Wenn man mit dem Zug am Brno hlavní nádraží, dem Hauptbahnhof der mährischen Hauptstadt Brünn und zweitgrößten Stadt Tschechiens, ankommt, die stilvolle k. u. k. Eingangshalle durchschreitet und ins Freie tritt, muss man nur noch den belebten Vorplatz überqueren, um über die Masarykstraße direkt ins Stadtzentrum zu gelangen. Hält man sich jedoch rechter Hand, stößt man auf den modernistischen Busbahnhof, 1948 von dem Architekten Bohuslav Fuchs konzipiert, direkt gegenüber dem altehrwürdigen imposanten Grandhotel gelegen. In wenigen Jahren soll an anderer Stelle ein neuer Hauptbahnhof gebaut werden. Dann soll genau hier, in bester Lage, das Jüdische Museum der Stadt Brünn entstehen.
Der tschechische Publizist und Schriftsteller Martin Reiner engagiert sich schon seit einigen Jahren in Brünn/Brno für den Bau eines Jüdischen Museums. Seit dem 25. Februar 2020 steht er dem Stiftungsfonds als erster Direktor vor. Im Juni 2021 initiierte er eine Tagung, auf der das Konzept erstmals in einem breiteren öffentlichen Rahmen diskutiert wurde. Für die Namensgebung wurde der Vorschlag des Publizisten Petr Brod aufgegriffen, der in Analogie zum Warschauer Jüdischen Museum Polin den Begriff Mehrin, die historische hebräische Bezeichnung für Mähren, empfiehlt.
Anders als bei Prag, das mit seinem jüdischen Viertel und rund 1.500 bekennenden Gemeindemitgliedern alljährlich Tausende Touristinnen und Touristen aus aller Welt anzieht, mag vielen im ersten Moment nicht unbedingt jüdisches Leben in den Sinn kommen, wenn sie an Brünn denken. Nach der Shoah war die einst blühende jüdische Gemeinde, die 1938 noch 12.000 Mitglieder zählte und mit Schulen, Synagogen und Vereinen ganz selbstverständlich zum Stadtbild gehörte, nahezu ausgelöscht. Heute sind nur noch an die 300 Personen registriert. Und doch gibt es durchaus ein aktives Gemeindeleben mit einer Reihe von Freizeit- und Bildungsangeboten.
Auch abseits der Gemeinde wird jüdisches Leben allmählich im Stadtbild wieder sichtbarer. Seit 2021 findet jeweils Anfang September das mehrtägige ŠTETL FEST statt. Die Initiatorin Eva Yildizová stellt ein beeindruckendes Programm auf die Beine, das von jüdischen wie nichtjüdischen Menschen bestens angenommen wird. An unterschiedlichsten Standorten wird getanzt, gesungen, gelesen und diskutiert. Yildizová erklärt ihre Motivation so: »Wir versuchen, die jüdische Kultur wieder zu einem natürlichen Teil der Stadt Brünn zu machen, wie sie es in der Geschichte war.«
Im 19. Jahrhundert war die Revolution von 1848 entscheidend für die Entwicklung des jüdischen Lebens in einigen Teilen Europas, auch in Mähren. Die Diskriminierungen gegenüber den jüdischen Bürgern wurden nicht gleich aufgehoben, aber der Anfang war gemacht. Jüdinnen und Juden erhielten endlich das Recht, sich in der Stadt anzusiedeln und ihre Religion frei auszuüben. Die jüdische Gemeinde Brünns wurde rasch zur größten in Mähren. 1869 lag die Gesamtbevölkerung bei 73.771 Menschen, davon waren 4.505 jüdisch.
Jüdische Unternehmerfamilien wie die Löw-Beers oder die Gomperz bekannten sich selbstbewusst zur deutschen Sprache und Kultur und trugen in der Textilbranche maßgeblich zum Aufstieg Brünns zum »mährischen Manchester« bei. Diese Entwicklung war eng mit Baruch Placzek (1834–1922) verbunden. Der seit 1860 amtierende Brünner Gemeinde- sowie ab 1884 mährische Landesrabbiner erwarb sich nicht nur durch sein geistliches Wirken große Verdienste, sondern auch durch seine naturwissenschaftlichen Forschungen sowie seinen Einsatz für die Evolutionslehre Charles Darwins. Im Garten seines am Spielberg/Špilberk gelegenen Hauses widmete er sich der Vogelbeobachtung.
Placzek soll auch mit dem in Brünn lebenden Augustinermönch Gregor Mendel, dem Begründer der modernen Genetik, befreundet gewesen sein. Laut Placzeks Nachfahren habe dieser sogar Mendels Erbsenversuche nach seinem Tod 1884 fortgesetzt. Brünn hatte zu dieser Zeit ausgezeichnete Schulen, ein reges Kulturleben und erstaunlich viele wissenschaftliche Gesellschaften. Es herrschte ein fortschrittliches Klima. Lehre und Forschung wurden eine große Bedeutung beigemessen, auch von den Vertretern der Religionen. Brünn war also ein ideales Umfeld für Hobbyforscher – wie schon die Mendel-Biografin Robin Marantz Henig feststellte. Gerade diese Offenheit beförderte auch die Entfaltung jüdischen Lebens.
Ihre Blütezeit erlebte die Jüdische Gemeinde Brünn aber in der Zwischenkriegszeit als eine der größten und bedeutendsten in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Als sich in Europa der Antisemitismus radikalisierte und oft Teil der Staatspolitik wurde, lebte die jüdische Bevölkerung in der vergleichsweise liberalen Tschechoslowakei zunächst noch selbstbestimmt und frei. Doch der Einmarsch der Deutschen am 15. März 1939 änderte alles. Am 16. November 1941 fuhr von Brünn der erste Transport in das Ghetto in Minsk. Nur ein paar Hundert Brünner Jüdinnen und Juden überlebten den Holocaust.
