Förderung des Kulturgutes der Vertriebenen – Rede des Abgeordneten Matthias Sehling in der Debatte »Das gemeinsame historische Erbe für die Zukunft bewahren«

Online-Portal der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag • 17.12.2004

In der Debatte zum CDU/CSU-Antrag »Das gemeinsame historische Erbe für die Zukunft bewahren« führte der CSU-Abgeordnete Matthias Sehling folgendes aus:

Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen!

Neben dem zur Abstimmung stehenden Antrag der CDU/CSU-Fraktion »Das gemeinsame historische Erbe für die Zukunft bewahren« geht es äußerlich um die Frage, ob sich die von der Bundesregierung im Jahr 2000 im Alleingang beschlossene »Konzeption zur Erforschung und Präsentation deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa« bewährt hat oder nicht. Tatsächlich steckt inhaltlich viel mehr dahinter, unter anderem die Frage, ob es in dieser Zeit des europäischen Zusammenwachsens und des Aufeinander-Zugehens sachlich richtig sein kann, Kulturarbeit der Vertreibungsgebiete unter Ausgrenzung der Hauptbetroffenen, der Vertriebenen, gestalten und fördern zu wollen.

Die Position der Union lautet: Die Kulturarbeit der Vertreibungsgebiete kann weder ganz ohne die Heimatvertriebenen noch ganz allein durch die Heimatvertriebenen selbst geleistet werden. Verehrte Frau Vorrednerin, wir sind uns darüber einig: Es ist nicht Sache der Heimatvertriebenen allein.

Die Konzeption der Bundesregierung aus dem Jahr 2000 sagt aber in der Tendenz Nein zur Mitarbeit der Heimatvertriebenen. Diese Haltung der Bundesregierung entspricht nicht mehr dem Stand der öffentlichen Diskussion. Die Konzeption ist deshalb schon vier Jahre nach ihrem Wirksamwerden veraltet und muss eigentlich dringend erneuert werden.

Der Umfang der ehrenamtlich geleisteten Arbeit geht im Übrigen weit über das hinaus, was Bund und Länder offiziell über § 96 Bundesvertriebenengesetz fördern. Wir stehen hier vor einer beispielhaften Bandbreite von soziokultureller Breitenarbeit, die den Staat bei seiner Pflichtaufgabe nach § 96 wesentlich entlastet. Allein in Nordrhein-Westfalen – das haben wir schon bei der bereits erwähnten Anhörung in der Enquete-Kommission gehört – sind 56 ostdeutsche Heimatsammlungen und Heimatstuben auf örtlicher Ebene bekannt. Für den sudetendeutschen Bereich sind bundesweit etwa 120 solcher örtlichen und regionalen Heimatsammlungen aufgelistet. Niemand – das wurde da auch bekannt – kennt die genauen Zahlen. Eine realistische Schätzung dürfte ergeben, dass es bundesweit etwa 500 bis 600 privat durch Vereine geführte oder innerhalb kommunaler Museen betriebene Heimatsammlungen gibt, die ehrenamtlich betreut werden.

Die kulturelle Breitenarbeit der Heimatvertriebenen, die ich jetzt ausdrücklich betonen möchte, besteht übrigens auch aus einer Vielzahl ortsbezogener Heimatzeitungen und Heimatblätter mit Titeln wie Karlsbader Zeitung, Karlsbader Badeblatt oder auch Heimatbrücke für die ostpreußische Stadt Goldap in der Rominter Heide.

Das heißt für die CDU/CSU-Fraktion: Wir reden bei der Kulturarbeit der Vertreibungsgebiete – wohlgemerkt: es geht nicht um die Kulturarbeit der Vertriebenen – nicht nur von den wenigen großen öffentlich geförderten Einrichtungen, sondern auch von einer fast unüberschaubaren Vielzahl von kleinen Sammlungen und Heimatblättern. All das ist in der Konzeption der Bundesregierung leider nicht einmal erwähnt.

Neben diesen ehrenamtlichen Elementen spielen die vom Bund geförderten überregionalen Landesmuseen und die von den Ländern unterstützten Regionalmuseen sowie die überregionalen Forschungseinrichtungen und Stiftungen eine eigene Rolle. Es ist selbstverständlich, dass es da eine Förderungshierarchie geben muss. Insofern ist auch das Stichwort Regionalisierung nicht als schlecht zu bewerten.

