Lettische Historikerinnen und Historiker diskutierten Anfang des Jahres 2018 über »Spuren und Wurzeln der Deutschbalten in Lettland«. Das Gespräch wurde in Heft 1/2018 von Domuzīme (»Gedankenstrich«), einer lettischen Zeitschrift für Literatur, Publizistik und Geschichte veröffentlicht. 100 Jahre nach Ausrufung der Republik Lettland kommt sowohl der Diskussion als auch der breiten Publikation ein besonders Gewicht zu. Eine Übersetzung für deutsche Leser schien deshalb angebracht.
Domuzīme, Heft 1/2018
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In der lettischen Zeitschrift Domuzīme (»Gedankenstrich«) für Literatur, Publizistik und Geschichte erschien in Heft 1 des Jahrgangs 2018 unter dem Titel Vācbaltieši –no vēstures izsvītrotie? (Deutschbalten – aus der Geschichte gestrichen?) eine Diskussion lettischer Historikerinnen und Historiker über »Spuren und Wurzeln der Deutschbalten in Lettland« (so in der Einleitung zur folgenden Wiedergabe im Internet 1).

Im Jahr 2018, 100 Jahre nach Ausrufung der Republik Lettland, kommt sowohl der Diskussion als auch der breiten Publikation ein besonders Gewicht zu. Eine Übersetzung für deutsche Leser schien deshalb angebracht.

Übersetzt aus dem Lettischen und mit Anmerkungen versehen von Manfred von Boetticher.

Erstveröffentlichung in den Mitteilungen aus baltischem Leben, Ausgabe 1, Mai 2018

Die deutschen Spuren in der Geschichte Lettlands erstrecken sich bis ins 12. Jahrhundert und brechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ab. Heute kann man über dieses historische Phänomen, die Deutschbalten, nur noch in der Vergangenheitsform sprechen. Wie bewerten wir die Rolle der Deutschbalten beim Werden der lettischen Nation und des lettischen Staates?

Später wurde der Artikel der Zeitschrift <i>Domuzīme</i> auch auf <i><a href="https://www.tvnet.lv/4521544/vacbaltiesi-no-vestures-izsvitrotie" target=_blank>tvnet.lv</a></i> veröffentlicht.

Auch wenn die Letten als Nation vor den Augen der Deutschbalten entstanden und sich entwickelten, waren diese der Ansicht, dass die Letten aufgrund mangelnder staatlicher Erfahrung nicht in der Lage sein würden, selbst ihren Staat aufzubauen. Im Herbst 1918 gab es auf dem Gebiet Lettlands eine nie dagewesene Konfrontation von Meinungen, politischen Ansichten und Ideen. Die Bodenreform von 1920 wiederum, mit der der junge lettische Staat den ehemals deutschen Gutsbesitz nationalisierte, die Entfremdung zwischen den früheren »Herren« und »Knechten« in der Zwischenkriegszeit, die feindselige Rhetorik des Jahres 1939, als die Deutschbalten Lettland verließen, ebenso die spätere Verneinung alles Deutschen durch die sowjetische Herrschaft und die erzwungene Isolierung vom westlichen Leben trennte die Letten von der speziellen Kultur ab, die Jahrhunderte in dem gemeinsamen Lebensraum geherrscht hatte.

Am Gespräch nahmen teil:

  • Inta Dišlere, Fachfrau am Museum von Tukums/Tuckum, Leiterin des Burgmuseums von Durbe/Durben
  • Pauls Daija, leitender Forscher der Letonika und des Baltischen Zentrums der Nationalbibliothek Lettlands
  • Vija Daukšte, Leiterin der Letonika und des Baltischen Zentrums der Nationalbibliothek Lettlands, Vorsitzende des Vorstands des Lettisch-Deutschbaltischen Zentrums Domus Rigensis
  • Raimonds Cerūzis, Ass. Prof. an der Fakultät für Geschichte und Philosophie der Universität Lettlands
  • Ilgvars Misāns, Professor an der Fakultät für Geschichte und Philosophie der Universität Lettlands
  • Eduards Liniņš, Kommentator von Radio Lettland

<font style='color: #3f3f3f;'>Die Karte, die Ende des 19. Jahrhunderts erschien, zeigt »das Deutschtum in den Ostsee-Provinzen Kurland, Livland und Ehstland«.</font><font style='color: #3f3f3f;'><small>Paul Langhans Deutscher Kolonialatlas, Gotha, Justus Perthes, abgeschlossen Juli 1897</small></font>

Eduards Liniņš: Welche Vorstellung hat man in der heutigen Gesellschaft Lettlands vom Begriff »deutschbaltisch«?

Vija Daukšte: Mich würde interessieren, was die Leute denken, wenn sie die vielen wiederhergestellten Herrenhäuser sehen, die Parkanlagen, die Ruinen der Ordens- und Ritterburgen, und ob sie die Dinge ihren Kindern zeigen. Ist ihnen der Gedanke gekommen, dass diese Häuser jemandem gehört haben? Dass diese Familien hier dauernd gewohnt haben, dass hier ihre Kinder aufwuchsen – dass sie mithin in keinerWeise Fremde waren?

Pauls Daija: Meiner Ansicht nach gibt es zwischen einer Dämonisierung der Deutschbalten und ihrer Idealisierung mindestens drei Varianten. Die erste steht in Verbindung mit einer negativen Haltung gegenüber den historischen Feinden, daneben ist aber auch ein positiver, sogar sentimentaler Blick auf die Deutschbalten als Kulturträgern in einer bestimmten Zeit zu erkennen. Konsequent weitergedacht, ist diese Vorstellung ebenso einseitig wie die erste. Und die dritte, wahrscheinlich die verbreiteteste Vorstellung, ist Gleichgültigkeit gegenüber einer fremden Welt, die uns offensichtlich nicht betrifft – den heutigen Menschen ist die Welt der Deutschbalten wahrhaftig das versunkene Atlantis.

Und jedes tiefere Gespräch darüber kann zu ganz neuen Entdeckungen führen. Bei den Forschungen zum Verhältnis zwischen Deutschen und Letten spricht man häufig wie über Beziehungen zwischen einer Elite und dem einfachen Volk. Dadurch geraten die unteren Schichten der baltischen Deutschen aus dem Blickfeld, die sogenannten Kleindeutschen, und nicht selten vergessen wir auch die Letten, die aus ihrer Schicht aufstiegen. Bereits im 18. Jahrhundert gibt es dafür viele Beispiele – erinnern wir uns an die Steinhauer 2 ebenso wie an die Letten, die am Entstehungsprozess der lettischen Literatur teilhatten.

