Ein literarischer Stadtführer zeigt die wechselvolle Geschichte der Stadt
Sabine Rothemann
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Schieb, Roswitha: Literarischer Reiseführer Breslau. 404 S., Integralbroschur, zahlr. farb. u. s-w. Abb., zweispr. Karten, Zeittafel, Kurzbiographien, Straßennamenkonkordanz, Namensregister. Potsdam: Deutsches Kulturforum, 2003. € [D] 19,80 / SFr 33

Die Autorin Roswitha Schieb vereinigt in ihrem Literarischen Reiseführer Breslau sieben unterschiedlich geprägte Stadtspaziergänge zu einem klassischen, detailreichen Kultur-Stadtführer, der Breslaus bewegter Geschichte und den wechselnden politischen Zugehörigkeiten der Stadt nachspürt. • Eine Rezension aus den Frankfurter Heften

»Breslau blüht auf« lautet knapp und zutreffend der Eingangssatz in einem neuen Stadt-Führer zu Breslau der besonderen Art. Es ist ein Lesereiseführer, der von den Stadtbezirken ausgehend über bestimmte Straßenzüge bis zu einzelnen Häusern, die heute noch oder wieder in Breslau zu finden sind, die verschiedenen Einflüsse der Odermetropole aufzeigt, einer Stadt, die über Jahrhunderte der Kreuzungspunkt zwischen der Bernsteinstraße von Norden nach Süden und der Handelsstraße von Osten nach Westen war.

Die Autorin Roswitha Schieb vereinigt in ihrem Literarischen Reiseführer Breslau sieben unterschiedlich geprägte Stadtspaziergänge zu einem klassischen, detailreichen Kultur-Stadtführer, der Breslaus bewegter Geschichte und den wechselnden politischen Zugehörigkeiten der Stadt nachspürt. Schriftliche Zeugnisse wie Romane, Erzählungen, Lyrik, Tagebücher aber auch historische und nicht-literarische Dokumente kommen ausführlich zu Wort. So stellen die Routen, denen jeweils ein zweisprachiger Stadtbezirksplan vorangestellt ist, literarisch aussagekräftige Schwerpunkte der städtischen Kulturgeschichte ins Zentrum. Die Gänge folgen dabei der topografischen Aufteilung von innen nach außen. Vom Stadtkern mit seinem bedeutenden Rathaus, dem merkantilen Breslau, führt der Weg zur Sandinsel, der katholischen Welt. Über den Universitätskomplex, in dem die Bedeutung der Stadt in Wissenschaft und Kunst aufgezeigt wird, nähert sich der durch die Stadt spazierende Leser dem preußischem und jüdischem Breslau außerhalb der Altstadt. Der sechste Spaziergang führt in den östlichen Stadtteil, ins Breslau des 20. Jahrhunderts, und der letzte schließlich verläuft vom Hauptbahnhof in den Breslauer Süden.

Diese ehemals im 19. Jahrhundert angelegte Südstadt wurde im Zweiten Weltkrieg weitgehend zerstört. Markanterweise ist es der Jüdische Friedhof, der mit seiner reichen Grabmalarchitektur Auskunft über das Stadtleben bis 1945 gibt und dem Besucher vorführt, dass Breslau eine deutsche Stadt war. Roswitha Schieb bezeichnet dies als »bittere Ironie der Geschichte [...] Der Friedhof präsentiert Breslau mit Grabsteinen in polnischer, englischer und russischer Sprache, aber auch als eine europäische Metropole.«

Besonderes Augenmerk legt die Autorin auf die deutschsprachigen literarischen und historischen Dokumentationen über die Stadt. Die will sie in Erinnerung bringen. Dabei geht er ihr nicht darum, einer revanchistischen Haltung, wie sie etwa in einigen Vertriebenenverbänden Praxis ist, Vorschub zu leisten, aber es ist ihr Anliegen, an der bereits seit über einem Jahrzehnt von den Polen selbst vollzogenen sinnvollen Öffnung hin zu einem historischen Bewusstsein und einem dezidierten intellektuellem Interesse an Breslaus Vergangenheit mitzuwirken, um so das Tabu der Vertriebenenproblematik hinter sich zu lassen.

