Langsam schiebt sich Oleg ein paar Blumen weiter, blinzelt in Zeitlupe in die Sonne, dreht dann den Kopf etwas, öffnet den Schnabel und greift nach einem Löwenzahnblatt. Tereza behält ein Auge auf ihm, während sie die Blumenwiese um sich herum nach den leckersten Bissen für ihre fußballgroße Schildkröte sucht. Die beiden befinden sich vor einem baufälligen Schachtgebäude mitten auf dem Gelände des ehemaligen Eisenwerks Witkowitz, drei Kilometer vom Stadtzentrum von Ostrau/Ostrava entfernt. Einst war es das »Stahlherz der Republik« – und berüchtigt für die Umweltschäden.
Im Bergwerk wurde Kohle gefördert, die wurde verkokt und gleich nebenan in der Eisenhütte verarbeitet. Tereza ist Ärztin und kennt all die Krankheitsbilder, die das hervorgebracht hat. Heute aber fühlt sie sich hier bei der Futtersuche sicher. Vor mehr als 25 Jahren wurde die Produktion an diesem Standort eingestellt. Die Industriebrache fand eine neue Bestimmung: als Museum und Wissenschaftszentrum, als Kulturstätte, als günstiger Experimentierraum für Start-ups. Die Stadt erleidet heute die Insolvenz des letzten, vierten Stahlwerks, bis zu 9 000 Menschen droht die Arbeitslosigkeit. Doch an schwierige Transformationsprozesse sei man hier gewöhnt, sagt Tereza. »Meine Eltern dachten früher noch, dass Ostrau ohne die Stahlindustrie nicht überleben würde«, erzählt die 36-Jährige. »Aber auf diesem Gelände hier entstand doch etwas viel Besseres. Das macht mir wirklich Hoffnung auf eine schönere Zukunft für ganz Ostrau.«
Diese Hoffnung teilt Petr Lexa Přendík, der ein paar hundert Meter und eine Eisenbahnunterführung weiter mit einem riesigen Schlüssel vor dem Eingang des Rathauses wartet. Er ist ein Tausendsassa: Chronist Ostraus, Archivar, Museumsleiter, er organisiert Ausstellungen, schreibt Kataloge, bietet historische Führungen an. Die Arbeitersiedlung Witkowitz findet er dabei besonders spannend: Sie ist die Grundlage für die steile Bergbaukarriere Ostraus, hier wurden die zahlreichen zugezogenen Menschen untergebracht – heute aber befindet sich hier das ärmste Viertel der Stadt mit der höchsten Arbeitslosigkeit.
Auf dem weitläufigen Friedensplatz/Mírové Náměstí im Zentrum von Witkowitz ist dieser Gegensatz gut zu sehen. Neben prachtvollen historischen Gebäuden stehen verwahrloste Plattenbauten. Dicke oberirdische Leitungen begleiten die Besucherin überall. Auf den Bänken sitzen Männer und trinken Bier aus Flaschen.
Prunkstück des Platzes ist das Rathaus. Der rote Ziegelbau des Wiener Architekten Max von Ferstel stammt aus dem Jahr 1902. Er hat neogotische Fenster, auch neoromanische Elemente und Anleihen aus Neobarock und Neorenaissance. »Witkowitzer Jugendstil,« nennt Přendík diese Bauart, »einerseits konservativ, andererseits sehr progressiv.« Der 33-Jährige läuft die Stufen des majestätischen Treppenhauses mit den verglasten Jugendstilfenstern hinauf zum historischen Sitzungssaal mit breiten Flügeltüren und großem Balkon. Der, räumt Přendík grinsend ein, sei einfach nach dem Vorbild anderer reicher Städte, in denen es bereits einen Stadtrat gegeben habe, gebaut worden.
Witkowitz wurde erst sechs Jahre später, 1908, zur Stadt erhoben, dann aber auch schon bald nach Ostrau eingemeindet. Und sowieso bestimmte kein Bürgermeister, sondern der Generaldirektor der Eisenhütte über die Geschicke der Stadt.
»Der erste, der Witkowitz als sein Eigentum betrachtete, war der Erzbischof von Olmütz/Olomouc, Rudolf Johann Josef Rainer«, sagt der Historiker. Rainer war der jüngste Sohn des späteren Kaisers Leopold II. Vom Bergbauberater der Habsburger, Franz Xaver Riepl, erhielt er den Hinweis auf das Bauerndörfchen Witchendorff. Der Fluss Ostrawitza/Ostravice sorgte für Kühlwasser, es gab große Kohlevorräte und Erze in der Nähe. Und es lag genau auf der Strecke der geplanten Kaiser-Ferdinands-Nordbahn von Wien nach Krakau. Přendík wiegt den Kopf: »Rainer saß an der Quelle der Informationen. Unlauterer Wettbewerb würde man heutzutage wohl sagen.« Rainer kombinierte: Mit einer Eisenhütte in Witkowitz konnte er zuerst die Schienen, dann die Eisenbahnteile für die neue Trasse bauen und anschließend den Stahl per Zug in die ganze Welt verkaufen.