Raimonds Cerūzis: Gerade hatte ich eine Antwort auf die Frage von Lesern einer anderen Zeitschrift vorzubereiten – welche Haltung hatten die deutschbaltischen Gutsbesitzer gegenüber dem Staat Lettland? So wie die Frage formuliert ist, verstehe ich, dass in der lettischen Gesellschaft die Vorstellung tief verwurzelt ist, dass der Begriff »Deutschbalten« ein Synonym des Begriffs »Gutsbesitzer« darstellt. Doch die Statistik vor der Umsiedlung der Deutschbalten 1939 zeigt, dass damals zu den Gutsbesitzern, zum Adel, nur gut 10% gerechnet werden können.

Eduards Liniņš: Zum Beispiel meine Großmutter, die Deutschbaltin Irma Beiere: In dem nach ihrer Rückkehr von der Evakuierung nach Russland ausgestellten Personalausweis stand als Tätigkeit »Arbeiterin«.

Raimonds Cerūzis: Wenig bekannt ist die Tatsache, dass es in der Republik Lettland der Zwischenkriegszeit eine breite deutsche Arbeiterschicht gab und dass eine sehr klassenbewusste und insgesamt antideutsch eingestellte Partei wie die LSDSP [Latvijas Sociāldemokrātiskā Strādnieku partija/Sozialdemokratische Arbeiterpartei Lettlands] eine eigene deutsche Sektion hatte. Im politischen Klima dieser Zeit gab es allerdings auch Leute, die über diese Fraktion sagten, dass in ihr keine Deutschen seien, sondern die mit den »bekannten Nasen« [Juden], doch entspricht das nur teilweise der Wahrheit.

Inta Dišlere: Bei meiner Arbeit mit diesen Themen im Museum habe ich mich davon überzeugt, dass in der Gesellschaft Stereotypen und Mythen vorherrschen. Es besteht keine Vorstellung von der tatsächlichen Vielfalt, in der es Arbeiter, Lohnempfänger und Knechte gab. Der Gemeindepastor von Tukums/Tuckum schrieb 1765 zwei Kirchenbücher – ein deutsches und ein nichtdeutsches, und im nichtdeutschen waren nicht nur, wie man denken könnte, Letten eingetragen – dort fanden sich auch Deutsche, Polen, sogar Russen der Unterschicht, denn in Tukums war es damals allein die lutherische Kirche, die die gesamte Registrierung der Geburten vornahm. Und diese »Kleindeutschen« wurden später häufig wirklich zu Letten, denn man konnte die Grenze seiner Schicht überschreiten. Andererseits galt für Gutsbesitzer und sogenannte Literaten (unter denen akademisch Gebildete verstanden wurden) das ungeschriebene Gesetz, dass man nur eine Tochter der eigenen Schicht als Frau nehmen durfte. In der Geschichte von Tukums gibt es den bekannten Fall, dass, als eine Tochter der Pastoren- und Literatenfamilie Tiling sich in einen jungen lettischen Mann vom Lande verliebt hatte, eine Ehe nicht möglich war.

Eduards Liniņš: Das ist heute für viele ein unbekannter Aspekt – dass die Zugehörigkeit zu den Deutschen in erster Linie keine ethnische, sondern eine soziale Angelegenheit war.

Raimonds Cerūzis: Es war eine recht alte gesellschaftliche Regel der baltischen Deutschen, dass der ethnische Unterschied nicht wesentlich war. Als deshalb am Ende des 19. Jahrhunderts im Russischen Reich die Politik der Russifizierung und Vereinheitlichung einsetzte, stellten die Deutschbalten die Konzeption auf, dass man die Einwohner der damaligen Territorien von Lettland und Estland in einer politischen Nation zusammenfassen könne, genannt »die Balten«. Uns sind heute die Schöpfer dieses Begriffs »Balten« zu Deutschbalten geworden. Diese geplante baltische Nation hätte als monolitische Einheit gegen die Russifizierungspolitik auftreten können, gegen den, wie man damals sagte, »Asiatismus«, um die kulturhistorische Identität des Baltikums zu bewahren.

Vija Daukšte: Diese Idee entstand bereits Mitte des 19. Jahrhunderts, einige Jahrzehnte vor der zielgerichteten Russifizierung. Den Deutschbalten erschien es natürlich sehr logisch, sich auf eine solche Identität der deutschen Kultur zu stützen, auf die von einem deutschen Kulturraum herrührenden Ideen des Humanismus.

Formulierungen einer eigenen Identität

<font style='color: #3f3f3f;'>Das Gebäude des Lettischen Parlaments (Saeima) wurde zwischen 1863 und 1867 als Sitz der livländischen Ritterschaft nach Plänen des Deutschbalten Robert Plug und des ersten akademische ausgebildeten lettischen Architekten Jānis Baumanis im Stil der Neorenaissance in Anlehnung an Florentiner Palazzi errichte.</font><font style='color: #3f3f3f;'><small>Foto: &#169; 2013 Deutsches Kulturforum östliches Europa &#149; C. Tutsch</small></font>

Ilgvars Misāns: Gegenwärtig sehen wir auf diesen Prozess von unserem ethnischen Standpunkt aus, doch betrachten wir die Ereignisse der Vergangenheit einmal aus der Perspektive der Deutschbalten! Das 19. Jahrhundert war ein Jahrhundert des Nationalismus, der Nationalismus berührte alle ethnischen Gemeinschaften, auch die Deutschbalten. Er brachte eine ethnische Konsolidierung, eine Abgrenzung vom »Fremden«. Die Deutschbalten betrachteten weder die Letten noch die Esten jemals als Fremde, aber als Andere. Gleichzeitig waren die Deutschbalten eine relativ kleine ethnische Gruppe innerhalb des Russischen Reichs, die eine deutliche Bedrohung ihrer Existenz spürte. Zudem wurden sie in Deutschland, wo damals der deutsche Nationalstaat entstanden war, von vielen nicht als Deutsche angesehen. Auf einer Konferenz hörte ich folgendes Beispiel: Ende des 19. Jahrhunderts fuhr ein Deutschbalte mit der Eisenbahn nach Berlin. In Königsberg stieg ein Reichdeutscher in sein Abteil, sie begannen sich zu unterhalten, nach einigen Stunden sagte der Reisegefährte: »Als Russe sprechen Sie sehr gut Deutsch.«

Eduards Liniņš: Was war tatsächlich die Identität der deutschbaltischen Gemeinschaft? Wenn wir mit den Kreuzzügen ins Baltikum beginnen, ist die damalige Herkunft der Krieger und Kaufleute keinesfalls mit dem Heiligen Römischen Reich in Verbindung zu bringen. Offensichtlich war das damalige Deutsche etwas anderes als die mittelniederdeutsche Sprache dieser Region.

