Wer sich schon immer einmal als Gutsherr fühlen wollte, sollte das Gut Kukschen/Kukšu muiža in Kurland besuchen. Dessen deutscher Besitzer hat sich damit einen Aussteigertraum erfüllt – und lässt andere gerne daran teilhaben.
Kulturkorrespondenz östliches Europa, № 1447 | Drittes Quartal 2025
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Das Jagdzimmer dient heute als Speiseraum für die Gäste. © Arina Soltnzeff

Schon von außen betrachtet wirkt es beeindruckend. Doch wer im Inneren über das knarzende Parkett des Herrenhauses von Gut Kukschen im westlichen Lettland schreitet, kommt aus dem Staunen fast überhaupt nicht mehr heraus. Was sich hinter den geschichtsträchtigen Mauern des prächtigen Landsitzes verbirgt, ist schlicht überwältigend: Von den mit Stuckreliefs verzierten Decken hängen funkelnde Kronleuchter herab, an den Wänden finden sich aufwendig freigelegte Malereien und unzählige Gemälde, und die Räume sind fast schon überladen vollgestellt mit antikem Mobiliar. Willkommen in einer anderen Welt, in der die Zeit stehen geblieben zu sein scheint!

»Meine Gäste sollen ein Gefühl dafür bekommen, wie der Landadel seinerzeit gelebt und geschwelgt hat«, erzählt Daniel Jahn bei einem Rundgang durch das rund 85 Kilometer westlich der Hauptstadt Riga in Kurland gelegene Anwesen. Darin können Touristen nicht nur übernachten und essen, sondern auch einen Einblick in die Lebensweise des deutschbaltischen Adels erhalten, der einst zusammen mit den Ritterschaften die Kulturgeschichte auf dem Gebiet des heutigen Lettland entscheidend mitgeprägt hat. Alles ist so eingerichtet, wie man vor hunderten Jahren gelebt haben könnte. Mit insgesamt mehr als 11 000 Gegenständen. Jeder davon hat seine eigene Geschichte – und Jahn kann sie alle erzählen.

Stolz führt der deutsche Hotelier durch das prunkvoll und mit viel Liebe zum Detail eingerichtete Herrenhaus, das den Mittelpunkt des weitläufigen Guts mit mehreren Dienstgebäuden, Parkanlagen und Gärten bildet. »Hier ist die Welt noch harmonisch ...« – so bewirbt Jahn sein stattliches Anwesen, das er kurz vor der Jahrtausendwende in desolatem Zustand erworben und wieder zum Leben erweckt hat. Damit wurde der Rheinland-Pfälzer zu einem Vorreiter in Lettland, wo nach Angaben des Lettischen Verbands der Schlösser und Herrenhäuser zunehmend mehr Gutshöfe eine stilvolle Wiedergeburt erleben.

Hunderte Herrenhäuser erinnern in Lettland an die wechselvolle Geschichte und die einst vorherrschenden deutschbaltischen Adelsfamilien. Rund dreißig davon werden gegenwärtig als Hotel genutzt, erzählt Verbandspräsident Roberts Grinbergs. Während diese schöner denn je erstrahlen, sind andere weiterhin so verfallen wie zu finstersten Sowjetzeiten. Doch das Interesse von Privatinvestoren steigt. »Einige wollen das Tourismusgeschäft, andere das kulturelle Erbe bewahren und auf dem Land leben«, beschreibt Grinbergs die Beweggründe der neuen Gutsbesitzer, Kulturschützer und anderer Enthusiasten, die sich in dem von ihm geführten Verband zusammengeschlossen haben. »Die größte Motivation ist das Empfinden, das Heimatland in Ordnung zu bringen und die Hinterlassenschaften zu erhalten. Aber es gibt auch den Wunsch, sich ein Denkmal für die eigenen Ambitionen zu setzen.«

Auferstanden aus Ruinen

Auch die Anfänge von Kukschen waren schwer. »Als ich das Haus zum ersten Mal sah, war es fast eine Ruine«, erinnert sich Jahn. Im Dach klafften riesige Löcher, die Fenster fehlten und die Wände waren teils eingefallen, der weitläufige Park von Unkraut überwuchert. Dennoch fand der umgängliche Mittsechziger sofort Gefallen an dem geschichtsträchtigen Gebäude, das - wie viele andere Gutshäuser in Baltikum - wiederholt den Besitzer gewechselt hatte und in dem im Laufe der Jahrhunderte mindestens ein halbes Dutzend deutschbaltischer Adelsfamilien residierten. Mit Helene Anna Mathilde von Boetticher wurde auch die Mutter des deutsch-baltischen Schriftstellers Werner von Bergengruen (1892-1964) in dem 1530 erstmals schriftlich erwähnten Herrenhaus geboren. Jahn kaufte es für 18 000 US-Dollar.

