»Der echte Berliner kommt aus Breslau«, hieß es vor gut hundert Jahren scherzhaft im Volksmund. Trotz aller Zerwürfnisse der deutschen und europäischen Geschichte lässt sich in Anlehnung an diese alte Wendung heute fast sagen: »Der echte Spielfilm über Berlin kommt aus Wrocław.« Denn Filme zur Berliner und deutschen Zeitgeschichte, die in den letzten Jahren in Schlesien gedreht wurden, sind Legion. Unter ihnen finden sich Publikumserfolge und bestes Starkino wie Aimée & Jaguar, Die Luftbrücke und Anonyma – aber auch kleinere Produktionen und Fernsehspiele wie Der 17. juni und Die Mauer. Nach den Erinnerungen des Berliner Schauspielers Michael Degen entstand hier Jo Baiers Nicht alle waren Mörder, und über die Jugendjahre des deutsch-polnischen »Literaturpapstes« Marcel Reich-Ranicki drehte in Breslau erst kürzlich der israelische Regisseur Dror Zahavi Mein Leben. In sämtlichen Produktionen spielt die Stadt an der Oder aber nicht sich selbst, sondern gibt sich als Berlin aus. Offensichtlich bietet sie eine »authentischere« Kulisse für die deutschsprachigen Erzählungen über den Zweiten Weltkrieg als Städte in Deutschland selbst. Lediglich in Mein Leben stellen Breslauer Straßenzüge das Warschauer Ghetto von Anfang der vierziger Jahre dar.
Produktionskosten und »Patina«
Breslau erfreut sich bei Regisseuren, die sich mit Themen der jüngeren Geschichte beschäftigen, großen Zuspruchs, und wer hier einmal gearbeitet hat, kehrt offensichtlich nach einer gewissen Zeit zurück. So drehte Max Färberböck 1998 und 2008 mehrere Szenen für je einen Film hier, Dror Zahavi tat dies 2005 und 2008. Der Erfolgsproduzent Nico Hofmann ließ 2005 und 2006 Aufnahmen für Filme in Breslau machen, und sowohl Juliane Köhler als auch Heino Ferch spielten schon mehrmals hier. Ein Grund für die Beliebtheit der Stadt sind die vergleichsweise geringen Produktionskosten, die im heutigen Polen anfallen. Die Tagessätze für Statisten und Darsteller von Nebenrollen, die Honorare für lokale Techniker und Requisiteure, die Kosten für notwendige Umbauten sowie die Gebühren für die Sperrung von Straßen und die Umleitung des Autoverkehrs sind bedeutend niedriger als in vergleichbaren Städten Deutschlands oder des westlichen Auslands.
Ins Gewicht fällt aber nicht zuletzt, dass Breslau an vielen Stellen ein ähnliches Erscheinungsbild aufweist wie Berlin und die Stadt für Filmemacher die richtige »Patina« hat. Hier bedarf es vergleichsweise weniger Handgriffe, um aus bewohnten Straßenzügen im Polen zur Wende des 21. Jahrhunderts das Berlin von vor über 60 Jahren »auferstehen« zu lassen. Im Grunde müssen nur die Autos aus dem Straßenbild entfernt und die polnischsprachigen Schilder, die modernen Gegensprechanlagen an den Hauseingängen sowie die unzähligen Satellitenschüsseln an den Gebäudefassaden überdeckt bzw. abmontiert werden. Dahinter kommt das Breslau zum Vorschein, das von den gleichen Architekten erbaut wurde wie die deutsche Hauptstadt. Denn genauso wie Berlin erlebte die Odermetropole gerade in den ersten Jahrzehnten nach der Errichtung des deutschen Kaiserreichs 1871 eine Blüte, von der sie bis heute geprägt ist. Die später so genannten »Gründerjahre« des Wilhelminischen Deutschland haben in Berlin wie in Breslau nachdrückliche Spuren hinterlassen.