Raimonds Cerūzis: Die deutschsprachige Gemeinschaft im Gebiet Lettlands ist sehr alt. Sie ergänzte sich ständig, und im deutschen Umfeld ist ein sehr großer Anteil der autochthonen baltischen Völker erkennbar, der noch in alten Zeiten darin aufging. Die Deutschbalten haben den Begriff »Uradel«, unter dem man den älteren Adel versteht, und dazu gehören manche Familien – die Lieven, die Ungern-Sternberg, die Patkul, die Rosen, die Tiesenhausen –, deren Herkunft alt ist und die mit den einheimischen Völkern des Baltikums in Verbindung stehen. Die Lieven und die Ungern-Sternberg bringen ihre Familiengeschichte mit dem livischen Führer Kaupo in Verbindung, der seine beiden Töchter mit Deutschen verheiratet habe – auch wenn diese nur bedingt als Deutsche zu bezeichnen sind, denn ein deutsches Volk gab es im 13. Jahrhundert noch nicht.

Ilgvars Misāns: Vollkommen richtig – ebenso wie wir im Hinblick auf [Alt-]Livland die Bezeichnung »Letten« vermeiden und versuchen, einen Begriff zu finden, der alle unterschiedlichen regionalen Stämme oder Kleinvölker jener Zeit umfasst, wäre es hier richtiger, von »Deutschen« in Anführungszeichen zu sprechen. Denn es gab noch keine gemeinsame Identität. Der Einzelne konnte seiner Herkunft nach Sachse sein, Rheinländer oder Westfale, aber das bedeutet nicht, dass die Einwanderer sich als Angehörige einer ethnischen Gemeinschaft betrachteten. Etwas anderes ist es, dass sie nach den bekannten sozialen Merkmalen einer entsprechenden gesellschaftlichen Gruppe angehörten.

Demnach ist der Begriff »Deutschbalten« unkonkret, doch in der Gesellschaft besteht die Tendenz, sie generell mit Deutschen zu identifizieren. Streng genommen, ist die Rede von einer bestimmten Gruppe auf dem Territorium Lettlands und Estlands, deren Muttersprache anfangs Mittelniederdeutsch war und sich später zur heutigen deutschen Sprache entwickelte und die zum Baltikum enge, von Generation zu Generation wachsende Bindungen hatte. Dies war ihre Heimat, eine andere hatten sie nicht.

Die Deutschbalten waren keine Diaspora der deutschen Nation, sondern eine eigene ethnische Gruppe mit eigener Geschichte, eigenen Traditionen, eigenem Selbstverständnis und eigenen Symbolen. Natürlich verband die Einwanderung diese Gruppe in erster Linie mit den deutschen Ländern, und unter den Einwanderern gab es auch Leute, die im Baltikum keine Wurzeln schlugen. Wenn wir versuchen Parallelen zu ziehen, ist es heute die Bezeichnung »Russen«, unter denen wir bisweilen sehr breit alle Russischsprachigen verstehen, auch wenn die Rede von mehreren Gruppen ist, deren Herkunft, historische Bindung zum Baltikum und gefühlte Zugehörigkeit in jedem konkreten Fall eine tiefere und differenziertere Analyse erfordern würde.

Inta Dišlere: Vergessen wir nicht den Aspekt der Einwanderung, der für die Deutschbalten eine beständige Verbindung mit Westeuropa sicherstellte. Da es im Baltikum ein entsprechendes Umfeld gab, wanderten hier, besonders in den weniger weit zurückliegenden Jahrhunderten, sehr viele Handwerker, Literaten, aber auch Leute aus niedrigeren Schichten aus Deutschland und anderswoher ein.

<font style='color: #3f3f3f;'>Das Schwarzhäupterhaus (Melngalvju nams) eines der bekanntesten Gebäude Rigas, wurde nach seiner Zerstörung während des Zweiten Weltkriegs in den 1990er Jahren rekonstruiert. Das ursprüngliche Gebäude war Sitz der Bruderschaft der Schwarzhäupter, einer mittelalterlichen Vereinigung unverheirateter, vermögender deutscher Kaufleute in Riga</font><font style='color: #3f3f3f;'><small>Foto: &#169; 2013 Deutsches Kulturforum östliches Europa &#149; C. Tutsch</small></font>

Einfluss auf die Letten

Eduards Liniņš: Welchen historischen Einfluss hatten die deutschbaltischen Eliten auf die Herausbildung der lettischen Nation?

Vija Daukšte: Mit fällt ein Beispiel ein. In den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts fand auf den Synoden und Landtagen eine Diskussion über die Volksschulpolitik und die Bildung der Bauern statt – ob auf Lettisch oder auf Deutsch gelehrt werden sollte, was und wie breit, und wem diese Bildung letztlich dienen sollte. Eine charakteristische Ansicht war folgende: »Mir ist es vollkommen gleich, welche Sprache der Bauer spricht, wenn er hinter dem Pflug hergeht, und ob er Cicero gelesen hat oder nicht.« Die Gleichgültigkeit gegenüber der Frage, wie der Bauer spricht und was er denkt, war die Voraussetzung für ein Denken, das es erlaubte, das Lettische zu bewahren. Und dann schrieb der livländische Schulrat Karl Christian Ulmann 3 an den livländischen Generalsuperintendenten Ferdinand Walter 4 : »Wir wollten Äpfel züchten, es wuchsen Pfirsiche.« Die Pfirsiche waren die Absolventen des Seminars von Cimze 5 – im Laufe einer Generation hatten sie sich vom »Spanfeuer« 6 zum »Frack« entwickelt. Auf deutschbaltischer Seite verhallte damals die verspätete Frage – werden wir vielleicht Balten sein?