In der Konzeption der Bundesregierung vom August 2000 wird dieses von mir erwähnte ehrenamtliche kulturelle Geschehen aber überhaupt nicht zur Kenntnis genommen, nicht einmal erwähnt, allenfalls in seiner Bedeutung heruntergespielt, wenn in einem kurzen Absatz des Konzepts ausschließlich von den wenigen Kulturreferenten die Rede ist, die jetzt auf die vier Landesmuseen und den Adalbert Stifter Verein verteilt sind. Dies verdeckt, dass bis zur Neukonzeption – das hat der Kollege Marschewski ansprechen wollen – Kulturreferenten in größerer Zahl die kulturelle Breitenarbeit bei den Verbänden organisieren konnten. Vor dem Beschluss der Bundesregierung im Jahr 2000 zu dieser Neukonzeption wäre eigentlich eine reale Bestandsaufnahme der Kulturarbeit insgesamt erforderlich gewesen. Diese Bestandsaufnahme wurde versäumt, war offenbar auch nicht gewollt.

So bleibt jedenfalls heute die Erkenntnis: Eine umfassende statistische und wissenschaftliche Aufarbeitung der derzeit geleisteten kulturellen Breitenarbeit fehlt und ist angesichts des gesetzlichen und im Einigungsvertrag bekräftigten Förderauftrags des § 96 Bundesvertriebenengesetz eigentlich dringend erforderlich.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, das wesentliche Anliegen unseres Antrages ist daher die stärkere Einbeziehung der Heimatvertriebenen in die Kulturarbeit der Vertreibungsgebiete. Die Konzeption der Bundesregierung aus dem Jahre 2000 ist, wie ich erwähnt habe, aufgrund tendenziell gegenläufiger Haltung leider überholt. Sie nimmt nicht auf – vielleicht konnte sie das auch noch nicht aufnehmen – die mittlerweile erreichte breite Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit über die Bedeutung der Vertreibung, über die Opferrolle der zwölf Millionen aus dem Osten vertriebenen Deutschen, nämlich aus Schlesien, aus Ostpreußen, aus dem Sudetenland und dem Karpatengebiet, aus dem donauschwäbischen Raum, aus Bessarabien oder aus anderen ehemals deutschen Siedlungsgebieten. Günter Grass hat sich damit in seiner Novelle Im Krebsgang auseinander gesetzt. Der Spiegel gab 2002 ein Sonderheft heraus. Die Zeitschrift GEO hat das jetzt im November zum Titelthema ihrer Ausgabe gemacht. Auch in Fernsehdiskussionen, in Dokumentationssendungen wie in denen von Professor Guido Knopp im ZDF oder in Hörfunkreihen wie vor kurzem im DeutschlandRadio widmet man sich diesem Thema. Der Publizist Ralph Giordano, Karl Kardinal Lehmann, die Publizistin Helga Hirsch, der ehemalige Vorsitzende des Zentralkomitees der deutschen Katholiken Professor Hans Maier und der ehemalige SPD-Vordenker Professor Peter Glotz, sie alle diskutieren über die Ursachen und Folgen der Vertreibung. Nur die Bundesregierung setzt in ihrer Kulturarbeitskonzeption weiterhin auf Ausgrenzung und Nichtbeachtung der Heimatvertriebenen, und das gerade beim wichtigsten Anliegen, bei der Bewahrung der kulturellen Identität. Ich frage Frau Staatsministerin Weiss und ihren zuständigen Abteilungsleiter, wer da den Zug und den Anschluss verpasst hat.

Frau Vizepräsidentin Antje Vollmer sah in ihrem Beitrag bei der Erstberatung dieses Antrages hier im Mai ausschließlich positive Wirkungen der Konzeption der Bundesregierung, die institutionelle Änderungen, die Einführung des Regionalprinzips und angeblich eine effizientere Verteilung der Gelder zum Ziel hat. Das genaue Gegenteil ist jedoch der Fall.

Aufgrund der Mittelstreichungen unter dem Vorwand, institutionelle Änderungen vornehmen zu wollen, ist jedenfalls die zentrale kulturelle Breitenarbeit der Landsmannschaften praktisch und wohl auch plangemäß zum Erliegen gekommen.