Während Berlin sich seit dem Fall der Mauer 1989 allerdings rasant verändert und als »neue« deutsche Hauptstadt ein weiteres Mal ihrem Ruf gerecht wird, »immerfort zu werden und nie zu sein«, scheint, zumindest oberflächlich gesehen, in manchen Vierteln Breslaus seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Zeit stehen geblieben zu sein. »Vorzeigeobjekt Nr. 1« und die unter Filmenthusiasten wohl berühmteste Wohnstraße der Stadt ist die ul. Miernicza (Lützowstraße) südöstlich der historischen Altstadt und unweit des Hauptbahnhofs. Bekannt ist die Straße allerdings nicht unter ihrem heutigen Namen, der so viel wie »Straße der Landvermesser« bedeutet, sondern durch ihre Optik und »morbide« Atmosphäre: durch das holprige Kopfsteinpflaster, die bröckelnden Hausfassaden und rostzerfressenen Balkonbrüstungen.
Eine etwas bescheidenere Rolle in der zweiten Liga spielen die ul. Włodkowica (Wallstraße), die ul. Szajnochy (Roßmarkt) und die ul. Ptasia (Große Dreilindengasse). Hier stattfindende Filmarbeiten mit Schauspielern wie Maria Schrader und Juliane Köhler, Nina Hoss, Heino Ferch oder Matthias Schweighöfer kommentiert die lokale Presse in Breslau immer wieder mit ambivalenten Schlagzeilen wie »In der ul. Miernicza ist wieder 1945« oder »Breslau unter dem Beschuss deutscher Kameras«. Es ist nicht Stolz über die Prominenz der ruinösen Bausubstanz ganzer Straßenzüge, der hier zum Ausdruck kommt. Die Ausländer drehten mit Vorliebe in den »schlechten« Stadtteilen Breslaus, wo es so aussieht wie in »ihren schönen europäischen Städten«, bevor diese im Krieg zerstört wurden, beklagte der Journalist Mariusz Urbanek im Juni 2007: »In den Filmen sieht man nicht die nach Urin stinkenden Durchgänge, die Gemeinschaftstoiletten auf den Zwischenetagen, die kaputten Treppen und wackeligen Geländer.« Die Renovierung der maroden Mietshäuser würde Unmengen verschlingen, Geld, das die Stadt Breslau als Eigentümerin der Gebäude zur Zeit nicht hat.
Wilhelminischer Bauboom
Die deutsche Reichshauptstadt Berlin entwickelte sich um die vorletzte Jahrhundertwende sprunghaft. Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts war sie vor dem Ruhrgebiet das größte Wirtschaftszentrum des Deutschen Reiches. Die Lage der unteren Bevölkerungsschichten aber war bedrückend. Steigende Wohnungsnot ließ Berlin die »größte Mietskasernenstadt der Welt« werden. In unzähligen Gewerbehofkomplexen mit mehreren Hinterhöfen, die später als »Kreuzberger Mischung« bekannt wurden, lebten und arbeiteten Hunderte von Menschen auf engstem Raum. Hier gab es kleine Fabriken, Werkstätten, Büros, Läden, Kneipen und zig Klein- und Kleinst-Wohnungen, in denen Mütter das Mittagessen kochten, die Fenster putzten oder Wäsche wuschen, während die Kinder daneben ihre Schulaufgaben erledigten und die Väter in den Höfen ihrer Arbeit nachgingen.