Raimonds Cerūzis: Wir kommen hier zu der grundsätzlichen Frage nach der gesellschaftlichen Integration, die, wie wir sehen, im gesamten Gebiet des Baltikums sehr alt war.

Seit dem Augenblick, als die Letten sich als Gemeinschaft mit eigener nationaler Identität bewusst wurden, begannen sie, in ihrem eigenen Informationsraum zu leben. Ungefähr anderthalb Jahrhunderte existierten im Gebiet Lettlands relativ getrennte Informationsräume. Der eine wollte vom anderen nichts wissen, interessierte sich nicht für ihn und ignorierte ihn. Diejenigen, die sich im lettischen Umfeld der nationalen Idee bewusst wurden, lehnten automatisch alle deutschen Ideen ab, die deutsche politische Elite wiederum betrachtete die nationalen Ideen der Letten als vollkommen unbedeutend, als Kindereien, die keine Aufmerksamkeit verdienten. Die Letten besaßen keine eigenen politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Eliten, damit war nach deutschbaltischer Ansicht keinerlei Unterfangen der Letten ohne Deutschbalten vorstellbar.

Ilgvars Misāns: Ich möchte weiter ausholen: über die unterschiedlichen Kulturräume. Beide Gemeinschaften unterschieden sich wesentlich hinsichtlich ihrer Werte, ihrer kulturellen Prioritäten. Im Hinblick auf die Entstehung der Nationalstaaten war es wesentlich, dass die lettische und estnische Gesellschaft, für die sich der deutsche Teil der Gesellschaft nicht interessierte, in ihrer jeweiligen Entwicklung an Dynamik gewann. Diese Entwicklung war so eigenständig, dass es schon bald zu einer allgemeinen Konfrontation kam – es entstanden nationale Kunst und Literatur, ein nationales Theater mit augenscheinlich andersartigen Vorstellungen von kulturellen Werten und einer neuen Haltung gegenüber dem überkommenen Erbe. Als deutliches Beispiel kann man die Siebenhundertjahrfeier Rigas im Jahr 1901 nennen, als im Schützengarten (dem heutigen Kronvalda parks) ein grandioses, begehbares Modell der Altstadt aus dem 17. Jahrhundert errichtet wurde. Dies war eine Idee der damaligen Herren von Riga, der Deutschen, errichtet mit großer Liebe für ihre Stadt und deren historische Bauwerke. Die lettische Presse diskutierte, ob Letten dorthin überhaupt gehen sollten. Dagegen trafen sich Deutsche und Letten auf der parallel auf der Esplanade stattfindenden Ausstellung der technischen Errungenschaften, denn diese Ausstellung war unpolitisch.

<font style='color: #3f3f3f;'>Ruine der Residenz des Ordensmeisters, d.h. des Oberhaupts des livländischen Zweigs des Deutschen Ordens, in Cēsis/Wenden</font><font style='color: #3f3f3f;'><small>Foto: &#169; 2013 Deutsches Kulturforum östliches Europa &#149; C. Tutsch</small></font>

Eduards Liniņš: Ich würde gern in der Geschichte einen großen Schritt zurück machen – in die Zeit, als das Gebiet des damaligen Lettland zwischen mehreren regionalen Großmächten aufgeteilt war; als Livland zu Schweden gehörte, Lettgallen zu Polen-Litauen, und das Herzogtum Kurland selbstständig war und eine politisch eigene staatliche Einheit darstellte. Und genau mit dieser Zeit verbinden wir den Beginn der Entstehung der lettischen Literatursprache. Meiner Ansicht nach war die deutschbaltische Elite in diesen Jahrhunderten das entscheidende Element, das den durch staatliche Grenzen geteilten Raum [Alt-]Livlands zusammenhielt, und die Einheit dieses Kulturraums war eine der Voraussetzungen dafür, dass sich hier ein einheitliches lettisches Volk herausbildete.

Raimonds Cerūzis: Wenn wir über noch ältere Zeiten sprechen, können wir mit Bestimmtheit annehmen, dass, wenn es nicht die so genannten »Deutschen« gegeben hätte, die [Alt-] Livland in den Umrissen geschaffen haben, in denen auch heute die Staaten Lettland und Estland bestehen, hätten sich das lettische und wohl auch das estnische Volk nicht herausgebildet.

Pauls Daija: Die lettische Literatursprache ist nicht von selbst entstanden – sie hat sich zunächst innerhalb der lutherischen Kirche entwickelt. Die Richtung dieser Entwicklung steht in enger Verbindung mit der Reformation. Hier kann man von einem Bewusstsein der Elite um ihre Mission sprechen, vielleicht auch um eine koloniale Mission. Den Beginn der lettisch geschriebenen Kulturgeschichte, speziell der gedruckte Bücher, ebenso wie die Geschichte der lettischen Presse ist eng verbunden mit den Aktivitäten der lutherischen deutschen Pastore. Dies war die Philanthropie der sogenannten Aufklärung, die anfangs im Zusammenhang mit religiösen Ideen stand, aber dann schrittweise breitere aufklärerische Ziele aufnahm. Natürlich gab es neben der Mission der Elite auch Probleme, die sich auf die soziale Kontrolle bezogen. Einen Widerhall dieser Problematik können wir noch Ende der 20er und 30er Jahre in der Diskussion zwischen Ludvigs Adamovičs 7 und Heinrich Schaudinn 8 vernehmen. Adamovičs schrieb – ja, es ist wahr, dass die Deutschbalten die Grundlagen für Bildung und Kultur der Letten gelegt haben, aber die Letten verspürten dafür niemals besonderen Dank. Hier, sollte man meinen, fließen die politischen Verhältnisse des 20. Jahrhunderts mit dem Blick auf die Vergangenheit zusammen.

<font style='color: #3f3f3f;'>Gutshaus in Bīriņi, deutsch: Koltzen</font><font style='color: #3f3f3f;'><small>Foto: &#169; 2013 Deutsches Kulturforum östliches Europa &#149; C. Tutsch</small></font>

Eduards Liniņš: Seit wann radikalisierten sich die Verhältnisse zwischen Letten und Deutschbalten?

