In Brasilien leben etwa 300 000 Nachfahren pommerischer Einwanderer des 19. Jahrhunderts. Ihre Sprache wird in manchen Regionen noch in der Familie gesprochen, in anderen geht sie zugunsten des Portugiesischen zurück. Nach rund siebzig Jahren der Vernachlässigung und Marginalisierung hat Brasilien begonnen, Minderheitensprachen als nationales Kulturerbe anzuerkennen, den Spracherhalt zu fördern und sogar manche in der Schule zu unterrichten. Eine von ihnen ist Pommerisch: eine Sprache, die mündlich, privat, weitab vom Hochdeutschen, ohne Schrift und Standards von allgemeiner Gültigkeit, verwendet wird. Von Peter Rosenberg
November 2022 – Kulturkorrespondenz östliches Europa № 1432
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Die örtliche Folkloregruppe »Bergfreunde« tanzt fast jeden Samstag in der Fußgängerzone von Domingos Martins. Foto: © Michael Bussmann

274 Sprachen werden heute in Brasilien von 305 verschiedenen Ethnien gesprochen, davon sind etwa 56 sogenannte Einwanderersprachen und -sprachvarietäten, darunter italienische und deutsche, so zum Beispiel das Pommerische, das auf die Einwanderungszeit Mitte des 19. Jahrhunderts zurückgeht. Die Zukunft des Pommerischen war lange Zeit ungewiss. In Santa Maria de Jetibá, einer Stadt im Bundesstaat Espírito Santo, schildern die Lehrerinnen, dass sie Erstklässler haben, die nur mit Pommerisch in die Schule kommen und kein Portugiesisch sprechen. Andere dagegen berichten von älteren Schülern, bei denen das Pommerische als »Großmuttersprache« gilt und die sich dafür schämen.

Die meisten Pommernfamilien stammen aus dem heute polnischen Hinterpommern. Sie siedelten sich zunächst in mehreren Regionen im Süden Brasiliens an. Die spätere Gründung von Tochterkolonien führte zu einem weit verzweigten Netz von pommerischen Kolonien, das von Rio Grande do Sul über Espírito Santo bis nach Rondônia und ins Amazonasgebiet reicht. In den ersten fünfzig bis achtzig Jahren nach der Einwanderung stellten die aus Europa stammenden Gruppen zunächst und absichtsvoll einen weitgehend desintegrierten sozioökonomischen, kulturellen, sprachlichen »Fremdkörper« dar, der unter anderem der »Verweißung« der Bevölkerungsstruktur dienen sollte. Im Estado Novo setzte ab 1937 unter der natio­nalistischen Politik des Präsidenten Getúlio Vargas (1930–1945 und 1950–1954) ein Prozess der »Brasilianisierung« ein. Für die Deutschsprachigen bedeutete dies ein Verbot der Sprachverwendung, die Auflösung der zahlreichen deutschsprachigen Gemeindeschulen, ein Kanzelverbot für deutschsprachige Predigten und die Entlassung von Deutschlehrern, die oft gar nicht durch portugiesischsprachige ersetzt werden konnten. Sprachlich führte dies zu einem Prestigeverlust, aber zunächst nicht zum Sprachwechsel, sondern zur »Redialektalisierung«.

Unter dem Vorzeichen der ökonomischen Entwicklung zum »Schwellenland« und der infrastrukturellen Modernisierung des Landes findet seit den 1970er Jahren eine beschleunigte Assimilation der ethnischen Minderheiten statt. Seit einigen Jahren erhalten aber Einwanderersprachen und indigene Sprachen mehr Rechte und werden lokal sogar als zweite Amtssprache zugelassen. Im August 2022 wurden 22 Minderheitensprachen in 48 Gemeinden in elf Bundesstaaten als kooffizielle Sprache anerkannt. Am Rådhuus (Rathaus) hängt nun auch ein Schild in der Minderheitensprache.

Mit einer oder zwei Stunden Unterricht in der Woche wird aber noch keine Weitergabe an die junge Generation gesichert. Hier setzt nun ein aktuelles Schulprojekt in je zwei Orten in Espírito Santo und in Rio Grande do Sul an: Educação Plurilíngue. Auf Pommerisch und Portugiesisch soll in Zukunft im Anfangsunterricht Lesen und Schreiben gelernt werden, ab der dritten Klasse soll dann Hochdeutsch und ab der fünften Klasse Englisch dazukommen. Die erfahrene Lehrerin Lilia Stein aus Domingos Martins, die Lehrerfortbildungen mit Pommerisch-Lehrerinnen durchführt, erklärt, dass es den Kindern viel leichter fällt, Lesen und Schreiben zu lernen, wenn man ihnen beide Sprachen gestattet: A kann man ebenso gut an Ananas wie an Abacaxi lernen (Ananas auf Portugiesisch). Zählen wird mit Liedern auf Pommerisch von den »Ain, twai, drai … Bananen« gelernt. Damit wird beiden Bedürfnissen der Einheimischen entsprochen: sowohl die Sprache ihres kulturellen Erbes als auch die für Ausbildung und Beruf unerlässliche Landessprache zu lernen.

Die Öffnung für weitere Sprachen folgt dem Gedanken der »Brückensprache« (língua ponte): Wenn man einmal Pommerisch beherrscht, lassen sich das verwandte Deutsche, aber auch das Englische leichter lernen: Es fällt nicht schwer, den hochdeutschen Umlaut im Plural zu lernen (Apfel – Äpfel), wenn man ihn aus dem Pommerischen apel – äpel kennt. Und von hier aus ist auch der Weg zum englischen apple – apples nicht weit.