In weiten Teilen Breslaus, das bis in die Jahre der Zwischenkriegszeit zur siebtgrößten Stadt des Deutschen Reiches heranwuchs, gestaltete sich das tägliche Leben nicht viel anders. Ende des neunzehnten Jahrhunderts zählte die Stadt etwa 450.000 Einwohner. Hier gab es zahlreiche Eisengießereien, Schlossereien, Maschinenfabriken und Betriebe der Textilbranche. Außerdem hatten sich Banken, Aktiengesellschaften und Wirtschaftsvereinigungen angesiedelt. Bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs prosperierte die Odermetropole und entwickelte sich zu einer pulsierenden Großstadt. Die rapide Industrialisierung und mehrere Eingemeindungen von Dörfern in der Umgebung begünstigten diesen Prozess. Die dynamische Entwicklung erforderte neue verkehrstechnische Lösungen, aber auch weitläufige Parkanlagen und Grünflächen. So lautete denn auch das Credo des damaligen Breslauer Oberbürgermeisters Georg Bender (1848–1924), die Stadt »schön und gesund« zu gestalten.
Und in vieler Hinsicht glückte der Stadtumbau. Von 1883 bis 1886 wurde am Lessingplatz das Gebäude der Provinzialregierung (heute Muzeum Narodowe am plac Powstańców Warszawy) im Stil der norddeutschen Neorenaissance errichtet, 1891 folgte das Gebäude der Stadtbibliothek am Roßmarkt (heute Biblioteka Uniwersytecka) im gleichen Stil. Charakteristisch sind für beide Bauten die unverputzten Fassaden aus rotem Ziegelstein. Der Bau der Universitätskliniken auf dem Gelände des Maxgartens wurde 1890 begonnen. 1892 eröffnete das noble Hotel Monopol an der Schweidnitzer Straße (ul. Świdnicka), fünf Jahre später erfolgte der erste Spatenstich zum Bau des städtischen Hafens, und 1910 wurde mit der Kaiserbrücke (Most Grunwaldzki) die erste Hängebrücke Deutschlands ihres Ausmaßes für den Verkehr freigegeben. Ganz zu schweigen von der monumentalen Jahrhunderthalle Max Bergs, die 1913 eröffnet wurde und deren Eisenbetonkuppel damals das größte freitragende Bauwerk der Welt war.
So machte sich bis zum Ausbruch des ersten Weltkriegs eine rege Bautätigkeit in der Stadt bemerkbar. Während auch einige historisch wertvolle Gebäude im Zentrum Breslaus der Modernisierung zum Opfer fielen, schossen in den weniger betuchten Vorstadtvierteln anspruchslose Mietskasernen in den Himmel, die ihren Eigentümern hohe Einkommen sicherten. Hier herrschte eine noch drangvollere Enge als in den berüchtigten Berliner Armenvierteln, und natürlich wohnten die Hauseigentümer selbst eher in luxuriösen Villenvororten wie Kleinburg (Borek) und Leerbeutel (Zalesie) als in der Ohlauer Vorstadt (Przedmieście Oławskie).
»Hüte dich vor diesen Orten«
Nach dem ersten Weltkrieg war die wirtschaftliche Situation Breslaus schwierig. Unter den vergleichbaren deutschen Großstädten bildete Breslau in ökonomischer wie sozialer Hinsicht das Schlusslicht. Die Stadt wies mit 380 Einwohnern pro Hektar bebauten Gebietes die größte Bevölkerungsdichte Deutschlands auf. 67 % aller Wohnungen hatten lediglich ein bis zwei Räume, es gab 3.000 Kellerwohnungen. Das Pro-Kopf-Einkommen war nur halb so groß wie das in Frankfurt am Main, und auf 1.000 Einwohner fanden sich 68 Familien, die von der Wohlfahrt abhängig waren. Das waren drei mal so viele wie in Leipzig oder Dresden.
Typisch für diese Verhältnisse und gleichzeitig repräsentativ für einen ganz anderen Aspekt der städtischen wie der deutschen Geschichte war die Lützowstraße in der Ohlauer Vorstadt. Als Breslau ähnlich wie Berlin ab Anfang der 1880er Jahre einen Bauboom erlebte, planten die Stadtväter auf Parzellen der Aktiengesellschaft Cassirer & Söhne neue Straßenzüge mit einer Randbebauung durch Mietshäuser. In einem neuen Viertel zwischen der Klosterstraße (ul. Romualda Traugutta) und der Vorwerksstraße (ul. Komuny Paryskiej) sollten von 1886 an Arbeiter wohnen, die in den Fabriken und Betrieben zwischen Ohlau (Oława) und Klosterstraße arbeiteten. Es siedelten sich aber auch kleinere Angestellte und Handwerker an, die in den Hinterhöfen und Erdgeschossen der Häuser ihre Werkstätten betrieben.
