrichtet wurde. Johann liebte die Arbeit im Freien, zeigte sich aber auch sehr aufgeweckt in der Schule. Zwei seiner insgesamt vier »Schutzengel«, wie Vácha sie nennt, ist es zu verdanken, dass er nicht ebenfalls als Fronbauer endete. Gemeint sind der Grundschullehrer Thomas Makita und Johanns Taufpfarrer Jan Schreiber, die Anton Mendel überredeten, seinen elfjährigen Sohn an die weiterführende Schule nach Leipnik/Lípnik zu schicken, obwohl das für die Familie eine ungeheuerliche finanzielle Belastung bedeutete. In Leipnik erhielt Mendel so gute Zensuren, dass er nach einem Jahr, 1834, auf das Gymnasium in Troppau/Opava wechseln konnte. 

1838 wurde Anton Mendel bei einem Unfall im Wald von einem Baum der Brustkorb zerquetscht und die Situation der Familie wurde noch prekärer. Für Johann Mendel bedeutete das konkret, dass er seinen Lebensunterhalt selbst verdienen musste. Er schlug sich als Nachhilfelehrer durch. Um ihn zu unterstützen, verzichtete Theresia auf einen Teil ihrer Mitgift. 

Trotz dieser enormen Belastung schaffte Mendel 1840 den Sprung zur Universität in Olmütz. Er studierte Philosophie in eben dem Gebäude, in dem Marek Vácha fast zwei Jahrhunderte später Theologie studieren würde. Aber zu den finanziellen Sorgen kamen offenbar die Versagensängste. »Der Druck war zu groß«, sagt Vácha: »Mendel musste das Studium abbrechen.« Zum Glück habe er jedoch in Olmütz seinen dritten »Schutzengel« gefunden, Professor Friedrich Franz. Der hatte die rettende Idee, Mendel wärmstens als Novizen für das Augustinerkloster in Alt-Brünn zu empfehlen, das gerade wieder Vakanzen hatte. So gelangte Mendel, jetzt Bruder Gregor, unter die Fittiche seines vierten »Schutzengels«, des Abtes Cyrill Franz Napp. Und das sollte sein Leben von Grund auf verändern.

»Cyrill Franz Napp war allseitig interessiert, ausgleichend, sehr unkonventionell«, sagt Zdeněk Mareček, Germanistik-Dozent an der Masaryk-Universität in Brünn, mit einem ganz besonderen Interesse an der kulturellen und sozialen Sphäre, in der sich Napp und Mendel bewegten. Napp habe in seinem Kloster eine ganze Reihe Intellektueller um sich geschart, die teilweise aus Sicht anderer Kirchenleute beinahe unerträglich provokante Thesen verfolgten, sagt er. So traf Mendel auf Menschen wie František Matouš Klácel, Klosterbruder, aber auch Dichter, Journalist und Philosoph, der mit Božena Němcová befreundet war und während der Revolution 1848 als Delegierter am Slawenkongress teilnahm. Oder František Tomáš Bratranek (Franz Thomas Bratranek), der in Wien die Schwiegertochter von Johann Wolfgang von Goethe kennengelernt hatte und dessen erster Biograf wurde. Im Kloster gab es ebenso tschechische wie deutschsprachige Mitbrüder, gesprochen wurde aber in der Regel Deutsch. »Für die Wissenschaftler und Intellektuellen war Tschechisch kein natürliches Kommunikationsmittel«, erklärt Mareček.

Brünn wurde damals als »mährisches Manchester« bezeichnet. Eine reiche, lebendige Textilstadt, deren Einwohnerzahl sich innerhalb weniger Jahrzehnte vervielfacht hatte. Die Stadt wimmelte von modernen Kardereien, Spinnereien, Webereien und Färbereien. Mareček sagt: »Hier konnte Mendel im Natur-forschenden Verein in Brünn mit gleichgesinnten Intellektuellen verkehren, mit Deutschen, Tschechen oder auch Juden wie dem Rabbiner Baruch Placzek, mit dem er ganz bestimmt die Evolutionstheorien von Charles Darwin diskutiert hat.«

Napp erkannte Mendels klugen Kopf, aber wusste auch um dessen schwache Nerven. Deshalb wurde er zunächst als Lehrer im Gymnasium in Znaim/Znojmo eingeteilt, wo er die deutsche, griechische und lateinische Sprache sowie Mathematik unterrichtete. »Das war ein riesiger Erfolg«, sagt Vácha: »Mendel war wahnsinnig beliebt bei seinen Schülern und auch die Kollegen mochten ihn.« Aber er konnte keinerlei Abschlüsse vorweisen. Nach der Revolution 1848 wurde verstärkt darauf geachtet, dass in den Schulen nur qualifizierte Lehrer unterrichteten. Also schickte Napp seinen Schützling an die Universität Wien. 

