
Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
»Neboj«, schrieb der Brünner Streetart-Künstler Timo über den Eingang des Tunnels zwischen den Prager Stadtteilen Zischkaberg/Žižkov und Karolinenthal/Karlín: »Fürchte dich nicht«. Wer die 303 Meter lange kühle Röhre auf dem Titelfoto einmal zu Fuß durchquert hat, weiß: Es ist eine kleine Mutprobe. Kein Wunder, dass sie schon oft als beklemmende Filmkulisse diente.
271 Meter darüber thront das monumentale Nationaldenkmal Vítkov, ursprünglich errichtet zum Gedenken an die Gefallenen des Ersten Weltkriegs, später erweitert für die Opfer des Zweiten, schließlich grotesk umfunktioniert in ein Mausoleum für den einbalsamierten Leichnam von Klement Gottwald. Und hinter der unscheinbaren Tür mitten im Tunnel versteckt sich ein Luftschutzbunker, der einst Schutz für 1.250 Menschen bot und heute als Labor für Kernforschung genutzt wird. Ein Ort also, in dem Geschichte und Alltag, Pathos und Pragmatismus dicht beieinanderliegen, passend für unser aktuelles Heft mit dem Titel: Alltag im Zwielicht. Tricks und Gaunereien.
Marcin Wiatr zeigt in Speck, Likör und Bücher, wie Schmuggel im Grenzland zu einem einträglichen Geschäft werden konnte – ideenreich, riskant und voller Geschichten. Wie eng Überleben mit Mut und kleinen Schlichen verbunden sein kann, zeigen die Donauschwaben. Ingeborg Szöllösi erinnert daran, wie Familien über Generationen hinweg Geschichten bewahrten, in denen Wirklichkeit und Märchen kaum zu trennen sind. Markus Schnabel beschreibt zeitgenössische polnische Krimis als Spiegel der Zwischenkriegszeit, geprägt von Armut, politischem Hass und Lebenshunger. Von Spionage wiederum erzählt Alexander Welscher, wenn er den Erfinder der Minox-Kamera porträtiert: Walter Zapp, dessen unscheinbarer Apparat ganze Generationen von Agentenfilmen prägte. Und im Interview spricht Herbert Küpper darüber, warum die Rechtsordnungen im östlichen Europa schwer zu erfassen sind und dass jedes Recht ein Produkt seiner Kultur ist – ein Gegenpol zum Schattenspiel der Tricks und Gaunereien.
Abseits des Schwerpunktthemas empfehlen wir Ihnen einen Artikel von Felix Schmieder und Gunter Dehnert: Er behandelt die »preußische Huldigung« vor fünfhundert Jahren und ihre Deutung bis heute. Und jeweils in der letzten KK-Ausgabe des Jahres finden Sie ab diesem Heft immer eine Übersicht der Institutionen unseres Förderbereichs.
In eigener Sache: Nach dem Weggang von Markus Nowak hat sich die Redaktion neu aufgestellt. Die Chefredaktion übernimmt nun Renate Zöller, die bereits seit 2021 die KK mitverantwortet. Unterstützt wird sie weiterhin von Susanne Šemelė in Washington, D.C. Sie ist unser heimliches Heinzelmännchen, das oft dann arbeitet, wenn wir hier in Europa längst Feierabend haben. Mit Know-how zu Sozialen Medien und kreativen Ideen sorgt sie dafür, dass die Kulturkorrespondenz sichtbarer wird. Neu hinzugekommen ist Judith Hördt, die seit 2020 in unserem Verlag tätig ist. Sie hat ein waches Auge auf die Qualität unserer Texte und bringt frischen Wind ins Blatt. Von ihr stammt in dieser Ausgabe etwa die Rezension zum neuen Dracula-Film von Luc Besson. Ein bisschen Gruseln darf schließlich schon sein.
Ansonsten aber halten wir es mit Timo: Fürchten Sie sich nicht und folgen Sie uns ins Zwielicht des Alltags, zu Geschichten zwischen bitterem Ernst und manchmal auch einem Augenzwinkern.
Eine anregende Lektüre wünscht Ihnen
Ihr Deutsches Kulturforum östliches Europa
Inhalt
Im Fokus
Epochen I
Speck, Likör und Bücher. Von einer besonders lukrativen Art des Handels
Von Marcin Wiatr
Hinweise
25. Böhmischer Weihnachtsmarkt | Potsdam-Babelsberg
Es weihnachtet sehr …
Pommersches Landesmuseum | Greifswald
Schätze aus der Wikingerzeit
Donauschwäbisches Zentralmuseum | Ulm
Lifeline
Siebenbürgisches Museum | Gundelsheim
Keramik und Ritual
Haus Schlesien | Königswinter
unheimisch/nieswojość – Schlesien heute im Bild
Perspektiven
Ein Akt der Unterwerfung? 500 Jahre Herzogtum Preußen
Von Felix Schmieder und Gunter Dehnert
Durch den Sucher
So viel Schönes, so viele Perlen!
Von Brygida Helbig
Der rote Faden
»Jedes Recht ist das Produkt einer Kultur«
Interview mit dem Rechtswissenschaftler Prof. Herbert Küpper
Von Markus Nowak
Rezensionen
Krieg ohne Schlacht
Beata Giblak: Neisse 1914–1918. Kultur, Literatur und Alltag einer oberschlesischen Stadt im Ersten Weltkrieg
Von Dawid Smolorz
Ein unvollständiges Mosaik
Jochen Buchsteiner: Wir Ostpreußen. Eine ganz gewöhnliche deutsche Familiengeschichte
Von Magdalena Gebala
Unsterblich verliebt
Dracula – Die Auferstehung (Regie: Luc Besson)
Von Judith Hördt
Unsere Jungs. Einwohner Danzig-Westpreußens in der Armee des Dritten Reichs
Galeria Palowa im Rechtstädtischen Rathaus Danzig/Gdańsk
Von Philipp Fritz
Epochen
Dem Überleben wohnt ein Zauber inne
Donauschwaben können darüber viele Geschichten erzählen
Von Ingeborg Szöllösi
Hand aufs Herz, …
… Dietrich Mattausch!
im Gespräch mit der KK
Netzstücke
- Kulturklick
Das Siebenbürgen-Quiz
als App bei play.google.com - Auf die Ohren
Podcast vom Deutschen Polen-Institut
Alles über Polen - Feed-Funde
Ostblock Girl
@elli.edich
Momente
Polnische Krimis
Literatur als Fenster in die deutsche Vergangenheit
Von Oliwia Drozdowicz
Portrait
Spielzeug für Spione: Walter Zapp und seine legendäre Minox-Kamera
Von Alexander Welscher
Fundstück
Seltene Feldpost aus Kurland
Von Susanne Šemelė