Deutsche Welle • Monitor Ost- / Südosteuropa • 21.05.2004
Warschau,15.5.2004, KULISY, poln.
Die polnische Stadt Zgorzelec und die deutsche Stadt Görlitz waren lange Zeit durch die Politik und durch den Fluss Neiße voneinander getrennt. Aber nur bis zu dem Tag, an dem die Einwohner der beiden Städte sich sowohl gegen die Politik als auch gegen die geltenden Gesetze erhoben. Sie haben sich nämlich lange vor dem Beitritt Polens zur EU ein inoffizielles gemeinsames Europa geschaffen.
Alles begann mit den Piroggen, die über den Fluss »flogen«. Eines Tages haben die Polen (oder doch die Deutschen, das weiß heute niemand mehr genau) die Deutschen auf der anderen Seite des Flusses beobachtet und konnten sich nicht mehr zurückhalten: »Wir haben die Gesichter unserer westlichen Nachbarn gut gekannt, aber die Politiker erlaubten uns nicht, miteinander zu sprechen und uns normal zu begegnen. Viele Jahre lebten wir hinter einem durchsichtigen Vorhang. Wir fanden aber dann doch eine Methode, unseren Nachbarn zu zeigen, dass sie wichtig für uns sind«, erklärt Elzbieta Lech-Gotthard, die Eigentümerin des Restaurants »Piwnica Staromiejska« in Zgorzelec und fügt hinzu: »Wir wollten, dass unsere Nachbarn unser bestes Gericht d. h. russische Piroggen probieren. Vor drei Jahren wurden diese historischen Piroggen gekocht und dann haben sie die Grenze in einem Korb, der an einer Leine, die zwischen den zwei Ufern der Neiße befestigt war, passiert. Die Deutschen schickten dann Pfannekuchen mit Schlagsahne in diesem Korb sowie das Geld für die Piroggen zurück. Daraus entstand eine politische Affäre. Die polnischen Zollbeamten haben diese Geste als einen einfachen Schmuggel bewertet«. (...)
Auch der stellvertretende Bürgermeister von Zgorzelec wollte gegen die strengen Gesetze protestieren, die zwei Städte von einander isolieren. Vor zwei Jahren ist er ebenfalls mit Hilfe einer an den beiden Ufern befestigten Leine nach Görlitz gekommen: Ohne Pass, aber mit der polnischen und der deutschen Flagge. Er winkte den polnischen und den deutschen Zuschauern zu und dann ging er mit dem Bürgermeister von Görlitz Bier trinken: »Ich wollte mir selbst und den anderen beweisen, dass Grenzen unsinnig sind und dass es höchste Zeit ist, sie abzuschaffen«, sagte Ireneusz Aniszkiewicz, der stellvertretende Bürgermeister von Zgorzelec (...) und fügt hinzu: »Die Bewohner von Görlitz haben viel Geld für Hilfe für kranke polnische Kinder gesammelt. Sie spüren, dass sie damit ihren direkten Nachbarn helfen, und man soll den Nachbarn helfen, weil gute Nachbarschaft ein Geschenk des Himmels ist«, sagt Ireneusz Aniszkiewicz.
»Die Zollbeamten fassten sich an dem Kopf, als ich ein Geschütz aus Görlitz nach Zgorzelec transportierte, aber ich erklärte ihnen, dass dieses Geschütz in derselben Stadt bleibt«, berichtet der stellvertretende Bürgermeister von Zgorzelec. Aber die Wahrheit ist, dass Zgorzelec und Görlitz seit langem nicht mehr dieselbe Stadt sind: Auf der Potsdamer Konferenz wurde von den Politikern die Teilung dieser Stadt vereinbart. Die Deutschen wurden auf das westliche Ufer der Neiße umgesiedelt und wurden dann zu Bürgern der DDR. An das Ostufer wurden dann Polen aus den ehemaligen Ostgebieten Polens umgesiedelt. Die Polen bekamen die Vororte von Görlitz, die ein Achtel der gesamten Stadt Görlitz vor dem Krieg bildeten. Über Jahre hindurch mochten sich die Nachbarn nicht besonders, obwohl die Staaten Volksrepublik Polen und die Deutsche Demokratische Republik offiziell durch eine kommunistische Freundschaft verbunden waren. Die Nachbarn hatten aber auch keine Möglichkeit sich kennen zu lernen, da die Grenzen gut bewacht und dicht waren. (…)
Die heutige Stadt Zgorzelec unterscheidet sich ziemlich von Görlitz. Zgorzelec ist viel kleiner und vor allem viel ärmer und schmutziger. Görlitz stellt eine renovierte Perle der deutschen Architektur dar. (…) »Dort wo Görlitz anfängt, gibt es keine leeren Bierdosen auf der Straße, es gibt auch keine so Armen wie mich. Dort leben sowieso nur wenige Menschen«, sagt eine Polin.
