Die große Blütezeit der ersten deutschen Homosexuellenbewegung in der schlesischen Metropole
von Raimund Wolfert
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Als die »Goldenen Zwanziger« sind die Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs in die deutschsprachigen Geschichtsbücher eingegangen. Trotz mehrerer Putschversuche, Streiks, sich zuspitzender Straßenkämpfe zwischen rechts und links, Inflation und Massenarbeitslosigkeit entwickelte sich in deutschen Großstädten in dem Jahrzehnt nach dem Zusammenbruch des Kaiserreichs ein kulturelles Leben, das noch heute legendär ist. Als »Tanz auf dem Vulkan« ist später vor allem das Lebensgefühl im einstigen Berlin von Schriftstellern wie Christopher Isherwood und Klaus und Erika Mann beschrieben worden. Doch die Zwanziger waren nicht nur die Jahre, in denen Bubikopf, Charleston, das Theater Max Reinhardts, die Filme von Fritz Lang und Friedrich Wilhelm Murnau sowie die Nacktdarbietungen Anita Berbers für Auf- und Anregung sorgten.

Die zwanziger Jahre waren auch eine Zeit des gesellschaftlichen Umbruchs. Während Architekten sich bemühten, den Menschen Licht, Luft und Sonne zu bringen und »die neue Frau« rauchend und in gewagten, kniefreien Kleidern zum Schreckgespenst der allzu bürgerlich Eingestellten wurde, waren die Jahre zwischen 1919 und 1933 auch die große Blütezeit der ersten deutschen Homosexuellenbewegung. In Berlin betrieb der Arzt Magnus Hirschfeld (1868–1935) seit 1919 sein weltberühmtes und einzigartiges Institut für Sexualwissenschaft, nachdem er schon 1897 das Wissenschaftlich-humanitäre Komitee (WhK) gegründet hatte. Hirschfeld hatte 1887 ein Studium der neueren Sprachen an der Universität in Breslau begonnen. Sein WhK war die erste homopolitische Organisation der Welt und hatte sich der Emanzipation der Homosexuellen durch Selbstorganisation, politisches Agieren und Aufklärung der Fachwelt wie der allgemeinen Bevölkerung verschrieben.

Auch der Berliner Travestiekünstler Voo-Doo (eigentlich Willi Pape) trat in Breslau auf. Im November 1918 und im November 1921 gastierte er jeweils im Liebich-Theater. In dem artistischen Fachblatt Das Programm hieß es 1929 über den Künstler: »Voo Doo hin

Ebenfalls 1919 erschien auch die Freundschaft, die weltweit erste frei am Kiosk vertriebene Wochenschrift für homosexuelle Männer und Frauen. Wenige Jahre später kamen die Blätter für Menschenrecht des Berliner Verlegers Friedrich Radszuweit (1876–1932) hinzu. Sie waren das Vereinsorgan des Bundes für Menschenrecht (BfM), dem in der Zeit bis 1933 vermutlich mehrere tausend Mitglieder und zahlreiche Regionalgruppen im ganzen deutschen Reichsgebiet angehörten. Nicht zuletzt befördert durch diese beiden Zeitschriften bildeten sich in den zwanziger Jahren in so gut wie allen deutschen Großstädten sogenannte Freundschaftsgruppen, in denen Homosexuelle ein gemeinschaftliches soziales Leben genießen, aber auch ihre politischen Ziele formulieren konnten. Ihr Kampf richtete sich vor allem gegen den § 175 RStGB, der männliche Homosexualität unter Strafe stellte.

Auch Breslau, die Hauptstadt Schlesiens, bildete da keine Ausnahme. Dennoch ist heute über das gesellschaftliche Leben homosexueller Männer und Frauen im Breslau der Zwischenkriegszeit kaum etwas bekannt. Der Grund hierfür ist nicht nur der fast vollständige Bevölkerungsaustausch, den die Stadt in der Folge des Zweiten Weltkrieges erleben musste. Nachdrücklicher wirkten die Ereignisse der Jahre vor 1945, denn die Auslöschung der homosexuellen Lebensformen in Breslau erfolgte nicht erst im Zuge der aussichtslosen Kämpfe um die von Hitler zur Festung erklärten Stadt, sondern bereits über ein Jahrzehnt zuvor, unmittelbar nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten. In der Folge waren die Homosexuellen schon etwa Mitte der dreißiger Jahre nicht mehr als eigenständige Gruppe in der Stadt erleb- und erfahrbar, und so ist auch in der deutschsprachigen Erinnerungsliteratur zu Breslau noch nie explizit auf die Lebenswege homosexueller Männer und Frauen in der Stadt hingewiesen worden.