»Der Kauf war letztlich eine reine Bauchentscheidung. Ich konnte gar nicht anders. Es war Liebe auf den ersten Blick«, erzählt der seit Anfang der 1990er Jahre in Lettland lebende Jahn. Beim Betrachten der alten Bilder wundert er sich nach eigenen Angaben heute manchmal über seinen Mut. Den Ausschlag dafür habe vor allem das Bild gegeben, auf dem sich das Herrenhaus majestätisch in dem dahinterliegenden See spiegelt. »Es sah aus wie ein verwunschenes Märchenschloss.«

In Deutschland hatte Jahn Wirtschaft und Hotelmanagement studiert und anschließend in der ganzen Welt als Koch, Kellner und Hotelchef gearbeitet. Nachdem Lettland 1991 die Unabhängigkeit wiedererlangt hatte, lockte ihn das Abenteuer: Der damals knapp 30-Jährige tauschte seine sichere Stelle eines stellvertretenden Hoteldirektors in Bonn gegen die Herausforderung in einem für ihn unbekannten Neuland. Jahn sollte die Leitung des ersten Hotels mit westlichen Standards übernehmen, dem Hotel de Rome, das die Stadt Riga und Investoren aus dessen deutscher Partnerstadt Bremen gemeinsam hatten restaurieren lassen Jahn machte das am Eingang zur Rigaer Altstadt gelegene Grand Hotel zum besten Haus am Platz. Parallel dazu führte er später auch den nicht weit davon entfernten Konventhof, ein Mittelklasse-Hotel in einem renovierten Häuserkomplex aus dem 13. Jahrhundert. Dabei machte er als Mitgesellschafter erste Erfahrungen in der Restaurierung von historischen Gebäuden.

Neuer Glanz für das einstmals ungeliebte Erbe

Doch es war ein verwegenes Unterfangen. Jahrelang unbeachtet und dem Verfall überlassen, war Kukschen ein Sinnbild für den lange vorherrschenden Umgang mit dem Erbe des deutschbaltischen Adels. Dieser hatte im 18. Jahrhundert mit dem Bau von imposanten Herrenhäusern in der damaligen Ostseeprovinz des Russländischen Reiches begonnen. Mit der Russischen Revolution von 1905, bei der es auch in Kurland und anderswo auf dem Gebiet des heutigen Lettland zu Unruhen kam, begann deren Niedergang – viele Landsitze wurden geplündert und niedergebrannt. Auch der Erste Weltkrieg ging an vielen nicht spurlos vorbei. Mit dem Entstehen des lettischen Nationalstaats ging die feudale Macht dieses Teils der Deutschbalten endgültig zu Ende.

Nachdem Lettland im Jahr 1918 seine Unabhängigkeit errungen hatte, verlor die Aristokratie ihre Privilegien – die Gutsbesitzer wurden durch eine Agrarreform weitgehend enteignet. Die ersten Deutschbalten verließen das Land, die meisten anderen folgten 1939 im Zuge der NS-Zwangsumsiedlung »Heim ins Reich«. Der Rest floh 1944 nach der zwischenzeitlichen deutschen Besatzung Lettlands vor der Roten Armee. In der Sowjetzeit wurden die Gutshäuser zu »Symbolen der Knechtschaft und Unterdrückung« degradiert. Abgesehen von denjenigen, die nach funktionalen Gesichtspunkten als Kolchosezentren, Dorfschulen, Heime oder Wohnungen zweckentfremdet wurden, verfiel ein Großteil der historischen Gebäude.