Physik, Chemie, Botanik, Zoologie, Physiologie – Mendel ergriff die Chance mit beiden Händen, sein Stundenplan war gestopft voll. Einen Abschluss konnte er allerdings auch diesmal wieder nicht erlangen. Gleich zu Beginn seines Studiums 1850 fiel er wieder durch das Examen. Es gibt viele detaillierte Informationen zu diesen Prüfungen, weiß Vácha. Der erste Teil bestand aus einer schriftlichen Arbeit, für die er mehrere Wochen Zeit hatte. Er bestand diese Prüfung mit Bravour. Der zweite Teil war ebenfalls eine schriftliche Klausur vor Ort und ohne die Möglichkeit, in Büchern nachzuschauen. Mendel schnitt deutlich schlechter ab. Dann aber folgte der dritte Teil, eine mündliche Prüfung – und die war für ihn nicht zu bestehen. Wahrscheinlich, glaubt Vácha, lag Mendels Schwäche auch ganz einfach daran, dass er Autodidakt war: »Er las, was ihn interessierte, aber ihm fehlte der Bildungshintergrund, den andere Studenten aus reicheren Familien mit sich brachten.« Wie viele andere Amateur-Wissenschaftler dieser Zeit, Charles Darwin, Francis Bacon, Jean-Baptiste de Lamarck oder Karl Marx, ließ sich auch Mendel dennoch nicht davon abbringen, wissenschaftlich zu arbeiten.

Nachdem Mendel aus Wien nach Brünn zurückgekehrt war, begab er sich im Klostergarten ans Werk. Er orientierte sich an den Versuchen, die er im Physikstudium kennengelernt hatte, und an der Mathematik. »Die Verknüpfung mit den Naturwissenschaften, vor allem mit der Mathematik, ist das Besondere in seinem Denkansatz«, sagt Mareček. Acht Jahre lang kreuzte Mendel 28 000 Erbsenpflanzen miteinander und hielt akribisch jeweils die Blütenfarbe (violett oder weiß), die Samenform, die Samenfarbe, die Farbe und die Form der Schote, die Länge des Stängels und die Position der Blüte fest. 

Er fand heraus, dass bei der ersten Kreuzung von Erbsenpflanzen mit weißer und mit violetter Blüte alle Blüten violett waren, kreuzte er jedoch diese Pflanzen mit den violetten Blüten miteinander, so waren schließlich ein Viertel der Nachkommen wieder weiß. Daraus schloss er, dass die Erbse für alle ihre Merkmale zwei Vererbungseinheiten besitzt und dass es rezessive und dominante Merkmale gibt. 

Seine Thesen, heute als Mendelsche Regeln bekannt, trug er am 8. Februar und am 8. März 1855 vor dem Naturforschenden Verein vor, ein Jahr später publizierte er das Buch Versuche über Pflanzen-Hybriden. Aber die Fachwelt schwieg. Niemand verstand ihn. »Er war einfach außerhalb des Diskurses«, sagt Mareček. Erst lange nach seinem Tod 1884, um 1900, entdeckten drei Naturwissenschaftler seine Thesen wieder und verschafften ihnen den internationalen Durchbruch in der Wissenschaft: der holländische Biologe Hugo de Vries, der deutsche Pflanzengenetiker Carl Correns und der österreichische Pflan-zenzüchter Erich von Tschermak-Seysenegg. Mendel soll selbstbewusst gesagt haben: »Meine Zeit wird schon noch kommen.« Seine wissenschaftlichen Versuche beendete er jedoch bald darauf. 

Nach Napps Tod 1868 wurde Mendel zum neuen Abt des Augustinerklosters gewählt. »Aus Sicht der Wissenschaft war das eine Katastrophe«, sagt Vácha. Von nun an wurde aus dem zurückgezogenen Wissenschaftler ein vielbeschäftigter Organisator. Da blieb schlicht keine Zeit mehr für das Gewächshaus. Zugleich war die Wahl in vielfach anderer Hinsicht ein Segen, räumt Vácha ein. Die Bevölkerung Brünns begrüßte sie mit großer Begeisterung, Mendel bekam Glückwunschbriefe und Festreden wurden vorbereitet. Der neue Abt war sehr beliebt in der Stadt. Vor allem aber tilgte diese Wahl endgültig die Schmach, zweimal das Lehrer-Examen nicht bestanden zu haben. 

Jetzt war Mendel nicht nur hoch angesehen, er war als Abt dieses sehr reichen Klosters auch selbst betucht. Der ehemals Hilfsbedürftige konnte jetzt selbst helfen. Und das tat er. Vácha erzählt gerne die Geschichte, wie Mendel gleich nach seiner Wahl sein letztes Lehrergehalt unter den drei ärmsten Schülern aufteilte. Zum Dank legten seine Schüler Geld zusammen und schenkten ihm zum Abschied zwei silberne Kerzenständer. Und auch bei seiner Schwester Theresia konnte er sich nun endlich revanchieren: Er bezahlte ihren drei Söhnen das Studium.

_____________________________________________________

KK 1433 Titel 741x1040Der Artikel erschien im Magazin

KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa
Ausgabe № 1433 | Januar 202
3
mit dem Schwerpunktthema: 
Erfindungen: Von Geistesblitzen und kühnen Ideen