1828 gründete er die Rudolfshütte. Die Technik war hochmodern, das gewonnene Schmiedeeisen hochwertig und begehrt. Drei Jahre später starb der Erzbischof. Salomon Rothschild bekundete Interesse, doch erst 1843 verkaufte das Domkapitel ihm die Hütte. Zu diesem Zeitpunkt lebten 328 Menschen im Ort.
Petr Lexa PřendíkPřendík nimmt den Schlüssel und führt zu einer alten Tür, es geht hinauf in den Dachstuhl des Rathauses. Vorsichtig klettert er über das runde Deckengewölbe des Sitzungssaals zum Fenster. Von hier aus hat man einen idealen Überblick über den Friedensplatz, durch den die vielbefahrene Ruská-Straße eine Art Schneise schlägt. Am gegenüberliegenden Ende steht die backsteinerne St. Paulskirche, fertiggestellt im Jahr 1886. Der Kirchturm, verrät Přendík, bestand schon vorher – es war der alte Wasserturm. »Rothschild Palace« steht über dem Eingang des großen Backsteingebäudes rechter Hand. Es handelt sich um das ehemalige »Werkshotel« aus dem Jahr 1887. Damals wurden händeringend Unterkünfte gesucht. Denn Witkowitz drohte aus allen Nähten zu platzen. Auf 10 294 Menschen war es 1890 bereits gewachsen, zwanzig Jahre später waren es 23 151.
Und damit kommt Přendík auf seinen Helden zu sprechen, Paul Kupelwieser. Fast alle Ziegelbauten in Witkowitz seien dessen Vision zu verdanken. Přendík schließt den Dachboden wieder ab und begibt sich auf eine Führung durch das Viertel. Kupelwieser kam 1876 als neuer Direktor des Eisenwerks nach Witkowitz. Er war 33 Jahre alt und voller Ideen. »Er war überzeugt, ein zufriedener Arbeiter leistet mehr«, sagt Přendík. Přendík betritt das »U-Haus«, das Kupelwieser für Büroangestellte bauen ließ. Zwei Wohnungen teilten sich eine Toilette auf dem Flur, während die Arbeiter Plumpsklos im Hof hatten. Vom Balkon aus zeigt er auf die älteste Warenhalle der Stadt, in der es Produkte gab, die man nirgendwo sonst in der Region kaufen konnte: Zitronen, Mandarinen, sogar Kakao.
Dann schlägt er den Weg zum ersten Werkskrankenhaus des Habsburgerreichs ein, in dem nicht nur Unfälle behandelt, sondern auch Forschungen zu den klassischen Krankheiten der Montanindustrie betrieben wurden. Der Stadtbummel geht vorbei an einer Turnhalle, gebaut 1891, am Kindergarten, an der Schule für die Kinder der Arbeiter, an der Stelle, an der einmal die Synagoge gestanden hatte, bevor die Nationalsozialisten sie zerstörten.
Schließlich hält Přendík in der »Genossenschafts-Kolonie«. Kleine Häuser, unten zwei Räume, oben einer, alle mit Gärten, schließlich kamen die Arbeiter vom Land und waren gewohnt, ihr eigenes Gemüse anzubauen und eine Ziege oder Hühner zu halten. Es habe viele Kolonien gegeben. Saisonarbeiter schliefen in Sammelunterkünften mit bis zu dreißig Personen in einem Saal. Es gab aber auch Häuser für Angestellte und Villen für die Direktoren. Die Idee der Genossenschafts-Kolonie war revolutionär, findet Přendík: Die Miete war etwas höher als bei den anderen Unterkünften, dafür zahlten die Bewohner mit ihr die Häuser ab und sollten am Ende die Besitzer sein.
Der Plan, die Arbeiter langfristig an Witkowitz zu binden, scheiterte jedoch. In den 1960er Jahren wurde beschlossen, die Siedlung nach und nach abzutragen und stattdessen Lagerhallen, Fabriken und sogar eine Kernenergiezentrale zu bauen. Wer konnte, zog rechtzeitig weg. Auch Přendíks Großvater verließ das Viertel. Viele der leerstehenden Häuser wurden von Obdachlosen und Roma-Familien übernommen. Vorübergehend, wie man dachte. Zur geplanten Umstrukturierung kam es jedoch nicht mehr. Nach der Samtenen Revolution kollabierte die Stahlindustrie.
Heute sei nur noch ein Torso der ehemaligen Utopie übrig, klagt Přendík. Der aber steht mittlerweile unter Denkmalschutz. Jetzt kämpfe die Stadt darum, neue, junge Leute anzulocken, indem sie ihnen großzügige Unterstützung bei der Sanierung der alten Häuser anbietet. In zwanzig Jahren, glaubt Přendík, werde Witkowitz womöglich das coolste Viertel Ostraus sein. In dem Moment steigt der Bürgermeister aus seinem Auto, winkt kurz und verschwindet in seinem frisch renovierten Genossenschaftshaus. Der Garten sieht so aus, als würde sich Oleg hier ebenfalls äußerst wohl fühlen.
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Der Artikel erschien im MagazinKK – Kulturkorrespondenz östliches Europa
Ausgabe № 1443 | September/Oktober 2024
mit dem Schwerpunktthema:
Von Weinbergen zu Hochöfen – Mähren