Ein Reiseführer, dessen Lektüre fast die Reise selbst ersetzt
Neue Zürcher Zeitung • 10.07.2004

ggn. Dieses handliche, sorgfältig gearbeitete Buch ist ein Mittelding zwischen Reiseführer und Anthologie. Die Autorin führt den Lesenden oder Reisenden nach Schlesien, in dessen Hauptstadt Breslau, das heutige polnische Wrocław. Die 600.000 Einwohner zählende Stadt sei »im Begriff, mit den großen östlichen Magneten Krakau und Prag um Schönheit und um Lebendigkeit zu wetteifern«, schreibt Roswitha Schieb zu Recht. Auf sieben Spaziergängen führt sie durch eine Stadt mit doppeltem Boden: Junge polnische Autoren projizieren heute die Handlung ihrer Romane zurück ins deutsche Breslau, während deutsche Autoren, die die Stadt 1945 oder, wie der Philosoph Günter Anders, schon 1933 verlassen mussten, sich vor allem an den kriegsbedingten Veränderungen und dem Verlust ihrer Heimat abarbeiten. Was Humanisten und Barockdichter, Chronisten und Aufklärer über Breslau zu Papier brachten, ist hier nachzulesen. Am Ende weiß man aber auch, wo Norbert Elias' Vater sein Geschäft hatte und auf welchen Straßen als Kinder Edith Stein und Hans-Georg Gadamer spielten. Warum John Quincy Adams, später der sechste Präsident der USA, sich in Breslau über den katholischen Reliquienkult mokierte, und in welchem Bett Marlene Dietrich schlief. Ein Reiseführer, dessen Lektüre fast die Reise selbst ersetzt.

Roswitha Schieb: Literarischer Reiseführer Breslau. Sieben Stadtspaziergänge. Deutsches Kulturforum östliches Europa, Potsdam 2004. 403 S., EUR 19.80.

(Die Veröffentlichung der Rezension erfolgt mit freundlicher Genehmigung durch den Verlag Neue Zürcher Zeitung.)

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