Raimonds Cerūzis: Die Deutschbalten selbst nennen gewöhnlich die Revolution des Jahres 1905, wenn sie vom Zusammenleben zwischen den unterschiedlichen sozialen Gruppen und Ethnien sprechen. In diesem Jahr sei die Ursache dafür zu suchen, dass die Verhältnisse zwischen Deutschen und Letten sich ganz wesentlich verschlechterten. »Die große Volksfamilie« – diese deutsche Tradition, nach deren Konzeption der Lette, der Deutsche und noch andere freundschaftlich zusammenlebten, löste sich nach 1905 auf.

Doch davor lag eine sehr lange Zeit mehr oder weniger erfolgreichen Zusammenlebens, und Exzesse sind nicht das Typische, das für dieses Zusammenleben charakteristisch ist.

Unstimmigkeit, Meinungsverschiedenheiten, gegenseitige Feindseligkeit und Intoleranz bestanden nur eine relativ kurze Zeitspanne. Diese begann nach deutscher Interpretation wohl mit der junglettischen Bewegung, setzte sich mit der »jungen Strömung« fort, kulminierte in der Revolution 1905 und fand ihren Abschluss in der Umsiedlung der Deutschbalten des Jahres 1939. Doch das ist eine ganz junge Vergangenheit. In der Mitte und auch noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts würden wir ein ganz anderes Bild gewinnen. Da konnten die deutschen Barone sich auch als gute Ratgeber und bei der Zusammenarbeit als gute Partner erweisen.

Eduards Liniņš: Wie in Blaumanis‘ Andriksons 9 , wo der Baron in keiner Weise ein entsetzlicher Blutsauger ist.

Raimonds Cerūzis: Natürlich gab es Ausnahmen – es gab auch Blutsauger.

Eduards Liniņš: Ist es nicht eine Folge der Schriften von Merkel (Garlieb Helwig Merkel [1769–1850], deutsch-baltischer Publizist und Schriftsteller – Anm. d. Red.), dass sich in unserer Vorstellung dieses Bild des Blutsaugers festgesetzt hat?

Raimonds Cerūzis: Auch Merkel hat dies vermittelt – besonders, wenn man bedenkt, dass sein Werk in lettischen Kreisen besondere Popularität gerade mit Beginn des nationalen Erwachens und der Entstehung einer nationalen Identität gewann. Die Deutschbalten selbst schenkten seinem Werk in keiner Weise größere Aufmerksamkeit.

Ilgvars Misāns: Hier kommen wir zu einem wesentlichen Aspekt: Seit Merkel und bis ins 21. Jahrhundert dominiert beim Festlegen der Prioritäten in den Geisteswissenschaften im Blick der Letten auf die Vergangenheit ein ethnisch-nationaler Standpunkt. Dafür gibt es jedes Recht, das ist unsere Tradition, und mit diesem Zugang gibt es eine umfangreiche Forschung, wird viel Wertvolles festgestellt. Aber ein solcher Zugang führt notwendigerweise dazu, die Fragen der Forschung ganz bewusst zu verengen.

Eine Alternative wäre es, in erster Linie aus sozialem Blickwinkel auf die Gruppen der Einwohner zu blicken, die viele Jahrhunderte im Gebiet von Lettland und Estland gelebt haben. Bei einem solchen Zugang sind die Deutschbalten die Elite, die in einer anderen Sprache redete als der übrige Teil der Bevölkerung. Das ist durchaus nicht einzigartig – in der Geschichte sprach die Elite an vielen Stellen Europas eine andere Sprache, am häufigsten Französisch. Aber eine Elite hat ihre historische Verantwortung. Wir können darüber diskutieren, wie und wie gut die Deutschbalten ihre Funktion als Elite erfüllten. Diese Frage hat eine genauere Untersuchung verdient, auch im Vergleich mit Ländern, in denen eine ähnliche Situation herrschte. Eine Elite kümmert sich nicht allein um sich selbst (das vergisst sie natürlich auch niemals), sondern um das Wohlergehen des gesamten Landes. Und wenn wir über die Elite des Baltikums sprechen, scheint es, dass sie im 19. Jahrhundert mit all ihren Aufgaben nicht optimal zurechtgekommen ist.

Eine Elite ist grundsätzlich ein konvervatives Element, sie reagiert in der Regel ungern auf neue Situationen, und die Deutschbalten ließen zu jener Zeit ganz offensichtlich Möglichkeiten für eine engere Zusammenarbeit mit Esten und Letten vorübergehen und erkannten nur ungenügend, dass sich die Zeiten geändert hatten.

Wir konstatierten vorhin, dass wir gewohnt sind, die Deutschbalten als Fremde anzusehen. Sie selbst sahen sich nicht als solche und betrachteten natürlich auch die Letten und Esten nicht als Fremde. Fremd waren ihnen diejenigen, zu denen konfessionelle Unterschiede bestanden – die Russen und zu einem großen Teil auch die Polen. Im 19. Jahrhundert, als die nationale Identität wichtiger wurde als die religiöse, zeigten sich die Deutschbalten nicht in der Lage, die Rolle zu erfüllen, die von einer Elite erwartet worden war.

Vija Daukšte: Ich möchte dennoch einwenden: Es gab Gebiete, auf denen sich diese Elite durchaus bemühte, entsprechend den Entwicklungstendenzen im Kontext sowohl des Russischen Reichs und als auch Europas ihre Mission zu erfüllen. Ich hatte meinerseits die Politik der deutschbaltischen Gutsbesitzer in Fragen der Volksschulen zu untersuchen, und ich kann behaupten, dass hier genau in der Verantwortung und im Verständnis dieser Elite im 19. Jahrhundert die Grundlagen für ein europäisches Bildungssystem gelegt wurden. Was Stolypin 10 1911 im Russischen Reich versuchte durchzuführen, war im Baltikum bereits mehrere Jahrzehnte vorher realisiert worden.