Angaben zu Einzelschicksalen liegen nur recht spärlich vor, denn im Rahmen der schwul-lesbischen Geschichtsforschung führen Gebiete wie Schlesien, Pommern und Ostpreußen nach wie vor ein Schattendasein. Der bekannteste deutschsprachige homosexuelle Breslauer des zwanzigsten Jahrhunderts dürfte der Soziologe Norbert Elias (1897–1990) gewesen sein. Belegt ist auch die Breslauer Herkunft des Verlegers Gerhard Prescha (†1996), der in der Nachkriegszeit von Hamburg bzw. Amsterdam aus die Homosexuellenzeitschriften Der Ring und der neue ring vertrieb. Homosexuell war auch der Startenor Hans Grahl (1895–1966). Er konnte in den Kriegsjahren an der Breslauer Oper Erfolge feiern, stammte jedoch gebürtig aus Braunschweig. Über eventuelle Kontakte der Genannten zur homosexuellen Szene im Breslau der Zwischenkriegszeit ist indes nichts bekannt. Insgesamt scheint sich die Forschungslage nun, über 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, aber langsam zu ändern. Zumindest zu Breslau liegen weitere Forschungsergebnisse vor. So sind auch bereits 53 Breslauer Unterzeichner der Petition Magnus Hirschfelds, die dieser seit 1897 zwecks Abschaffung des § 175 RStGB mehrfach dem Deutschen Reichstag eingereicht hatte, namentlich bekannt.

Gründungsaufruf der Breslauer Freundschaftsgruppe Anzeige aus der Freundschaft № 14, 1919

Ein erster »Klub der Freunde und Freundinnen« bildete sich in Breslau um 1919. Mit Hilfe eines Inserates in der Zeitschrift Die Freundschaft suchten im November jenes Jahres Breslauer Freunde »Gleichgesinnte, die in idealer Gemeinschaft ohne seichten Lebensgenuss Schönheit und Freundesliebe pflegen wollen«. Dem Sprachgebrauch der Zeit entsprechend bezeichnete man sich auch als »Invertierte«. Anfang der zwanziger Jahre war die schlesische Hauptstadt die siebtgrößte Stadt des Deutschen Reiches, hier lebten über eine halbe Millionen Menschen. Breslau war zu der Zeit eines der wichtigsten Industrie- und Handelszentren Deutschlands, und auch auf kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet machte die Stadt immer wieder von sich reden. In ökonomischer und sozialer Hinsicht bildete Breslau indes das Schlusslicht unter den deutschen Großstädten. Das Pro-Kopf-Einkommen war hier nur etwa halb so groß wie in Frankfurt am Main. Auf 1000 Einwohner kamen 68 von der Wohlfahrt abhängige Familien und damit etwa drei mal so viele wie in Leipzig oder Dresden.

 Abb. oben: Alte Heidelberger Diele. Anzeige in der Freundschaft № 16, 1921 Abb. unten: Restaurant Bahnhofstraße. Anzeige in der Freundschaft № 10, 1921