Ursprünglich waren zwei Straßen in Nord-Süd- und Ost-West-Richtung geplant, die sich auf der Hälfte ihrer Strecke kreuzen sollten. Fertiggestellt wurde jedoch nur die etwa 300 Meter lange Nord-Süd-Trasse, die ihren Namen zu Ehren des preußischen Patrioten und Freiheitskämpfers Major Ludwig Adolf Wilhelm Freiherr von Lützow (1782–1834) erhielt. Die querende Marthastraße (ul. Łukasińskiego) wurde nicht über die Lützowstraße hinaus verlängert, so dass sich das Viertel zwischen Vorwerksstraße und Klosterstraße bis heute nicht nach Westen öffnet. Es wird im Volksmund »Trójkąt Bermudzki« (Bermuda-Dreieck) genannt. An dieses Viertel dachte der polnische Post-Punk-Poet Lech Janerka, Sänger der legendären Band Klaus Mittfoch, als er 1984 seinen Song schrieb: »Strzeż się tych miejsc« – »Hüte dich vor diesen Orten«. Vor allem zur Zeit der Volksrepublik Polen soll es Zufluchtsstätte der städtischen Halb- und Unterwelt gewesen sein. Heute leiden hier viele Bewohner unter Arbeitslosigkeit, Armut und Alkoholismus.
Schwarz-Rot-Gold
Welchen Ruhm Freiherr von Lützow seinerzeit nicht nur in Breslau genoss, lässt sich von dem Umstand ablesen, dass das ihm gewidmete Lied nach Theodor Körners Gedicht Lützows wilde Jagd noch heute Bestandteil des Großen Zapfenstreichs der Bundeswehr ist. Die Musik stammt von Carl Maria von Weber (1786–1826), der von 1804 bis 1806 Kapellmeister in Breslau war. Doch damit nicht genug. 1813 war Schlesien ein Zentrum der preußischen Erhebung gegen Napoleon. Einer, der hier am vehementesten nach Krieg schrie, war der aus Norwegen stammende Philosophieprofessor Henrik Steffens (1773–1845). Er lebte und wirkte von 1811 bis 1832 in Breslau. In seinen Erinnerungen hielt er später fest, er habe sich oft beklagt, gerade »in diese Ecke von Deutschland hingeschleudert« worden zu sein, doch sei die Stadt »der alles ergreifende Mittelpunkt geworden; hier fängt eine neue Epoche der Geschichte an, und was diese wogende Menschenmenge bewegt, darfst du aussprechen.«
In einem Hörsaal der Breslauer Universität hielt Steffens am 10. Februar 1813 eine flammende Rede, in der er die Studenten aufforderte, sich als Freiwillige für den Kampf gegen Napoleon zu melden. Zur selben Zeit richtete Ludwig Adolf Wilhelm Freiherr von Lützow nur einen Steinwurf von hier entfernt sein Anwerbebüro ein. Es befand sich im »Gasthof zum Goldenen Zepter« an der Schmiedebrücke 22 (ul. Kuźnicza). Lützow hatte am 9. Februar 1813 ein Gesuch an den preußischen König gerichtet, ein Freikorps aufstellen zu dürfen. Seine »Schwarze Schar« wurde die berühmteste deutsche Einheit der Befreiungskriege. Sie bestand aus über 3.000, vorwiegend nichtpreußischen Freiwilligen, und obwohl sie im Juni 1813 bei Leipzig fast völlig aufgerieben wurde, galt ihr Mut im Kampf gegen die napoleonischen Truppen fortan als Vorbild aller Freiheitskämpfer. Die »Heldentaten« des Freikorps wurden vielfach besungen und seine Uniformfarben Schwarz-Rot-Gold so populär, dass sie schließlich zu den deutschen Nationalfarben wurden. Dabei rührte die Farbe der Lützowschen Uniformen lediglich daher, dass Schwarz die einzige Farbe war, mit deren Hilfe sich aus Alltagskleidung scheinbar einheitliche Uniformen herstellen ließen. Das übrige taten ein roter Kragen und goldfarbene Messingknöpfe.