Im Zusammenhang damit stehen natürlich sehr viele komplizierte Fragen, darunter die nach der Mitte des 19. Jahrhunderts in liberalen deutschbaltischen Kreisen aufgekommenen Idee einer einheitlichen baltischen Identität, gestützt auf deutsche Kultur und Sprache. Also keine Letten, Esten, Deutsche, sondern Balten. Auf diese Idee kann man nicht antworten ohne tieferes Verständnis für die damaligen ökonomischen und sozialen Prozesse. Innerhalb des Russischen Reichs waren in den baltischen Gouvernements viel eher als anderswo die Grundlagen für einen Kleingrundbesitz gelegt worden, und es war sehr wichtig, nicht nur dessen wirtschaftliche Rolle und soziale Nische zu verstehen, sondern zu versuchen, auch eine ethnische Identität dieser bäuerlichen Mittelschicht zu schaffen: Was werden sie sein – Russen, Letten/Esten oder Deutsche?

Ilgvars Misāns: Ich habe gerade gesagt, dass die Elite nicht immer mit ihren Aufgaben zurechtgekommen ist, aber es gibt auch positive Beispiele – die Aufhebung der Leibeigenschaft, die eine Initiative der baltischen Gutsbesitzer darstellte und einen progressiven Schritt nicht nur innerhalb des Russischen Reichs bedeutete, sondern auch im gesamten Ostseeraum. In Mecklenburg wurde die Leibeigenschaft 1820 aufgehoben – später als in Estland, Kurland und Livland. Und dort gab es nicht jene ethnischen Probleme, mit denen wir diese Frage traditionellerweise im Baltikum verbinden – »deutsche Herren und lettische Leibeigene«.

Raimonds Cerūzis: Die Aufhebung der Leibeigenschaft hat zwei Seiten. Sie hatte sehr lange bestanden und die Menschen mit ihren Vorstellungen und ihrem Verhalten geprägt. Als sie durchgeführt wurde, war das Ergebnis nicht immer positiv. Für viele konnte sie zu einer Tragödie werden. Mein Vorfahr Jānis Cerūzis war 1826/1827 genötigt, seine neue Bauernwirtschaft an andere Bauern abzutreten. Seine gesamte investierte Arbeit ging verloren, der Ort ging verloren, an dem seine Kinder heranwuchsen. Es ist eine Frage, wie die Letten damals, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, diesen Prozess verstanden.

Vija Daukšte: Keine komplizierte Reform kann jemals alle gesellschaftlichen Gruppen mit einheitlicher Begeisterung erfassen. Wichtiger ist es doch, wie sehr dieser Schritt die volkswirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung insgesamt voranbrachte. Raimonds Cerūzis: Wir können nicht sagen, dass die Forderung nach Abschaffung der Leibeigenschaft damals von den lettischen Bauern ausging. Sie war eine Idee der Elite, der aufgeklärten Elite.

Ilgvars Misāns: Und zudem eine ökonomische Notwendigkeit. Es war eine Frage der Modernisierung, und die Elite nahm in dem Augenblick eine mutige und von der historischen Entwicklung her positiv zu sehende Rolle ein.

<font style='color: #3f3f3f;'>Schloss von Lielstraupes Pils, deutsch (Groß-)Roop</font><font style='color: #3f3f3f;'><small>Foto: &#169; 2013 Deutsches Kulturforum östliches Europa &#149; C. Tutsch</small></font>

Durch das Prisma des Kolonialismus

Pauls Daija: 1819 gab der baltische deutsche Pastor Christian Launitz ein Buch in lettischer Sprache heraus Von der [Bauern]befreiung und ihrer Einführung in Kurland 11 , dessen Thema zu der von Raimonds Cerūzis gestellten Frage passt. Zuallererst versuchte Launitz seine Leser zu beruhigen und zu überzeugen, dass mit der Abschaffung der Leibeigenschaft kein Chaos entstehen würde. Ebenfalls versuchte er, den ehemaligen Leibeigenen zu erklären, dass überall Leibeigenschaft herrsche. Um sie in einen breiteren Kontext zu stellen, griff er zur kolonialen Metapher, die zur Zeit der Aufklärung bei der Charakterisierung der Situation im Baltikum sehr verbreitet war, und legte dar, wie es den dunkelhäutigen Sklaven in der NeuenWelt ging.

Ilgvars Misāns: Ja, manche Autoren sehen mit kolonialhistorischer Perspektive auf das Baltikum. 10% der Einwohner, die eine andere Sprache sprechen und die Einheimischen zwingen, für sie zu arbeiten – das ist Kennzeichen einer Kolonie. Aus dieser Perspektive muss der Untergang des baltischen Deutschtums im 20. Jahrhundert im globalen Rahmen der Dekolonisierung gesehen werden. Dies zeigt nur, wie vielseitig der Blick auf die Vergangenheit sein kann. Aber wir haben uns auf einen Blick konzentriert, der uns das Bild unserer Geschichte ärmer macht, als sie in Wirklichkeit ist.

Eduards Liniņš:Wenn das Baltikum eine Kolonie war, wo befand sich dann die Metropole?

Raimonds Cerūzis: In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war bei den Deutschbalten die Ansicht verbreitet, das Baltikum sei »die älteste deutsche Kolonie«. Ja, man genierte sich nicht, es so zu bezeichnen, und gab dem natürlich auch etwas Positives, nicht mit der heutigen negativen Konnotation. Die Deutschbalten sahen in diesem Gebiet die führende Rolle ihrer Elite, auch wenn es Teil des Russischen Reichs war.

Vija Daukšte: Und erinnern wir uns daran, dass im ganzen 19. Jahrhundert die drei baltischen Gouvernements – Kurland, Livland und Estland – ihren eigenen Status hatten, die sogenannte baltische Autonomie, dass sie tatsächlich einen Staat im Staate darstellten, eine Republik der Gutsbesitzer eigener Art. Außer Fragen von Krieg und Außenpolitik entschieden alles Übrige die regionalen Landtage oder Landesversammlungen.

Raimonds Cerūzis: Auch in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, als diese Autonomie im Grunde bereits beseitigt war, waren die Deutschbalten nach wie vor sehr stolz auf ihren Sonderstatus im Russischen Reich, und die Statistik spricht dabei für sie. Bis direkt vor dem Weltkrieg spielten sie eine bemerkenswerte Rolle im russischen Militär, im Offizierscorps betrug der Anteil deutschbaltischer Herkunft fast 70%. Der Zarenhof war vollständig deutsch, angefangen mit Kaiserin Alexandra, einer Prinzessin von Hessen-Darmstadt, bis hin zu Zar Nikolaus II. selbst – sie waren Deutsche entweder nach Herkunft oder nach Erziehung.