Ungeklärt ist allerdings nach wie vor, wann genau der Gründungsaufruf der Breslauer in der Freundschaft zu einer Gruppenbildung führte. Insofern als die spätere Breslauer Ortsgruppe im Bund für Menschenrecht erst im Oktober 1931 das zehnjährige Jubiläum ihres Bestehens feierte, kann davon ausgegangen werden, dass es bis Herbst 1921 zu keiner dauerhaften Vereinsbildung in der Oderstadt kam. Auch zu den Aktivitäten des Vereins und zum »seichten Lebensgenuss« im Schlesien der frühen zwanziger Jahre, von dem man sich so vehement abgrenzte, liegen nur wenige Angaben vor. In der Freundschaft inserierten zu jener Zeit lediglich zwei Breslauer Lokale für »wahre Freunde und Freundinnen«, und zwar das Restaurant Neumann-Diele in der Bahnhofstraße 10 (Dworcowa) und die neueingerichtete Alte Heidelberger Diele am Universitätsplatz 7 (Plac Uniwersytecki). Im Lauf der folgenden Jahre kam etwa eine Handvoll von Gaststätten für ein homosexuelles Publikum hinzu – zumindest nach den Anzeigen in der einschlägigen Deutschland-weiten Presse für Homosexuelle zu urteilen: Unter ihnen waren das Bayern-Stübel in der Kronprinzenstraße 44 (Gwiaździsta), das Ohlauer Tor in der Tauentzienstraße 190 (Tadeusza Kościuszki) und die Pension Radler in der Gartenstraße 64 (Małachowskiego).

Ab 1922 machte sich in Breslau der Freundschaftsverein Sagitta bemerkbar, der offensichtlich nach dem Pseudonym des deutsch-schottischen Schriftstellers John Henry Mackay (1864–1933) benannt worden war. Diskretion war für den Verein eine Notwendigkeit. Meldungen konnten nur über Postlagerkarte erfolgen. In dieser Hinsicht gesellte man sich in Schlesien in die vorsichtigere Liga der Freundschaftsvereine in Deutschland. Konkrete Adressangaben für die örtliche Geschäftsstelle bzw. für Vereinslokale gab es zu jener Zeit nicht nur für Berlin, sondern auch für Braunschweig, Düsseldorf, Frankfurt am Main, Hamburg, Karlsruhe und Leipzig. Die erste Generalversammlung Sagittas fand im Februar 1922 statt. In der Folge organisierte man Bunte Abende, einen Kremserausflug und ein sogenanntes »Rosenfest in Nizza« – über die Stärke der Besucherzahlen kann aber nur spekuliert werden. Ebenso ist unbekannt, in welchem Grad lesbische Frauen an den Treffen des Vereins teilnahmen. Wöchentliche Zusammenkünfte erfolgten mittwochs, Stammtisch-Abende samstags, und jeden Sonntag begab man sich auf Ausflüge in die nähere oder weitere Umgebung. Doch schon 1923 kam es entweder zu einer Spaltung des jungen Breslauer Freundschaftsvereins, oder man legte den Vereinsnamen Sagitta kurzerhand wieder ab. In den Blättern für Menschenrecht war fortan nur noch von der »Ortsgruppe Breslau« die Rede, die eine von nunmehr 30 aufgeführten Gruppen in ganz Deutschland war.

Kaiser-Wilhelm Denkmal in der Schweidnitzer Straße (Świdnicka). Es war das monumentalste der deutschen Nationaldenkmäler in Breslau. Im Oktober 1945 ließ die polnische Stadtregierung das zentrale Reiterstandbild stürzen und die gesamte Anlage anschließend

Schlaglichter auf das gesellschaftliche Klima, in dem die Homosexuellen sich im Breslau der zwanziger Jahre zu organisieren suchten, werfen diverse Kurzmeldungen in der Freundschaft und in anderen Blättern der Zeit. Wiederholt wurde hier von Raubüberfällen, Selbstmorden und Verurteilungen nach § 175 RStGB berichtet. Das am häufigsten wiederkehrende Thema stellten indes Erpressungen dar. In der Neuen Freundschaft etwa wurde Breslau 1928 als Zentrum dieses Verbrechens bezeichnet. Ein Jahr zuvor hatte hier vor allem der Prozess gegen eine achtköpfige Gruppe von Erpressern für Schlagzeilen gesorgt, die sich um den 23-jährigen Georg Philipp gebildet hatte. Philipp war wegen seiner besonderen Brutalität und Rücksichtslosigkeit auch als »der Würger« bekannt. Konkrete Angaben zu Erpressungen in Breslau machte 1926 »Herr S.«, ein schlesischer Vertrauensmann des Wissenschaftlich-humanitären Komitees (WhK). Er war neben dem Rechtsanwalt Fritz Flato (1895–nach 1945) und dem Arzt Otto Juliusburger (1867–1952) der dritte nachgewiesene Gewährsmann des WhK, der aus Breslau stammte bzw. hier studiert hatte. »S.« zufolge war die Zahl der Erpressungsfälle in der schlesischen Hauptstadt seit Jahren steigend. Hatte die Breslauer Polizei 1923 nur 127 Fälle von Raub und Erpressung zu bearbeiten gehabt, waren es 1924 schon 142 und 1925 ganze 175 Fälle. Offensichtlich suchten die Erpresser ihre Opfer vornehmlich in der Gegend um die öffentlichen Bedürfnisanstalten am Kaiser-Wilhelm-Denkmal in der Schweidnitzer Straße (Świdnicka), am Königsplatz (Plac 1 Maja) und am Hauptbahnhof.