Viele der von Lützow Angeworbenen waren Studenten und Akademiker. Unter ihnen befanden sich die beiden Dichter Joseph von Eichendorff (1788–1857) und Theodor Körner (1791–1813), der »Turnvater« Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852) und der spätere Begründer der Kindergärten Friedrich Fröbel (1782–1852). Auch zwei Frauen dienten im Freikorps, freilich verkleidet als Männer: Anna Lühring (1796–1866) und Eleonore Prochaska (1785–1813). Ferdinande von Schmettau (1798–1875) verkaufte immerhin ihr langes blondes Haar für die »gute Sache«. Sie verarbeitete es zu kleinen Schmuckstücken und spendete den gesamten Erlös von 198 Talern der Kriegskasse. So verschuf das Jahr 1813 Breslau weit über die Grenzen Schlesiens hinaus ein gewaltiges Prestige. Wie Steffens es ausdrückte, war die Stadt »der alles ergreifende, begeisternde Mittelpunkt«, an dem die patriotische Bewegung zur Befreiung ganz Deutschlands von der französischen Vorherrschaft ihren Ausgang nahm.
Die »deutscheste« Straße in Breslau
Auf all dies nehmen die Spielfilme, die in den letzten Jahren in der ul. Miernicza gedreht wurden, keinen Bezug, und auch der Sänger Lech Janerka dürfte weder an Lützow, noch an Steffens oder Ferdinande von Schmettau gedacht haben, als er »Strzeż się tych miejsc« schrieb. Doch ist es ein interessanter Zufall, dass gerade die frühere Lützowstraße heute die »deutscheste« Straße des polnischen Breslau ist und immer wieder Filmemacher anzieht, die sich mit Ereignissen der Geschichte beschäftigen. Ausschlaggebend dafür ist natürlich, dass die Straße das »best erhaltene« Beispiel für die Architektur Breslauer Mietshäuser des späten neunzehnten Jahrhunderts ist. Weil es hier nicht zu Kriegszerstörungen kam, hat das Viertel als eines der wenigen in Breslau sein ursprüngliches Aussehen aus der Vorkriegszeit unverändert bewahrt. 40 Jahre Kommunismus haben die alte, geschlossene Bausubstanz rechts und links der Straße zwar nicht schützen, aber eben auch nicht zugrunde richten können.
Einer der ersten deutschen Regisseure, der die filmischen Qualitäten der ul. Miernicza zu schätzen und zu nutzen wusste, war Max Färberböck. Sein Kinodebüt war das Melodram Aimée & Jaguar aus dem Jahre 1999. Basierend auf wahren Begebenheiten erzählt der Film die tragische Geschichte der lesbischen Liebe zwischen einer Jüdin und einer »Arierin« im Berlin der Nazi-Zeit. Gespielt wurden die beiden Hauptrollen von Maria Schrader und Juliane Köhler. Die Straßenszenen, die im gutbürgerlichen Berliner Stadtteil Zehlendorf vor und nach den alliierten Bombenangriffen auf die deutsche Reichshauptstadt spielen, entstanden in der Ohlauer Vorstadt. Hier lodern Flammen aus Wohnungsfenstern, obdachlos gewordene Bürger irren an Trümmer- und Schuttbergen vorbei und klammern sich an ihre letzten geretteten Habseligkeiten, während die Gestapo Jagd auf »U-Boote«, illegal lebende Juden, macht.