Das gilt zum Beispiel wegen des Fördermittelentzugs für die Kulturstiftung der Vertriebenen oder auch für den Ostdeutschen Kulturrat. Es ist im Übrigen schlicht Augenwischerei und völlig sachfremd, Museumswissenschaftler pro forma mit Aufgaben der kulturellen Breitenarbeit wie Chorabenden und Volkstanzveranstaltungen beauftragen zu wollen. Darin sind wir uns ja wohl eigentlich einig.

Ein weiteres Stichwort der Bundesregierung war die effizientere Verteilung der Gelder. Was das heißt, verehrte Frau Vollmer, haben wir ja seit 1998 gesehen. Die Bundesregierung hat die Gelder gemäß § 96 des Bundesvertriebenengesetzes von ehedem 23,5 Millionen Euro um die Hälfte auf nur noch 12,9 Millionen Euro im Haushalt 2005 zusammengestrichen. Ob die teilweise weitere Umverteilung der verbliebenen Bundesgelder nach § 96 von Kultureinrichtungen der Vertriebenen auf andere Einrichtungen kompetenzrechtlich nach dem Grundgesetz zulässig ist, erscheint, verehrte Frau Vollmer, angesichts des Gutachtens des Verfassungsrechtlers Professor Silagi wegen des Grundsatzes der engen Auslegung von Spezialermächtigungen äußerst zweifelhaft.

Die Heimatvertriebenen waren im Übrigen die Ersten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, die den Kontakt in die alte Heimat suchten und weiterhin suchen, und zwar ganz ohne Regierungsauftrag. Vorbildlich ist zum Beispiel die Landsmannschaft Ostpreußen, die kürzlich ihren 4. Kommunalpolitischen Kongress in Allenstein veranstaltete, zu dem 35 polnische Oberbürgermeister, Landräte und Bürgermeister sowie 30 ostdeutsche Heimatkreisvertreter zusammenkamen. Keine Nachhilfe in Verständigungsarbeit brauchen auch die Kultureinrichtungen der Vertriebenen: So veranstaltet zum Beispiel zurzeit das Egerland-Museum Marktredwitz gemeinsam mit dem tschechischen Kreismuseum in Karlsbad wieder einmal eine grenzüberschreitende Ausstellung. Es ist also nichts Neues, dass solche Dinge vorkommen.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Konzeption hat aber darüber hinaus auch systematische Fehler, die ich noch kurz ansprechen möchte. Diese Konzeption schrieb im Jahr 2000 einfach die damals bestehende Zahl der Landesmuseen fest. Die mindestens drei bestehenden Lücken - auch das ist in der Anhörung bekannt geworden - wurden nur in einem Fall gemildert: Für den Bereich der deutschen Heimatvertriebenen aus den baltischen Staaten ist eine Zusatzabteilung beim Ostpreußischen Landesmuseum vorgesehen. Völlig leer gingen die großen Gruppen der Sudetendeutschen und der Russlanddeutschen aus. Auch hier muss die Konzeption nachgebessert werden.

Wir brauchen endlich ein zentrales sudetendeutsches Museum. Für den Bund gibt es – außer den nicht eingeplanten Finanzmitteln natürlich – gemäß der selbst definierten Zuständigkeit für überregionale Landesmuseen eigentlich keinen sachlichen Grund, ein solches Vorhaben nicht alsbald in die Wirklichkeit umzusetzen. Statt zum Beispiel die Finanzmittel aus den Krankenkassen der Ostpreußen und der Sudetendeutschen aus der bisherigen Treuhänderschaft des Bundes sang- und klanglos im allgemeinen Bundeshaushalt verschwinden zu lassen, wie das zurzeit im Sozialrechts-Verwaltungsvereinfachungsgesetz geplant ist, könnten diese Mittel viel sinnvoller sachnah und gruppennah als Grundstock für die fehlenden Landesmuseen verwendet werden.

Meine Damen und Herren, unser Antrag spricht davon, den Vollzug der Konzeption bis zu einer Neuregelung auszusetzen. Die Konzeption der Bundesregierung muss überarbeitet werden. Sie muss jetzt auch den Beitritt der europäischen Nachbarstaaten berücksichtigen, sie muss, wie vom Bundesrat am 15. Oktober beschlossen, europäische Finanzmittel bei der EU abfordern und sie muss – das ist heute unser Hauptanliegen – unter Beteiligung der Heimatvertriebenen völlig neu gefasst werden.