Das Gebäude Bahnhofstraße 10, Zustand Juni 2006

Auf die Notwendigkeit der politischen Arbeit in einem festen Freundschaftsverein in Breslau wies 1921 ein unbekannter Schreiber in der Freundschaft hin. In aufgeregtem Ton griff er hier aber nicht nur den Staat und die Polizei an, die in der Stadt »Jagd auf Invertierte« mache. Mit harscher Kritik wandte er sich auch gegen die homosexuellen Zeitgenossen. Er schrieb: »In den Lokalen wird getanzt und getobt wie wahnsinnig, gemeine Witze werden gerissen und manchmal glaubt man, die Hölle hat allen Insassen Urlaub erteilt. [...] Wie gemütlich könnte es in dem Lokal Bahnhofstraße 10 sein, wenn die Gäste auf ihren Plätzen blieben und sich bei netter Musik unterhalten würden. Kein Mensch könnte daran Anstoß nehmen und jeder Breslauer könnte dort ungestört ein paar Stunden unter Gleichgesinnten verbringen.« Hinter dem Pseudonym »F. Breslau«, unter dem der Artikel erschien, verbarg sich vermutlich der Buchhändler, Journalist und Schriftsteller Ernst Bellenbaum, dessen Buchhandlung in der Fürstenstraße 32 (Aleja Grunwaldzka) Anfang der zwanziger Jahre als Geschäftsstelle der Freundschaft fungierte. Während des Verbots der Freundschaft war Bellenbaum zwischenzeitlich sogar Herausgeber der Ersatzzeitschrift Der Freund. Offensichtlich war er, der als Sohn eines Architekten geboren war, auch eine der zentralen Personen im Freundschaftsverein Sagitta. Ab 1923 machte er mit zahlreichen Artikeln und literarischen Arbeiten wie Gedichten und Erzählungen in der Homosexuellenpresse unter seinem vollen Namen auf sich aufmerksam.

Am bemerkenswertesten aus heutiger Sicht ist Bellenbaums Aufruf zur Gründung einer Pressekonferenz im Hellasboten vom Juni 1923. Die Pressekonferenz, die unter dem Namen »Sexualreform« angekündigt wurde, sollte alle großen Zeitungen des Deutschen Reiches gratis mit Material über die Homosexuellenbewegung ihrer Zeit versorgen – vor allem in Form von kurzen Notizen etwa zu Gerichtsverhandlungen und Skandalaffären bzw. mit biographischen Artikeln über berühmte Homoeroten. Diese Notizen sollten jeweils mit der Forderung nach Streichung des § 175 RStGB verbunden werden. Obwohl die Konferenz Unterstützung der Berliner Redakteure Hans Kahnert-Janus (um 1893–nach 1957) und René Stelter sowie dem WhK erhielt, musste Bellenbaum schon kurze Zeit nach seinem Aufruf vermelden, dass das Vorhaben gescheitert sei. Kein einziger habe sich gemeldet, der ideelle Mitarbeit leisten wolle. Welche Konsequenzen das Scheitern im einzelnen hatte, lässt sich heute nur vermuten. Doch scheint die Breslauer Gruppe um diese Zeit in eine tiefe Krise geraten zu sein, von der sie sich offensichtlich erst zwei, drei Jahre später wieder erholte. Erst im März 1927 hieß es in den Blättern für Menschenrecht, die Ortsgruppe Breslau sei reorganisiert.