Auch bei Anonyma stützte Färberböck sich auf authentisches Material. Der Spielfilm, der im Oktober 2008 in die deutschen Kinos kam, entstand nach den Tagebuchaufzeichnungen einer bis zu ihrem Tod anonym gebliebenen Autorin, die einst über das jahrzehntelang tabuisierte Schicksal unzähliger deutscher Frauen nach dem Einmarsch der Roten Armee das Schweigen brach. Ihr Bericht hat nach der Neuauflage des Buches im Jahre 2003 weltweites Aufsehen erregt. Im Film spielt Nina Hoss die etwa 30jährige »Anonyma«, eine ehemalige Journalistin und Fotografin, die im April 1945 zusammen mit vielen anderen Frauen in einem zerstörten Berliner Wohnhaus das Opfer von Vergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee wird. Sie hält das Geschehen für ihren Lebensgefährten, der vor Jahren zum Kriegsdienst an die Ostfront versetzt worden ist, in ihrem Tagebuch fest. Auch für die Aufnahmen zu anonyma hielten die ul. Miernicza sowie einige Straßenzüge im schlesischen Liegnitz (Legnica) notwendige Bilder für Szenen bereit. Und natürlich erzählt der Film nicht nur die Geschichte von Frauen in Berlin, ähnliches mussten nach dem Einmarsch der Roten Armee auch Breslauer Frauen erleben.
In der TV-Produktion Die Luftbrücke von 2005 erscheint die ul. Miernicza in helles Sonnenlicht getaucht. Zwar leiden die Menschen noch immer bitterste Not, vor den Geschäften bilden sich lange Schlangen, und neben den Eingängen hängen Kreidetafeln, auf denen zu lesen ist: »Ab morgen Sirup. Gefäße mitbringen«. Aber die wehmütige Geschichte um die Liebe zwischen einer Deutschen und einem US-amerikanischen General, gespielt von Bettina Zimmermann und Heino Ferch, fällt in die Zeit eines optimistischen Aufbruchs. Der Krieg ist vorüber, und am Ende läuft eine jubelnde Menschenmenge einem Kleintransporter hinterher, auf dem ein Mann ein Pappschild mit der Aufschrift »Hurra, wir leben noch« hochhält. die luftbrücke erzählt, wie die Amerikaner die West-Berliner Bevölkerung über 15 Monate aus der Luft versorgten und wie aus Kriegsgegnern Freunde wurden. 14 Tage lang wurde in Breslau Berlin nachgestellt, und bis auf die 75 Satellitenschüsseln, die auf die Hausdächer verbannt wurden, musste nur wenig verändert werden. Ein paar Bretterverschläge taten das ihre. Logistisch, organisatorisch und optisch fand das Filmteam um Dror Zahavi beste Bedingungen vor. Ein Pluspunkt für die ul. Miernicza war nun sogar der Umstand, dass hier keine Bäume stehen. So kurz nach dem Zweiten Weltkrieg hatten die Berliner ja so gut wie alle Bäume der Stadt zu Brennholz verarbeitet.
Für die Filmbiographie Mein Leben nach den Erinnerungen Marcel Reich-Ranickis ließ Dror Zahavi 2008 in Breslau Teile des Warschauer Ghettos wiedererstehen, weil es in der polnischen Hauptstadt kaum noch historische Spuren vom Ghetto aus der Kriegszeit gibt. Die Universitätsbibliothek in der ul. Szajnochy verwandelte sich in den Sitz des Judenrats, aber auch in Liegnitz wurde für eine Woche gedreht. Durch enge Ghettostraßen, unter denen die ul. Miernicza zu erkennen ist, bewegen sich lange Kolonnen von verzweifelten und abgemagerten Menschen. Sie sind auf dem Weg zum »Umschlagplatz«, von wo sie in das Vernichtungslager Treblinka deportiert werden sollen. Marcel Reich-Ranicki, der von Matthias Schweighöfer gespielt wird, entgeht diesem Schicksal. Er lernt im Ghetto seine spätere Frau Teofila (Katharina Schüttler) kennen, und gemeinsam gelingt dem Paar noch im Februar 1943 die Flucht, kurz bevor die Nationalsozialisten alle Insassen des Ghettos ermorden. Eine polnische Familie versteckt die beiden bis zum Einmarsch der Roten Armee im Herbst 1944.