Gut Kukschen überstand als Verwaltungsgebäude einer sowjetischen Kolchose – mehr schlecht als recht. Aber immerhin. Um das marode Anwesen wieder aufleben und in alter Pracht erstrahlen zu lassen, investierte Jahn sieben Jahre, mehrere Millionen Euro und viel Herzblut. Für die weitgehend originalgetreue Renovierung zog der Kunstkenner und -sammler erfahrene Denkmalschützer und Historiker hinzu, erstand auf Grundlage einer alten Inventarliste Stilmöbel, Porzellan und Gemälde und ließ nach historischen Vorlagen die Beschläge für Türen und Fenster handschmieden. Entstanden ist ein edles Landhotel mit gut einem Dutzend individuell eingerichteter Gästezimmer. Dazu kommen ein Jagd- und ein Cognaczimmer, eine Tee- und Schwanenstube, ein großer Saal und eine Bibliothek. Und nicht zu vergessen: eine große Terrasse mit Blick über den See.

Mit seinem kleinen Stab von nur drei Mitarbeitern beherbergt Jahn jährlich bis zu 1 200 Gäste in seinem privat betriebenen und auf keiner Buchungsplattform zu findendem Landhotel, die er selbst mit erlesenen Gerichten aus regionalen Zutaten bekocht. Zu den Stammgästen zählen viele Deutschbalten, die die alte Heimat ihrer Vorfahren bereisen. Darunter sind auch Mitglieder der Familie von Boetticher – eine Nachfahrin vermachte Jahn vor einiger Zeit sogar zwölf Damastservietten aus der Mitgift von Helene von Boetticher. Mehrfach wurde das Gutshaus zudem durch den Besuch von hochrangigen Gästen gewürdigt: Ob lettische Staatspräsidenten, deutsche Würdenträger oder ausländische Honoratioren – die Einträge im Gästebuch sind beeindruckend.

Desinteresse weicht Engagement für den Erhalt

Doch auch die Pracht von Kukschen kann nicht über den immensen Verlust an historischer Bausubstanz hinwegtäuschen. Noch zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gab es auf dem Gebiet des heutigen Lettland weit mehr als 1 000 Gutshäuser, deren Blütezeit vor rund 250 Jahren begann. Doch nur ein Bruchteil von ihnen überstand die Wirren der Geschichte – viele sind unwiederbringlich verloren. Heute existieren nur noch mehrere Hundert – in Kurland sind es rund hundert. Die meisten davon sind in schlechtem Zustand und stehen seit Jahren leer.

Immerhin hat ein Umdenken eingesetzt: Für viele Letten gelten die Anwesen heute nicht mehr als Symbol der Unterdrückung durch Deutschbalten, sondern als Teil des zu bewahrenden historischen Kulturerbes ihres Landes, wie Ober-Schlossherr Grinbergs zufrieden feststellt. Noch suchen viele aber nach finanzkräftigen Käufern, die die aus mehreren Gebäuden, Parkanlagen und Gärten bestehenden Gutshöfe aus dem Dornröschenschlaf wecken. Mehr als zwanzig Liegenschaften stehen nach Angaben von Grinbergs gegenwärtig zum Verkauf. Das Interesse schwankt ebenso wie die Preise.

Doch der Erwerb einer solchen Immobilie birgt viele Herausforderungen: Neben dem fortgeschrittenen Verfall ist es oft die fehlende wirtschaftliche Nutzbarkeit, die dem Erhalt der denkmalgeschützten Bauten im Wege steht. Staatliche Fördergelder für die oft in mühevoller Eigenarbeit zu leistende Restaurierung gibt es kaum – nur vereinzelt gibt es Sonderprogramme oder Projektwettwerbe. Dafür aber existieren jede Menge Auflagen, um das kulturelle Erbe zu schützen und die historische Bausubstanz zu bewahren.

»Man muss ein solches Haus lieben, denn wirtschaftlich ist es ein Abenteuer«, erzählt Jahn in der ausgebauten Wohnküche mit Holzofen, bei Kaffee und selbst gemachtem Kuchen. Nach Abzug aller Personal- und Sachkosten bleibe kaum etwas übrig, ganz zu schweigen von den Kosten für den Unterhalt. »Man muss schon ein Enthusiast sein und ein wenig verrückt, um sich darauf einzulassen.« Bereut aber habe er den Kauf von Gut Kukschen in keiner Minute. »Ich genieße mein Leben hier.«

Alexander Welscher