Der Verleger Friedrich Radszuweit (1876–1932) war der erste Vorsitzende des Bundes für Menschenrecht (BfM), der größten Homosexuellenorganisation des frühen 20. Jahrhunderts. In Radszuweits Verlag erschien von 1923 bis 1932 monatlich die Zeitschrift <i>Blätter für Menschenrecht</i>.

Die Krise der Ortsgruppe dürfte in enger Verbindung mit dem persönlichen Schicksal Ernst Bellenbaums gestanden haben. Denn in einem Artikel in den Blättern für Menschenrecht wetterte Friedrich Radszuweit 1926 aufgebracht gegen »widerliche Tanten, die in der Organisation des Bundes nicht geduldet wurden, und sich nun dadurch rächen, dass sie den Redaktionen von Skandalblättern allerlei Märchen erzählen, die diese dann, ohne zu prüfen, aus reiner Sensation veröffentlichen.« Solche Artikelschreiber seien dem BfM zu mehreren aus Berlin, Hamburg und eben Breslau bekannt. Wurden zunächst keine Namen genannt, wurde bald klar, wer mit der »widerlichen Tante« aus Breslau gemeint war: kein anderer als Ernst Bellenbaum. Im April 1927 hieß es im Freundschaftsblatt unverblümt, Bellenbaum habe als einstiger Vorsitzender der Breslauer Ortsgruppe mit einer Reihe von Schmutzartikeln die ganze »Invertiertenbewegung« aufs schärfste diskreditiert, ja sogar einige Homosexuelle der Stadt in den wirtschaftlichen Ruin getrieben. Man riet deshalb zur Vorsicht vor ihm. Eine öffentliche Erwiderung des Angegriffenen ließ nicht lange auf sich warten, doch seine Unschuldsbeteuerungen verhallten wirkungslos. Die Aktion des BfM, die einer Rufmordkampagne gleichkam, zeigte hingegen den gewünschten Erfolg. Von Ernst Bellenbaum war in der Homosexuellenpresse der Weimarer Republik fortan nie wieder etwas zu lesen, zumindest nicht unter seinem bürgerlichen Namen.

 Der Berliner Friedrich Radszuweit hielt im September 1924 Vorträge auch in Schlesien. Blätter für Menschenrecht № 27, 1924

In den Blättern für Menschenrecht und hier vor allem in den monatlichen Ortsgruppenberichten von Ende der Zwanziger Jahre ist für Breslau ein reges soziales Leben unter den Homosexuellen der Stadt und näheren Umgebung dokumentiert. Von der ansässigen Ortsgruppe wurden regelmäßig Faschingsfeste, Ausflüge, Vortragsabende, Vereinsjubiläen, Weihnachtsfeiern und Tanzabende u.a. mit Vorträgen in schlesischer Mundart organisiert. Daneben leistete man Start- und Schützenhilfe beim Aufbau anderer schlesischer Ortsgruppen, so etwa im benachbarten Liegnitz, wo Adolf Triller (†1928) bis zu seinem Freitod einer 13-köpfigen Gruppe vorstand. Kontakte unterhielt man aber auch in die Lausitz, die Tschechoslowakei, nach Dresden, Dortmund und sogar Amerika. Beziehungen zu Homosexuellen in polnischen Städten wie Posen, Krakau oder Warschau sind hingegen nicht belegt. Sämtliche Saalveranstaltungen fanden im Tivoli-Salon in der Breslauer Neudorfstraße 35 (Komandorska) statt, und nach eigenen Angaben waren sie immer »außerordentlich gut«, »überaus gut« oder doch zumindest »recht gut« besucht und verliefen in »angenehmster Stimmung«. Genaue Zahlen über die Stärke der Breslauer Ortsgruppe wurden aber nie genannt.