»Ich möchte nicht verhehlen, dass wir ein Problem haben. Unsere Stadt wird zu einer Geisterstadt, oder – wenn man so will – zu einem Sterbehaus. Aus diesem Grunde brauchen wir Zgorzelec wie die Luft zum Atmen«, erklärt Ulf Grossmann, der stellvertretende Bürgermeister von Görlitz.
Noch in den achtziger Jahren lebten in Görlitz fast 100.000 Einwohner. Nach der Wiedervereinigung Deutschlands zogen 40.000 vor allem junge Menschen in den Westen. Görlitz wurde zu einer Stadt der Rentner und der Arbeitslosen. (…)
Vor einigen Jahren kamen die Bürgermeister der beiden Städte auf die Idee, die leeren Wohnungen in Görlitz an polnische Familien zu vermieten, die seit langem auf eine Wohnung warten. »Bisher blieb dies jedoch nur eine Idee, weil die Wohnungen in Görlitz zu teuer für die Polen sind“, sagte Ulf Grossmann.
»Dies kann sich jedoch ändern«, meint Lutz Schröder, Immobilienmakler aus Görlitz und fügt hinzu: »Die Polen haben Angst, dass die Deutschen sie aufkaufen, und ich habe die Hoffnung, dass es umgekehrt sein wird. Ich glaube, dass die Polen nach dem Beitritt ihres Landes zur EU mehr verdienen werden und dass sie sich dann die deutschen Mieten leisten können.«
Für die Deutschen aus Görlitz bilden die Friseure und die Ärzte in Zgorzelec eine echte Goldgrube, obwohl man polnische Ärzte, die auf der anderen Seite des Flusses legal arbeiten, an den Fingern einer Hand abzählen kann. Die Statistiken besagen, dass in Görlitz insgesamt 500 Polen legal arbeiten. Die Mehrheit von ihnen wohnt in Zgorzelec und kommt mit dem bisher einzigen internationalen Bus, in dem sowohl in Euro als auch in Złoty bezahlt werden kann, zur Arbeit. Mit Złoty kann man aber auch in vielen Geschäften in Görlitz bezahlen. Die Einwohner von Zgorzelec kaufen dort vor allem Markenschuhe, Markencreme und Markenparfüm. Diese Waren sind billiger als in Polen und werden seltener gefälscht.
»Unser gemeinsames Europa besteht darin, dass die Ladenbesitzer vom anderen Ufer früher die Polen mit Dieben assoziierten und jetzt lernen sie fleißig Polnisch«, sagt der stellvertretende Bürgermeister Aniszkiewicz. Die Deutschen kaufen in Zgorzelec fast alles, und das in großen Mengen, d. h. billigeren Kraftstoff, Keramik, Unterwäsche und Kohl. Seitdem in Zgorzelec ein Supermarkt gebaut wurde, pilgern die Deutschen dahin. (…) Von dem früheren Markt in der Nähe der Grenze sind heute nur Ruinen geblieben.
»Die Menschen brauchen aber nach wie vor Übersetzungen, darum habe ich entschieden, diese Angelegenheit selbst in die Hand zu nehmen«, erklärt Jozef, Grochala, Lehrer a. D., der der polnischen Jugend die deutsche und der deutschen Jugend die polnische Sprache beibringt. (…)
Die Bewohner von Görlitz und Zgorzelec unterscheidet heute vor allem eines: Der Inhalt ihrer Brieftasche. Die reiche und die arme Welt wird durch den Fluss getrennt. Auf der polnischen Seite füttern die arbeitslosen Familien die Enten, die sowieso lieber an dem deutschen Ufer schlafen. Auf dem polnischen Boulevard trinken junge Leute billigen Wein. Am Grenzübergang versucht ein angetrunkener polnischer Arbeitsloser die Scheiben der deutschen Autos zu waschen. Auf der deutschen Seite wäscht aber keiner die Scheiben, niemand trinkt billigen Wein und auf der Straße sieht man nur nüchterne ältere Menschen. (…) (sta)
- Ein inoffizielles deutsch-polnisches Bündnis
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