Während des Ersten Weltkriegs war der Innenminister Russlands, der russisch gewordene Deutsche Stürmer 12 , zwar genötigt, antideutsche Aktionen durchzuführen, um seine Herkunft kleiner zu machen, aber für damalige Verhältnisse herrschte ein unnormal großer deutscher Einfluss in Russland. Die Diplomatie des Russischen Reichs an der Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts – wie viele Deutschbalten gab es da! Auch hier dominierten sie. Hier liegt ein Grund für die deutschbaltischen Ambitionen.

Das Dilemma der Staatlichkeit Lettlands

Raimonds Cerūzis: Die von den Deutschbalten angesammelte Erfahrung im Staatswesen und in den internationalen Beziehungen war gewaltig, und es ist natürlich schade, dass man, historisch gesehen, dies bei der Schaffung der Staaten Lettland und Estland nur sehr wenig nutzen konnte.

Bei den Deutschbalten gewann die Idee von Staatlichkeiten des Baltikums keine Unterstützung. In der damaligen Gesellschaft war das Verständnis für die Notwendigkeit eines solchen Dialogs zwischen den Ethnien nicht reif, der es erlaubt hätte, sich über eine gemeinsame Plattform von Staatlichkeit zu einigen, auch wenn sich die Idee der Deutschbalten von einem Baltischen Staat und die Ideen der Letten und Esten von ihrer nationalen Staatlichkeiten nicht besonders unterschieden. Wesentliche Scheidelinie war die Frage der Mehrheitsdemokratie – die Letten waren natürlich dafür, für die Deutschen als einer Minderheit bedeutete dies die Verdrängung von der Macht.

Eduards Liniņš: Man könnte meinen, die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts waren die allerungünstigste Zeit für jeden Dialog zwischen den Ethnien. Es war eine Periode gegenseitigen Unrechts und gegenseitiger Verletzungen, nicht nur im Baltikum. Die Deutschbalten nennen das Jahr 1905 (und wohl auch das Jahr 1919 und die Bodenreform), die Letten haben ihre eigene Bilanz: die Schlacht bei Cēsis/Wenden zum Teil auch der Angriff von Bermondt. 13

Inta Dišlere: Da gibt es noch einen großen Mythos, der genau untersucht werden müsste. Wir sehen nach wie vor als wesentliches Ereignis im Unabhängigkeitskrieg Lettlands den Sieg über Bermondt an und sprechen sehr viel leiser über den sehr viel längeren Freiheitskampf gegen die Bolschewiki.

Auch in der Sammlung des Museums von Tukums gibt es sehr viele Dokumente, die es erlauben, diese Ereignisse ganz anders zu sehen. Zudem arbeite ich bereits mehrere Jahre mit Akten, die im Historischen Staatsarchiv liegen – 61 zur Baltischen Landeswehr und 503 zu dem am 10. März 1920 gebildeten 13. Tuckumer Infanterie-Regiment, auf dessen Grundlage nach den Ereignissen von Cēsis die deutsche Landeswehr Lettlands in den Bestand der Lettischen Armee eingegliedert wurde; zudem kamen viele Deutsche in das 8. Dünaburger Infanterie-Regiment und in andere.

Manche der Akten hat vor mir noch niemand gesehen, andere wurden von einigen Forschern wenigstens angefasst. Mindestens 70 dieser »Feinde Lettlands« haben den Bärentöter-Kriegsorden erhalten. Die Rolle der Deutschbalten auch bei diesen Ereignissen muss noch erheblich erforscht und geklärt werden. 14 Wäre ohne ihren Beitrag an der Befreiung Kurlands, Rigas und Lettgallens von den Bolschewiki die Existenz eines unabhängigen Lettlands vielleicht weniger möglich gewesen?

Raimonds Cerūzis: Am Ende des Ersten Weltkriegs, als vor dem Hintergrund der zusammengebrochenen Reiche für die baltischen Völker die Möglichkeit entstand, eine eigene Staatlichkeit zu schaffen, erörterten die Deutschen eine Erneuerung historischer Formen von Staatlichkeit – zunächst die des Herzogtums Kurland, später, im September 1918, auch Livlands. An den letzten Tagen des Ersten Weltkriegs wurde unter Führung Adolf Pilar von Pilchau-Audern 15 im damaligen Saeima-Gebäude die Schaffung eines Baltischen Staates ausgerufen. Als Oberhaupt war geplant, den Herzog von Mecklenburg einzuladen. Den Deutschen schien es, dass die Idee eines Staates Livland breite gesellschaftliche Zustimmung finden würde und dass dem auch die Letten zustimmen könnten.

Hier müssen wir die Geschlossenheit der damaligen Informationsräume ansprechen, wodurch die Deutschen nicht verstehen konnten, was die Letten »in ihrer Küche kochten« – wie sehr das staatliche Denken der Letten bereits ausgereift war. Die Elite der Deutschen hielt die Möglichkeit für unrealistisch, für vollkommen unrealistisch, dass die Letten einen Staat schaffen könnten. Die Frage ist natürlich, wie realistisch dies damals den Letten selbst erschien.

Eduards Liniņš: Das Bewusstsein reifte in unglaublich kurzer Zeit – im Verlauf weniger Monate.

Raimonds Cerūzis: Aber im Verständnis der Deutschen war es noch lange vollkommen unrealistisch, und dafür hatten sie ihre Argumente. Erstens würden die Letten den Staat zerstören, denn sie seien sehr links, bolschewistisch eingestellt und würden gegen jede Grundlage einer normalen Staatswerdung auftreten – gegen wirtschaftliche Initiative, normale Produktion, Privateigentum. Zweitens hätten sie keinerlei Erfahrung in der Staatsführung und auf diplomatischem Gebiet, und eine solche Staatlichkeit werde niemals internationale Anerkennung gewinnen. Ich denke, dass 1939 viele der ausreisenden Deutschbalten den Gedanken mitnahmen, dass die Letten in diesem Sinn auch nicht verstanden hatten, einen Staat zu schaffen, in dem man sich sicher fühlen konnte. Die Umsiedlung 1939 war in keiner Weise ein Protest gegen den Staat Lettland. Die Ereignisse der 20er und 30er Jahre zeigten, dass sich die Deutschbalten mit ihrer Situation zufrieden gegeben hatten, dass man den Staat Lettland als Realität annahm. Es hätte noch 20 Jahre friedlicher Entwicklung gebraucht, um ein einheitliches lettisches Volk zu bilden, dessen einer Teil deutschbaltischer Abstammung gewesen wäre.

