Ein Kriegsziel der Nazis waren die reichen Kornkammern der Ukraine. Ausgerechnet dort stießen die Nazis auf Millionen osteuropäische Juden, die in kleinen Städtchen, den Schtetln, oft ein sehr traditionelles, religiöses Leben führten. Noch bevor das systematische Morden in den großen Vernichtungslagern wie Auschwitz begann, ermordeten Sonderkommandos der Nazis in diesem »Holocaust durch Kugeln« rund zwei Millionen Menschen, schätzt man heute.
Die Radio-Bremen-Dokumentation »Osteuropa nach dem Holocaust – vom Verschwinden der Schtetl« reist zu den letzten noch existierenden Schauplätzen einer ehemals reichen jüdischen Kultur, aber auch eines monströsen Verbrechens. Rivka Yoselevska gehört zu denen, auf die geschossen wurde, aber sie konnte sich aus der Grube befreien und als eine der wenigen Überlebenden vom Massenmord berichten, der vieltausendfach in Osteuropa stattgefunden hat. »Dann wurde ich erschossen«, erzählt sie in einem Interview von 1981. »Ich fiel in die Grube, immer mehr Körper fielen auf mich. Ich hatte das Gefühl, ich ertrinke. Ertrinke im Blut der eigenen Leute.«
95 Prozent der Juden Galiziens, heute gelegen in Südpolen und der Westukraine, wurden so in Gruben »geschossen«. Zurück blieben blutdurchtränkte Erde, tausende Massengräber und verwaiste Schtetl. Hunderte Synagogen und Friedhöfe fielen der Vernichtungswut der Deutschen zum Opfer, doch vieles blieb auch einfach stehen.
»Die Menschen leben buchstäblich auf diesem Blut, das dort vergossen ist und leben auch oft mit dem Wissen, dass ihre Eltern oder Großeltern da mitgemacht haben. Dass sie womöglich in einem jüdischen Haus wohnen, dass sie womöglich jüdische Möbel haben, einen jüdischen Tisch oder eine jüdische Decke«, sagt Magdalena Waligórska, Expertin für osteuropäische Geschichte.
Christian Herrmann, Autor aus Köln, bereist schon seit Jahren die jüdischen Schtetl in Osteuropa und fotografiert, was von ihnen übrigblieb. In den Synagogen befinden sich heute Turnhallen, Kinos oder eine Schnapsfabrik. Fanden die Häuser keine Nachnutzung, fielen sie in sich zusammen und wurden oft abgerissen.
Heute ist vom ehemals blühenden jüdischen Leben in Osteuropa fast nichts mehr übrig. Gibt es noch Rabbiner, kommen sie oft aus Israel oder den USA, sie haben Mühe, mehr als die zehn Männer, die dafür nötig sind, zu einem Gottesdienst zusammenzubekommen. Dennoch gibt es viele Menschen in Osteuropa, die sich um den Erhalt des jüdischen Erbes bemühen. So versucht zum Beispiel Sasha Nazar, die Jakob Glanzer Schul zu retten, eine der letzten Synagogen im ehemaligen Lemberg, heute dem ukrainischen Lwiw. Viele Massengräber sind bis heute unbekannt und das Erbe der Schtetl ist massiv bedroht. In ein paar Jahren werden weitere Synagogen und historische Häuser der jüdischen Bevölkerung verschwunden sein.
Ein Film von Susanne Brahms und Rainer Krause, 2022, ca. 45 Min.
Osteuropa nach dem Holocaust – Vom Verschwinden der Schtetl
Weitere Informationen auf den Internetseiten des MDR
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