Von der historischen Region an der Ostsee führte einst die »Bernsteinstraße« bis zur Adria
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Ordensburg Cēsis/Wenden. Foto: wikimedia.org, Zairon

Flachland an der Ostsee

Die historische Region Alt-Livland umfasste das Gebiet der heutigen Staaten Estlands und Lettlands im Baltikum. Südlich des Finnischen Meerbusens verlief die östliche Grenze entlang der Narwa und des Peipussees bis zur Düna. Im Westen reichte Alt-Livland bis an die Rigaer Bucht und schloss die kurische Halbinsel mit ein. Der Name »Livland« geht auf die früheren Bewohner entlang der Rigaer Bucht, die Liven, zurück. In ihrer Sprache bedeutet liiw Sand.

Späte Christianisierung und deutschbaltischer Adel

Die im Norden und Nordwesten lebenden finnischen Stämme und die baltischen im Süden und Südosten des Baltikums gehörten bis zu Beginn des 13. Jahrhunderts zu den letzten Heiden in Europa. Nach gescheiterten Missionsbestrebungen von Deutschen und Dänen im ausgehenden 12. Jahrhundert, eroberte seit Beginn des 13. Jahrhunderts der Schwertbrüderorden das spätere Alt-Livland. Nach der schweren Niederlage 1236 gegen die Litauer gingen die Reste des Ordens bereits 1237  im Deutschen Orden auf. Mit den Ordensrittern kamen Adelige hauptsächlich aus Westfalen und Norddeutschand sowie deutsche und skandinavische Kaufleute in die Region, die auf dem Land und in den Städten die Oberschicht bildeten. Der nördliche Teil Estlands wurde von Dänemark erobert, aber 1346 an den Orden verkauft.

Alt-Livland bestand aus den Landesteilen Estland (der nördliche Teil des heutigen Staates Estland), Livland (der Süden des heutigen Estland sowie das Territorium der lettischen Region Vidzeme), Kurland (mit Semgallen) und der Insel Ösel. In jedem Teil bildete sich eine eigene Ritterschaft heraus. In den folgenden Jahrhunderten entwickelte sich der deutsche gutsbesitzende Adel zur politisch bestimmenden Oberschicht, von der die einheimische estnische und lettische Bevölkerung zunehmend abhängig wurde. Als Mitte des 16. Jahrhunderts russische Truppen unter Ivan IV. dem Schrecklichen in das Land einfielen, unterstellten sich die kurländische und Teile der livländischen  Ritterschaft  der polnisch-litauischen Herrschaft. Aus diesem Gebiet gingen 1561 das Herzogtum Kurland sowie das polnische Livland hervor, dessen nordwestlicher Teil schon bald an Schweden fiel. Der Nordwesten von Livland und Estland unterstellten sich Schweden bzw. Dänemark. Die Ritterschaft Ösels gehörte zunächst der dänischen, später ebenfalls der schwedischen Krone an. Im 17. Jahrhundert eroberte Schweden große Teile Altlivlands außer Kurland. Der deutschen Oberschicht gelang es unter allen Oberherrschaften ihre Rechte und Privilegien zu wahren. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts eroberten russische Truppen unter Peter I. Estland, Ösel und Livland. Während die deutsche Oberschicht in dieser Zeit ihre größten Freiheiten genoss, ging es der estnischen und lettischen Unterschicht immer schlechter. Dies begünstigte im 19. Jahrhundert letztendlich die Entstehung estnischer und lettischer Nationalbewegungen.

Nach dem Ersten Weltkrieg entstanden die souveränen Nationalstaaten Estland und Lettland. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden beide Staaten infolge des Hitler-Stalin-Pakts von der Sowjetunion besetzt und die 80.000 Deutschbalten zunächst in das Wartheland sowie nach Danzig-Westpreußen umgesiedelt. Von dort flohen sie nach 1945 nach Westen oder wurden vertrieben. Die deutsche Besetzung von 1941 bis 1944 war von Deportationen und Ermordung der jüdischen Bevölkerung bestimmt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Estland und Lettland zu sozialistischen Sowjetrepubliken und bis in die 1980er-Jahre von der Russifizierung geprägt. Seit 1991 sind Estland und Lettland unabhängige Staaten und seit 2004 Mitglieder der Europäischen Union.

Der bedeutendste Ostseehafen des Russischen Reichs

Traditionell war die Region landwirtschaftlich geprägt und bot in den größeren Städten Handelszentren und Warenumschlagsplätze. Eines der bekanntesten Güter dürfte der Bernstein sein. Mit der Industrialisierung wurden auch Eisenbahnlinien eröffnet, die den wirtschaftlichen Aufschwung begünstigten. Die eisfreien Ostseehäfen waren für das Russische Reich von großer Bedeutung und Rigas Hafen entwickelte sich zum größten des Zarenreichs. Nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde jedoch ein großer Teil der Industrie nach Russland verlegt.

Reminiszensen des Mittelalters – Zentrum des Jugendstils

1997 wurden die historische Altstadt Tallinns sowie die Altstadt und das Jugendstilensemble des Stadtteils Neustadt in Riga in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen. Die Mauern und Türme der Tallinner Altstadt vermitteln eine Vorstellung von deutschen Hansestädten des 13. Jahrhunderts. Etwa ein Drittel der Gebäude der Rigaer Neustadts weist Merkmale der verschiedenen Spielarten des Jugendstils auf. Damit zählt Riga zurecht zu den Hauptstädten des Jugendstils. Am bekanntesten ist wohl die nördliche Zeile der »Albertstraße«.

Deutsch-baltischer Austausch heute

Seit 1950 sind die Deutschbalten aus Estland und Lettland in der Deutsch-Baltischen Gesellschaft e. V. organisiert. Sie unterstützt Projekte, die sich beispielsweise um den kirchlichen Dienst, den Jugend- und Studentenring oder Baudenkmäler kümmern und wird dabei von der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien gefördert. Um die Beziehungen zwischen Estland und Deutschland zu fördern, wurden Anfang der 1990er-Jahre die Deutsch-Estnische Gesellschaft e. V. in Karlsruhe und 1999 die Deutsch-Estnische Gesellschaft Berlin e. V. ins Leben gerufe.n Der Verein Domus Rigensis wurde 1992 auf lettische Initiative hin von Deutschbalten und Letten in Riga gegründet.

Literatur

Fülberth, Andreas: Lettland und seine Hauptstadt Riga. Bremen 2007

Plath, Ulrike: Esten und Deutsche in den baltischen Provinzen Russlands. Wiesbaden 2011

Baltische Länder, hrsg. Gert von Pistohlkorps, aus: Deutsche Geschichte im Osten Europas. Berlin 1994

Tuchtenhagen, Ralph: Geschichte der baltischen Länder. München 2005

Links

Ausstellung: Adeliges Leben im Baltikum. Herrenhäuser in Estland und Lettland, seit 18. Mai 2019

Deutsch-Baltische Gesellschaft e. V.

Deutsch-Estnische Gesellschaft e. V. in Karlsruhe

Deutsch-Estnische Gesellschaft Berlin e. V.

Baltische Historische Kommission, Göttingen

Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung, Marburg

Nordost-Institut – Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen in Nordosteuropa, Lüneburg