Wiederholt nahm man in den Ortsgruppenberichten auch auf die desolate wirtschaftliche Lage in der Stadt sowie im gesamten Deutschen Reich Bezug, konkrete Angaben etwa zu politischen Auseinandersetzungen und Betroffenenschicksalen sucht man allerdings auch hier vergebens. Dies mag man den Mitteilungen aus heutiger Sicht kaum anlasten können. In den Ortsgruppenberichten stand das Bedürfnis nach Geselligkeit im Vordergrund. Dass aber die vom BfM betriebene Vereinspolitik von manchem Zeitgenossen auch als unbefriedigend erlebt wurde, belegt ein Artikel im Freundschaftsblatt vom November 1931. Demnach hatte ein anonymer Breslauer den Bund für Menschenrecht öffentlich als »Amüsiervereinigung« bezeichnet, dessen Ziel allein darin bestehe, möglichst viel Profit zu machen.

Über die Zerschlagung der homosexuellen Subkultur, ihrer Einrichtungen und die Verfolgung gleichgeschlechtlich liebender Männer und Frauen in Breslau ist heute kaum etwas bekannt. Auch herrscht nahezu völliges Unwissen, was etwa die Verflechtung der städtischen Vereinsaktivisten mit homosexuellen Nazigrößen wie dem schlesischen Gauleiter Helmuth Brückner (1896–nach 1945) und dem Breslauer Polizeipräsidenten und SA-Führer Edmund Heines (1897–1934) angeht. Gerade dessen nächtliche Orgien und »wüste Gelage mit jungen Männern« sollen um 1933 heimliches Stadtgespräch in Breslau gewesen sein. Der Schriftsteller Walter Tausk (1880–1941) vermerkte in seinem für die Nachwelt bestimmten Tagebuch, Heines solle »fast jeden Abend besoffen in der ›Fischer-Bar‹ sitzen. Er soll viele Nächte im ›Savoy-Hotel‹ (neben der Bar) wie ein kleiner Balkan-Fürst ›Hof‹ halten und sich dabei benehmen wie ein ungebildeter Ortskommandant in einem fremden, okkupierten Ort im Kriege.«

Am 30. Juni 1934 wurde Heines als Teilnehmer der SA-Führertagung im bayerischen Bad Wiessee wegen angeblicher Teilnahme am »Röhm-Putsch« und homosexueller Neigungen verhaftet und erschossen. Vom NS-Regime wurde gerade sein Fall propagandistisch ausgeschlachtet – angesichts seiner vorherigen halböffentlichen Exzesse mit einer gewissen Genugtuung auch bei der Breslauer Bevölkerung. In einem konspirativen Bericht der SPD aus Schlesien hieß es kurz nach der Röhm-Affäre: »Unsere Genossen berichten, dass Hitler bei dem Teil der Bevölkerung, der seine Hoffnungen immer noch auf ihn setzt, stark an Vertrauen und Sympathie gewonnen hat. Sein Vorgehen ist diesen Leuten Beweis, dass er Ordnung und Sauberkeit wolle.«

Auch Helmuth Brückner, seit März 1933 Oberpräsident von Schlesien mit Sitz in Breslau, war wie Heines bereits vor 1933 mehrfach mit dem § 175 RStGB in Verbindung gebracht worden. In Zusammenhang mit der Röhm-Affäre kam er in Berliner Gestapo-Haft. Für drei Fälle gemeinsamer Onanie mit einem Oberstleutnant wurde er schließlich zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt und aus dem Staatsdienst entlassen. Ebenso verlor er seine NSDAP-Mitgliedschaft. 1936 saß er drei Monate im KZ Bützow-Dreibergen in Mecklenburg ein, wo er als Rohrflechter beschäftigt wurde. Vom Nationalsozialismus hat er sich trotzdem nie distanziert. In einem Brief an Hitler bat er am 24. Februar 1937 um die Wiederaufnahme in die NSDAP. Sein Ersuchen wurde abgelehnt.

 Stolperstein für den Tänzer Fritz Heilscher in der Berliner Strelitzer Straße. Heilscher war gebürtiger Berliner, begann aber 1923 seine künstlerische Karriere als Solotänzer am Opernhaus in Breslau.