<font style='color: #3f3f3f;'>Grabplatte in der Kirche von Lielstraupe</font><font style='color: #3f3f3f;'><small>Foto: &#169; 2013 Deutsches Kulturforum östliches Europa &#149; C. Tutsch</small></font>

Eduards Liniņš: Die Rolle der Deutschbalten kann man im weiteren europäischen Kontext sehen, wo wir, wenn wir auch an das Werden unserer Staatlichkeit denken, die Entstehung der kleinen Staaten an den Nahtstellen der Machtsphären der großen Nationen erkennen. Auch die baltischen Staaten sind ein solches Produkt an der Nahtstelle von Großmächten, wo die Anwesenheit der Deutschbalten einen der notwendigen Machtvektoren darstellte. Dieser zog das Land nach Westen und stand seiner Ausrichtung auf das orthodoxe Russland und das katholische, zentraleuropäische Polen entgegen.

Ilgvars Misāns: Ich würde die Rolle der Deutschbalten nicht so sehr beim Schaffen der Grundlagen von Staatlichkeit sehen, sondern vielmehr darin, dass ihre Anwesenheit hier eine historische Region geschaffen hatte – eine andere als die Nachbarregionen. Dies war ein Raum, in dem man unter anderem Deutsch redete, der aber bestimmt nicht Deutschland war. Belgien, die Niederlande, Ungarn und andere, die wir heute als Staaten sehen, sind zunächst als historische Räume oder durch den Zusammenschluss mehrerer Regionen in einem Staat entstanden, in dem der Aspekt der Staatlichkeit als Produkt neuerer Zeiten hinzukam.

Die Rolle der Deutschen war die, dass in unserem Land ein anderes Verständnis als zum Beispiel in Russland von Recht und von Gesetzen entstanden war, das die Gesellschaft ganz erheblich beeinflusste. Zum Beispiel, dass in diesem Raum das Gesetz das Privateigentum schützt. Mit den Städten westeuropäischen Typus, den Hansestädten, war hier der Begriff des Bürgertums entstanden. Es waren korporative Vereinigungen entstanden – Gilden, Zünfte.

Raimonds Cerūzis: Wenn wir zur Eingangsfrage zurückkehren, zu den in der heutigen Gesellschaft herrschenden Vorstellungen, muss man sagen – dass man in unserer Kultur seinem Ursprung nach sehr viel Deutschbaltisches findet, das wir als solches nicht erkennen. Ich habe sehr oft Deutschbalten gefragt, was sie nach ihrem Verständnis ausmacht, was für sie charakteristisch ist. Sie selbst sagen dann gewöhnlich: die Familienbezogenheit. Das stimmt ganz mit unserem Prinzip des Einzelhofwesens überein – wir wollen zunächst einmal an unsere nächsten Angehörigen denken, wir sind nicht besonders auf den Kommentar von Fremden ausgerichtet, auf fremde Ehrungen, auf fremde Äußerungen. Genau das sagen die Deutschbalten über sich. Die täglichen Sitten – wie viele Speisen, die wir der lettischen Küche zurechnen, sind deutschen Ursprungs! Gefüllte Pfannkuchen mit Fleisch – »Komm morgen wieder«! (weil das am nächsten Tag genauso gut schmeckt), in Ei angebratenes Weißbrot – »armer Ritter« (denn auch für Ritter gab es einmal Notzeiten), »Rosa Manna«, »Schwimmende Inseln«, Speckpiroggen, Krausgebäck usw.

Einmal versuchten wir mit Studenten, die kulinarische Tradition in Estland und Lettland zu untersuchen, und es kam heraus, dass vielleicht nur rupjmaizes kārtojums 16 und Graue Erbsen wirklich lettisch sind. Solche gegenseitigen Einflüsse zwischen Letten und Deutschbalten haben die lettischen Historiker und Kulturwissenschaftler leider nicht besonders aktiv untersucht.

Fußnoten

1 Unter TV*NET vom 23. März 2018 im Internet | zurück

2 Šteinhaueri, lettische Familie, die es bereits im 18. Jahrhundert zu einem Vermögen brachte. | zurück

3 Karl Christian Ulmann (1793–1871), Schulrat, Inspekteur des Lehrerseminars bei Walk (Valka) | zurück

4 Ferdinand Walter (1801–1869) | zurück

5 Jānis Cimze/Johann Zimse (1814–1881), Direktor des Lehrerseminars in Valmiera/Womar, Valka/Walk | zurück

6 Altertümliche Beleuchtung im Bauernhaus | zurück

7 Ludvigs Adamovičs (1884-1943), lutherischer Pastor, Bildungsminister der Republik Lettland | zurück

8 Heinrich Schaudinn: Deutsche Bildungsarbeit am lettischen Volk des achtzehnten Jahrhunderts, München 1937 | zurück

9 Rūdolfs Blaumanis: Andriksons [Novelle], Riga ca. 1920 | zurück

10 P. A. Stolypin (1862-1911), russischer Staatsmann, 1906 bis 1911 Premierminister | zurück

11 Christian Friedrich Schmidt v. der Launitz (1773–1832): No brīvestības un viņas iecelšanas Kurzemē | zurück

12 Boris Vladimirovič Štirmer (Stürmer) (1848–1917) | zurück

13 Pavel Bermondt-Avalov (1877–1974) | zurück

14 Vgl. entsprechend z. B. noch die Geschichte Lettlands. 20. Jahrhundert von Daina Bleiere u. a. (Riga 2008): »Nachdem im Juni 1919 der Versuch der Landeswehr und der Eisernen Division, den neu entstehenden Staat zu zerstören, –leider nur zum Teil –unterbunden wurde und daraufhin die prodeutsch und prorussisch orientierte Marionettenregierung von Niedra das politische Feld räumte, [… ].«(S. 143) | zurück

15 Adolf Baron Pilar von Pilchau (1851–1925) | zurück

16 Dessert aus Roggenbrot und Creme | zurück

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