Nicht nur deutscher Film
Angesichts der Fülle der Produktionen, die in den letzten Jahren in Breslau entstanden sind, ist es fast erstaunlich, dass gerade Caroline Link für ihren Film nirgendwo in afrika hier nicht gedreht hat. Der Film, für den die Regisseurin 2003 den Oscar in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film erhielt, basiert auf der wahren Geschichte der jüdischen Familie Redlich, die 1938 aus Breslau nach Kenia flüchtet und dort den Holocaust überlebt. Immerhin hätte die Stadt hier die Möglichkeit gehabt, sich neben Dokumentationen wie Die Kinder der Flucht: Breslau brennt von 2006 als sich selbst zu zeigen. Doch Breslau ist nicht nur für deutschsprachige Regisseure interessant. Als »Location« werden osteuropäische Länder wie Polen, Tschechien und Ungarn in der Filmbranche immer beliebter. Schließlich erhalten Filmemacher hier oft einen Teil ihrer Kosten vom Staat zurück. Deshalb wurde der amerikanische Erfolgsfilm cold mountain (2003) von Anthony Minghella in Rumänien gedreht, und Roman Polanski inszenierte seine Filmadaption oliver twist (2005) in den Prager Barrandov-Studios.
Nachvollziehbar wird da, dass der britische Regisseur Peter Greenaway vor zwei Jahren seinen Film Nachtwache über das Leben Rembrandts in Breslau abgedreht hat. In dem mit einem Auslands-Oscar preisgekrönten holländischen Drama Karakter von Mike von Diem (1997) stellte die ul. Miernicza neben der Hamburger Speicherstadt das Amsterdam der zwanziger Jahre dar, und in dem japanischen Science-Fiction-Thriller Avalon von Mamoru Oshii (2000) ist der Ort der Handlung eine namenlose Stadt in einer weit entfernten Zukunft. Für die Filmaufnahmen erhielt der Regisseur sogar die Erlaubnis, Panzer durch die ul. Miernicza fahren zu lassen. In grobkörnigen, schmutzig-braunen Bildern und unter Hinzuziehung von viel Pyrotechnik gibt die frühere Lützowstraße ein apokalyptisches Bild ab. In anderen europäischen Städten wie Köln, Glasgow oder Lille wäre so etwas aus Sicherheitsgründen vermutlich nie genehmigt worden. Friedlicher, aber ähnlich mysteriös und undurchsichtig gestaltet sich die Straße in der Schattenwelt des Videoclips sen (Schlaf) der polnischen Hip-Hop-Gruppe WWO, der 2004 auf dem Danziger Yach-Filmfestival mit einem Preis für die besten Aufnahmen ausgezeichnet wurde.
wwo – sen | auf der Internetplattform www.youtube.com
Gern wäre Breslau wohl auch einmal München gewesen. Steven Spielberg hatte für sein Filmdrama über die Ermordung israelischer Sportler während der Olympischen Spiele 1972, das 2006 unter dem Titel münchen in die Kinos kam, schon geeignete Drehorte in der Oderstadt ausgewählt, entschied sich im letzten Moment aber für Budapest. So bleibt an Breslau meist das Image einer in Agonie liegenden Vorzeigestadt der Kriegsjahre hängen, wie es auch schon Peter Schultze-Rohr in Nächste woche ist Frieden (1994), Søren Kragh-Jacobsen in Die Insel in der Vogelstraße (1997) und Igor Zajcev in diverzant (2007) nutzten.
