Deutsche Welle • Monitor Ost- / Südosteuropa • 21.04.2004
Budapest, 21.4.2004, PESTER LLOYD, deutsch
Anlässlich seines Staatsbesuchs bat der PESTER LLOYD Johannes Rau um ein Interview. Nachstehend äußert sich der Bundespräsident unter anderem zu Fragen der bilateralen Beziehungen, zu EU-Angelegenheiten und zur Lage der Deutschen in Ungarn.
Pester Lloyd: Ungarn wurde von Deutschland unter den ostmitteleuropäischen Staaten während und nach der Wende besonders hoch geschätzt. Welchen Stellenwert nimmt das Land heute, nun auch als neues EU-Mitglied, für die Bundesrepublik ein?
Johannes Rau: Deutschland und Ungarn haben sehr enge und freundschaftliche Beziehungen. Das hat sich seit der Wende überhaupt nicht geändert. Nehmen Sie es als ein Zeichen deutscher Wertschätzung Ungarns, dass ich meinen letzten Staatsbesuch in Ihr Land unternehme. Ich wollte unter echten Freunden sein. Ungarn ist einer unserer wichtigsten Partner in Zentraleuropa. Wir sind durch Kultur und Geschichte, und zunehmend durch die Wirtschaft, engstes miteinander verbunden. Die gemeinsame Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist eine notwendige und logische Folge des Verschwindens der Blöcke in Europa. Die Spaltung Europas ist endgültig beendet und unsere Länder rücken näher zusammen.
Pester Lloyd: Deutsches Kapital spielt eine bestimmende Rolle in der ungarischen Wirtschaft, auch die kulturellen, politischen und menschlichen Kontakte sind vielseitig. Wie kann, wie soll es weitergehen? Sehen Sie etwa die Möglichkeit zur Anregung eines Dialogs der verfeindeten Parlamentsparteien, überhaupt zur Entwicklung einer demokratischen politischen Kultur von Außen beizutragen?
Johannes Rau: Ein Drittel der ausländischen Investitionen in Ungarn kommt aus Deutschland. Das ist in der Tat ein sehr beachtliches Engagement. Es zeugt von der Attraktivität des Standorts Ungarn und belegt das Vertrauen, das unserer Wirtschaft in die hiesige Entwicklung hat. Diese enge wirtschaftliche Verflechtung wird sich mit der gemeinsamen EU-Mitgliedschaft weiterentwickeln. Auch auf der politischen Ebene werden sich die Kontakte vermehren: Denken Sie nur an die vielen Treffen aller unserer Regierungsmitglieder in Brüssel, die jetzt zum – bereits dichten – Besucherverkehr zwischen Berlin und Budapest hinzukommen. Und was Gesellschaft und Kultur angeht: wenn die Grenzen nach dem Beitritt offener werden, werden sich die Menschen leichter und häufiger begegnen. Wir haben uns gegenseitig so viel zu geben, dass ich hier die schönsten Aussichten voraussage. Zur ungarischen Innenpolitik gebe ich freilich keine Ratschläge. Aber einen Hinweis erlaube ich mir: die ungarischen Parteien werden sich in die europäischen Parteienverbände eingliedern und europäische Politik im Europäischen Parlament mitgestalten. Das gibt Verantwortung über die nationale Politik hinaus – und das bleibt nicht ohne Auswirkungen.
Pester Lloyd: Für die Ungarn ist es enttäuschend, dass eben die Bundesrepublik bei der Freizügigkeit der Arbeitskräfte auch für dieses Land die Schranken (potentiell für sieben Jahre) niedergelassen hat, obwohl eben Ungarn nicht mit einer Überflutung des deutschen Arbeitsmarktes droht. Kann man in absehbarer Zeit mit Erleichterungen rechnen?
Johannes Rau: Deutschland hat in den Beitrittsverhandlungen früh und offen angekündigt, dass die deutsche Arbeitsmarktsituation leider Übergangsregelungen für die Freizügigkeit notwendig macht. Das wird aber nicht auf Dauer sein und muss zudem nach bestimmten Zeiträumen überprüft werden. Wir wünschen uns alle sehr, dass diese Überprüfungen eine Verkürzung der Übergangsfrist erlauben werden. Der Eindruck, Deutschland würde die Schranken herunterlassen, ist mit Sicherheit falsch. Trotz Übergangsfristen werden sich in einigen Bereichen die Beschäftigungsmöglichkeiten für Ungarn in Deutschland verbessern. Es werden also mehr als die derzeit 30.000 Ungarn jährlich in Deutschland arbeiten können.
Pester Lloyd: Die ungarndeutsche Minderheit ist, trotz beträchtlicher Hilfe seitens der Bundesrepublik, vielfach – auch sprachlich – integriert. Wie sehen Sie ihre Zukunft? Gleichzeitig ließen sich Zehntausende Deutsche seit der Wende im Land nieder. Welche Rolle sehen Sie für diese – und könnten bzw. sollten diese zwei Gruppen zusammengeführt werden?
Johannes Rau: Viele Ungarndeutsche haben in den Nachkriegsjahrzehnten ihre Muttersprache nicht an die folgenden Generationen weitergeben können. Das ist erfreulicherweise längst vorbei. Ich freue mich sehr darüber, dass heute viele Menschen ungarndeutscher Herkunft die deutsche Sprache wiederentdecken. Die Bedeutung des Deutschen in Ungarn ist bestimmt auch darauf zurückzuführen. Der Originalartikel auf den Internet-Seiten der Deutschen Welle
Die Ungarndeutschen sind eine ganz wichtige Brücke zwischen unseren Ländern. Ich bin glücklich darüber, dass sie in der ungarischen Gesellschaft hohes Ansehen haben. Viele Ungarn mit deutschen Wurzeln bekleiden hohe Ämter. Die Vertreter der Ungarndeutschen bestätigen mir, dass sie von der ungarischen Regierung vorbildlich behandelt werden. Ihre Rechte als Minderheit werden von den offiziellen Stellen gerne und vollständig beachtet. Deutschland wird seine Hilfen für die Ungarndeutschen, die nicht nur auf die Sprache, sondern auch auf den gemeinschaftlichen Zusammenhalt und das Kulturleben zielen, fortsetzen. Wichtig ist auch, dass die deutschsprachigen Medien, wie diese Zeitung, kräftig und gesund bleiben.