Visualisierung des künftigen Museums. Foto: © Museum Mehrin
Diese wechselvolle Geschichte sowie das reiche kulturelle Erbe sollen in dem geplanten Jüdischen Museum angemessen vermittelt und gewürdigt werden. Das beginnt bei der Architektur: Anfang September 2022 gewann der renommierte japanische Architekt Kengo Kuma, der auch Miturheber des Tokioter Olympia-Stadions ist, den international ausgeschriebenen Architekturwettbewerb für den Neubau des Museums mit der vollen Stimmzahl der Jury. Im Zentrum des markanten Gebäudes, das sich in Form eines scheinbar endlos weißen Bandes allmählich vom Bürgersteig erhebt, soll eine Eiche stehen – ein Symbol des Lebens als Erinnerung an die Millionen Opfer der Shoah.
Modell des künftigen Museums. Foto: © Museum MehrinNeben der originellen Gestaltung lobte die Jury die gelungene Eingliederung des Siegerbeitrags in die urbane Umgebung. Der Anspruch, ein Gebäude zu schaffen, das an die modern-funktionalistische Architekturgeschichte der Stadt anknüpft, wurde bereits im Vorfeld erhoben. Es sei nun an der Zeit, »für Brünn ein neues ikonisches Gebäude zu schaffen, das der Stadt seinen Stempel aufdrücken wird.« Die Villa Tugendhat aus dem Jahr 1930, erbaut für die gleichnamige jüdische Familie, heute UNESCO-Kulturerbe, sollte hier durchaus als Vorbild gesehen werden. In einem Interview mit Radio Prag führte Martin Reiner seine Vision, ein modernes Museum zu schaffen, näher aus.
Der Schwerpunkt liege nicht auf Sammlungsobjekten, keinesfalls soll es mit Dutzenden von Siebenarmigen Leuchtern gefüllt werden. Dieser Zugang sei veraltet. Vielmehr müssten die Besucherinnen und Besucher emotional erreicht werden, auch mit Geschichten des Alltäglichen. »Kraftvolle, berührende Lebensgeschichten sollen mit Hilfe der Technologie des 21. Jahrhunderts präsentiert werden«, so Reiner. Das Gebäude soll nicht nur das Museum, sondern auch ein Café und ein Restaurant beherbergen, um auch die Brünner Bevölkerung zu ermutigen, sich diesen kulturellen Raum anzueignen.
Dass Brünn ein eigenes Jüdisches Museum braucht, unabhängig von dem in Prag, versteht sich für ihn von selbst. In Mähren sei jüdische Identität schon immer viel wandelbarer und diverser gewesen als in Böhmen. Während die jüdische Bevölkerung in Böhmen bis ins 19. Jahrhundert vor allem in Dörfern lebte, die im Besitz des Adels waren – Prag ausgenommen –, konnte sie sich in Mähren in Städten mittlerer Größe ansiedeln, was zur Ausbildung verschiedener kulturell-religiöser Milieus führte. So diente das von Brünn nur rund fünfzig Kilometer entfernte Nikolsburg/Mikulov jahrhundertelang als ein wichtiges religiöses Zentrum, in dem auch Rabbiner ausgebildet wurden. Zudem herrschte ein anderes Migrationsmuster als in Böhmen: Häufig gab es enge familiäre Bezüge zwischen Mähren und dem nahen Wien, ab dem 19. Jahrhundert kam es zu einem regen Austausch zwischen Brünn und der Hauptstadt des Habsburgerreichs.
Brünn/Brno: Das Übergangsmuseum Malý Mehrin (»Kleines Mehrin«) zeigt Wechselausstellungen. Foto: © Petr Soldán
Im Frühjahr 2023 wurde als »Vorgeschmack« eine Art Übergangsmuseum mit einigen angemieteten Räumen eröffnet, das Malý Mehrin (»Kleines Mehrin«). Bisher gab es verschiedene Wechselausstellungen und auch für 2024 ist einiges geplant. Bis Ende März ist noch die von der Historikerin Táňa Klementová konzipierte Ausstellung NAŠE domy (»UNSERE Häuser«) über die »Arisierung« von Wohngebäuden zu sehen. Ab April werden Briefe gezeigt, die mährisch-jüdische Geschichten aufgreifen, so die Liebesbriefe eines jüdischen Zwangsarbeiters im Bergwerk Kukla (heute ein Freizeitpark) in der Nähe von Brünn an seine nichtjüdische Freundin. Zeitgleich erarbeitet ein wissenschaftliches Team bereits den Inhalt für die Dauerausstellung des Neubaus. Der wird voraussichtlich Hunderte von Millionen Kronen kosten. Wenn die Finanzierung durch die öffentliche Hand, also durch den tschechischen Staat oder die Europäische Union ausgeht, befürchtet Martin Reiner, dass es noch vier bis fünf Jahre dauern wird, bis mit dem Bau begonnen werden kann. Doch es gibt auch die Hoffnung, einen privaten Investor zu finden, der das Prozedere deutlich beschleunigen könnte. So oder so stimmt das beharrliche Engagement aller Beteiligten zuversichtlich, dass dieses Projekt erfolgreich fortgeführt werden wird.
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Der Artikel erschien im Magazin
KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa
Ausgabe № 1440 | März/April 2024
mit dem Schwerpunktthema:
Jüdisches Leben im östlichen Europa