Die Filme in Breslau entstehen in der Regel in Zusammenarbeit mit der polnischen Produktionsgesellschaft Wytwórnia Filmów Fabularnych, die Mitte der fünfziger Jahre gegründet wurde. Über sie schrieb die Zeit 1957, das Studio in unmittelbarer Nähe der Jahrhunderthalle sei klein und habe die Aufgabe, »durch besondere Filme die noch in Polen lebenden Deutschen anzusprechen und sie stärker an das Polentum zu binden.« Ohne nationalistische Vorurteile habe die Breslauer Produktionsfirma auch alle alten deutschen Fachleute eingestellt. Wie sich die Zeiten doch ändern! So zutreffend diese Einschätzung Ende der fünfziger Jahre auch immer gewesen sein mag, geht es der Wytwórnia Filmów Fabularnych angesichts der prominenten Rolle, die sie in der Filmszene des heutigen Europa spielt, Anno 2009 längst nicht mehr um Polentum oder Einbindung deutscher Fachkräfte in Hinblick auf Ressourcen oder Ideologie. Hier entstehen nach wie vor »besondere Filme«. Doch polnische wie ausländische Filmemacher erzählen ihre eigenen Geschichten, und das heutige Breslau gibt bereitwillig dazu die Kulissen ab.
Raimund Wolfert (MA) studierte Skandinavistik, Linguistik und Bibliothekswissenschaft an den Universitäten in Bonn, Oslo und Berlin. In zahlreichen Veröffentlichungen beschäftigte er sich u.a. mit Themen der deutsch-skandinavischen Kulturbeziehungen. Raimund Wolfert arbeitet als freier Dozent in Berlin. Auf den Internetseiten des Deutschen Kulturforums sind bisher folgende Artikel von ihm erschienen:
Licht und Schatten
Der Park in Klein Silsterwitz | Sulistrowiczki – Schlesiens »Venedig« und sein fast vergessener Schöpfer, der Rechtsanwalt Erich Bohn
Duplikate im Drachenstil
Norwegische Holzbaukunst im Dreieck Oslo, Potsdam und Bad Warmbrunn (Cieplice)
»Ein Erbe, um das sich niemand kümmert? Das hat mich provoziert.«
Die Norwegerin Bente Kahan macht sich um jüdische Kultur in Breslau verdient.
Vom Leben »wahrer Freunde und Freundinnen« im Breslau der Zwischenkriegszeit
Die Blütezeit der ersten deutschen Homosexuellenbewegung in der schlesischen Metropole
Wer zu dem Thema mit dem Autor Kontakt aufnehmen möchte, kann dies gern über das Deutsche Kulturforum tun:
T. +49 (0)331 20098-0
E-Mail: deutsches[at]kulturforum.info
Aimée & Jaguar
Weitere Informationen zum Film auf den Internetseiten von filmportal.de
Anonyma
Die offizielle Website zum Film
Die Luftbrücke
Informationen zum Film auf den Internetseiten von Sat.1
Mein Leben
Informationen zum Film auf den Internetseiten der ARD
Breslau brennt! – Eine Stadt zwischen Terror und Durchhaltewahn
Informationen zum dritten Teil der Fernsehreihe »Die Kinder der Flucht« auf den Internetseiten des zdf
Nachtwache | Nightwatching
Die offizielle Website zum Film
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Karakter | Charakter
Informationen zum Film auf den Internetseiten von sonypictures.com
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Avalon
Informationen zum Film auf wikipedia.de
Nächste Woche ist Frieden
Kurzinformation zum Fim auf den Internetseiten von filmportal.de
Die Insel in der Vogelstraße
Kurzinformation um Film auf den Internetseiten von prisma.de
www.4film.pl
Die Internetseiten der Produktionsgesellschaft Wytwórnia Filmów Fabularnych
polski • english (geplant)
Polens neue Filmstadt
Der gesamte Artikel vom 17.01.1957 in der Online-Ausgabe der Zeit