Wie der gewöhnliche Breslauer Homosexuelle die Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten erlebte, lässt sich nur erahnen. Wie im gesamten Deutschen Reich stieg die Zahl der Prozesse gegen Homosexuelle vor allem nach der Verschärfung des § 175 RStGB im Juni 1935 stark an. Nach diesem Datum waren nicht nur »beischlafähnliche Handlungen« zwischen Männern, sondern jegliche sexuelle bzw. als sexuell bewertete Handlung unter Strafe gestellt. Die Verurteilungen vor dem Breslauer Oberlandesgericht versiebenfachten sich allein im Zeitraum von 1931 (38 Fälle) bis 1936 (292 Fälle). Wo und unter welchen Bedingungen schlesische Homosexuelle ihre Haftstrafen absitzen mussten, ist indes lediglich in Ansätzen belegt. Nur vereinzelt sind die Namen schlesischer Homosexueller etwa in den Archiven der KZ-Gedenkstätten Auschwitz, Sachsenhausen, Mauthausen, Groß-Rosen und Dachau ermittelt. In der Folge sind in Deutschland bislang auch nur wenige Stolpersteine für homosexuelle ehemalige Breslauer verlegt worden: in Berlin beispielsweise für Walter Boldes (1898–1942) und in Hamburg für Albert Zirz (1900–1942). Indes liegt eine Quelle vor, die ein wenig Licht auf das Verfolgungsschicksal homosexueller Schlesier nach 1933 wirft. Als der gebürtige Breslauer Klaus alias Nikolaus Jensch (1913–1964) im Jahre 1940 im Archiv für Psychiatrie und Nervenkrankheiten seine Studie Zur Genealogie der Homosexualität veröffentlichte, konnte er auf ein Ausgangsmaterial von 1289 Fällen von Homosexualität zurückgreifen, das die Breslauer bzw. die Oppelner Gestapo ihm »in Kürze« vermittelt hatte. Vier Jahre später legte Jensch, seit Februar 1944 kommissarischer Leiter der Psychiatrischen und Nervenklinik der Reichsuniversität Straßburg, eine weitere Studie vor, die er unter dem Titel Untersuchungen an entmannten Sittlichkeitsverbrechern in Leipzig veröffentlichte.

All die vorliegenden Daten und Hinweise auf die Lebenswirklichkeit homosexueller Männer und Frauen in Breslau vor 1945 sind nur Bruchstücke eines Bildes, das sich vermutlich nie wieder en détail rekonstruieren lässt. Breslau war gegen Ende des Zweiten Weltkriegs ein einziges Trümmer- und Gräberfeld, der Zerstörungsgrad der Stadt lag bei etwa 75%. Und dies beruhte nicht nur auf äußerer Kriegseinwirkung. Für den aberwitzigen Bau einer neuen Rollbahn in der Innenstadt wurden beispielsweise im Frühjahr 1945 sämtliche Gebäude entlang der Kaiserstraße (Plac Grunwaldzki) mitsamt ihres Inventars von deutschen Brand- und Sprengkommandos angezündet, darunter auch das Staatsarchiv. Wertvolle Dokumente zur Stadtgeschichte gingen so unwiederbringlich verloren. Homosexuelle Zeitzeugen sind nicht bekannt, und sofern sie überhaupt noch leben sollten, sind sie kaum zu ermitteln. Schließlich verschwanden die Homosexuellen schon mit dem Machtantritt der Nazis und spätestens mit dem Massaker vom 30. Juni 1934 aus dem öffentlichen Bild der Stadt, ihre Angehörigen verschlug es im Zuge der Westverschiebung Polens in alle Teile der Welt. Doch besteht die Hoffnung, dass sich mittels fortgesetzter Forschungen weitere Erkenntnisse erzielen lassen. Für Hinweise ehemaliger Breslauer und ihrer Angehörigen wäre der Autor sehr dankbar.

Raimund Wolfert (MA) studierte Skandinavistik, Linguistik und Bibliothekswissenschaft an den Universitäten in Bonn, Oslo und Berlin. In zahlreichen Veröffentlichungen beschäftigte er sich mit Themen der deutsch-skandinavischen Kulturbeziehungen und mit der Geschichte der Homosexualität. Raimund Wolfert arbeitet als freier Dozent in Berlin.

Wer zu dem Thema mit dem Autor Kontakt aufnehmen möchte, kann dies gern über das Deutsche Kulturforum tun:
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