Die Bewohner der Gemeinden, besonders die Kinder, sind meist zweisprachig, manche sind stärker im Pommerischen, andere sind sicherer im Portugiesischen. Alle diese Aspekte sollen in der schulischen Einführung des Pommerischen berücksichtigt werden. Im August 2022 vereinbarte eine Projektgruppe aus drei Universitäten Brasiliens und Deutschlands mit den örtlichen Bürgermeistern, Bildungssekretären, Schulleitungen und Lehrerinnen die Einführung im Jahr 2023. Zuvor müssen allerdings noch einige Fragen von wissenschaftlichem, aber auch von praktischem Interesse beantwortet werden.

Auf dem Hauptplatz von Domingos Martins befindet sich ein Denkmal für die eingewanderten Deutschen. Foto: © Michael BussmannAuf dem Hauptplatz von Domingos Martins befindet sich ein Denkmal für die eingewanderten Deutschen. Foto: © Michael Bussmann
Standardisierung und schulische Norm

Schulunterricht braucht eine Norm. Das Pommerische in Brasilien ist aber nicht überall gleich. Regionale Varianten müssen berücksichtigt werden, sonst wird die Kooffizialisierung nicht gelingen, weil sie von der Gemeinschaft nicht unterstützt wird. Das damit verbundene Problem ist bekannt: Wählt man eine bestehende Regionalform als Standard aus, fühlen sich die Sprechenden aller anderen Varietäten als nunmehr »Dialektsprecherinnen und -sprecher« zurückgesetzt.
Stellt man aber künstlich eine Art Umgangspommerisch her, stößt man überall auf Widerstand. In den aktuellen Wörterbüchern und Schulmaterialien werden die regionalen Unterschiede deshalb durch die zusätzliche Angabe von regionalen Varianten berücksichtigt.

Wie soll das Pommerische geschrieben werden?

Voraussetzung des Pommerisch-Unterrichts in der Schule ist eine Orthografie des Pommerischen. Eine solche ist in einem 2006 erschienenen Wörterbuch von Ismael Tressmann entwickelt worden. Ihr folgen die meisten Beteiligten. Dies ist von großem Nutzen für alle schulischen Bemühungen, selbst wenn einzelne Details diskutiert werden können: So wird etwa von manchen kritisiert, dass durch einige Schreibweisen eine künstliche Entfernung vom Deutschen hergestellt wird, die vor allem dem Ziel dienen solle, das Pommerische als eigenständige Sprache darzustellen (etwa ij für langes i in ijs, »Eis«, oder ë für ei, ausgesprochen äi, in lërersch, »Lehrerin«).

Mündlichkeit der Gemeinschaft

Ein anderes Problem liegt darin, dass die Ausbildung der Schriftlichkeit in einer bis dato lediglich mündlichen Sprachform eine Herausforderung darstellt. Eltern fragen sich: Kann man Pommerisch als Unterrichtssprache verwenden, kann man auf Pommerisch Mathematik lernen, über Geschichte, Technik, Kultur sprechen? Die Einbeziehung der Elternschaft in Elternversammlungen, Umfragen, Zeitzeugenprojekten ist daher von Anfang an unerlässlich.

Bilinguale Alphabetisierung

Die meisten Eltern begrüßen den Schulunterricht des Pommerischen. Man muss aber auch die anderen überzeugen, dass dieser für sie und ihre Kinder von Vorteil ist. Letzterer liegt in einer gehobenen Mehrsprachigkeit. Die Zweisprachigkeit der Schülerinnen und Schüler zeigt sich im situationsabhängigen Wechseln zwischen den Sprachen. Zweisprachige Alphabetisierung lässt diesen bilingualen Sprachgebrauch im Anfangsunterricht zu. Ziel der Schule ist die Fähigkeit, sowohl Pommerisch als auch Portugiesisch auf hohem Niveau verwenden zu können. Die Sprache als Brücke zum Erlernen weiterer verwandter Sprachen zu nutzen, erweist die Mehrsprachigkeit zusätzlich als Bildungskapital.

Sinn der Kooffizialisierung

Die Idee, von der Wiege bis zur Bahre ein vollständiges Bildungswesen im Pommerischen aufzubauen, wäre sicher unrealistisch. Eine Revitalisierung wird nicht in einer Rolle rückwärts ins 19. Jahrhundert bestehen können. Die Zeit, in der Sprachinseln durch ihre bloße Isoliertheit Bestand hatten, ist – nicht nur in Brasilien – vorbei. Die Bedürfnisse der Minderheiten­angehörigen nach dem Erhalt ihrer Sprache sind selbstverständlich ernst zu nehmen. Aber sie sind Staatsangehörige ihrer Länder, die Jugend will reisen wie alle, ihre sozialen Netzwerke bestehen weltweit. Ethnische Kategorien stehen auch nicht in prinzipiellem Widerspruch zur nationalen Zugehörigkeit und zu einer modernen Orientierung über Landesgrenzen hinweg.

Die bilinguale Schulbildung soll dem Pommerischen neben der Landessprache Portugiesisch Anerkennung verschaffen. Als Brückensprache zum Deutschen und Englischen soll sie es den Sprechern erlauben, mit ihrer mehrsprachigen Kompetenz in Europa oder woanders zu studieren oder eine Landwirtschaftslehre zu machen, kurz: in die Welt des 21. Jahrhunderts zu gehen.

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Titelblatt: KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa | Ausgabe: Nr. 1432: November 2022Der Artikel erschien im Magazin
KK – Kulturkorrespondenz östliches Europa
Ausgabe № 1432 | November 2022

mit dem Schwerpunktthema:
Auswanderung: neues Leben in Übersee