Radikaler Bruch in der Stadtgeschichte

1953 konnte man im Großen Brockhaus noch lesen: »Breslau, (war) die bedeutendste Großstadt Schlesiens und Ostdeutschlands ... Die gesamte deutsche Bevölkerung wurde nach 1945 vertrieben und durch mittel- und ostpolnische Bevölkerungsteile, die z.T. zwangsweise umgesiedelt wurden, ersetzt.« Beide Sätze wurden in der Auflage von 1978 gestrichen. Ebensolche Formulierungen und deren Streichungen finden sich in den Brockhaus Enzyklopädien von 1967 und 1987.

Keine andere europäische Stadt vergleichbarer Größe hat einen ähnlich radikalen Bruch in ihrer Stadtgeschichte zu verzeichnen wie Breslau nach 1945: In nur drei Jahren wurde die gesamte noch verbliebene deutsche Bevölkerung nach Westen (Deutschland West und Ost) ausgesiedelt und durch polnische Siedler aus dem Osten ersetzt. Die Erkenntnissuche in den Brüchen des bestehenden Stadtbildes bildet den geistigen Hintergrund von Schiebs Stadtführer. Dies macht die deskriptive, einer objektiven Darstellungsweise verbundene Grundhaltung deutlich. Über die wiedergegebenen Erlebnisberichte und zitierten Tagebuchaufzeichnungen kommt der Bruch unmittelbar zu Tage. Und die Dimensionen dieses so genannten »Bevölkerungstransfers« waren groß. Acht bis zehn Millionen Menschen wurden innerhalb eines Zeitraums von vier Jahren über Hunderte von Kilometern hin- und hergeschoben, darunter 3,5 Millionen Deutsche, die Schlesien verlassen mussten. Die meisten neuen Einwohner kamen aus den an Stalins Sowjetunion verloren gegangenen ostpolnischen Gebieten. Um die Neuankömmlinge heimisch werden zu lassen, um vor allem auch den politischen Anspruch auf Breslau und die Gebiete östlich der Oder-Neiße-Grenze dauerhaft abzusichern, wurde eine vollständig polnische Stadtgeschichte erfunden.

Fast alles, was an die deutschen Phasen der Geschichte dieser Stadt erinnerte, ist von den kommunistischen Machthabern im Nachkriegspolen zurückgedrängt, überschrieben und unsichtbar gemacht worden. Eine jahrhundertlange, komplexe Beziehungsgeschichte sollte auf eine einzige Traditionslinie reduziert werden. Das belegen die Umbenennungsaktionen von deutschen Straßennamen, von Gebäuden und Denkmälern. Umgekehrt wurde die polnische Vergangenheit Breslaus als durchgängig herausgestellt, vor allem mit Blick auf die Traditionen des piastischen Polen seit dem zehnten Jahrhundert. Auch das ist historisch fragwürdig. Selbstverständlich gab es auch aus preußischer Perspektive einseitige Darstellungen der Stadtgeschichte, von den Germanisierungsphantasien der ns-Geschichtsdeutung ganz zu schweigen. Die Stadt selbst aber zeigt die Grenzen der Überschreibungs- und Verdrängungsversuche auf. So ließen noch die abgeschlagenen Inschriften an Häusern und Denkmälern die Lücken und Brüche im Stadtkörper erkennen, dass es andere Phasen der Stadtgeschichte gegeben haben musste.

Ein Interesse für das Andere

Nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft in Ostmitteleuropa erwachte ein neues historisches Interesse. Bislang tabuisierte Bereiche der Nationalgeschichte wurden ebenso aufgearbeitet wie historische Erzählungen, die den nationalen Historiographien nur am Rande angehörten. Das Interesse für das Andere ging dabei einher mit der Überzeugung, durch die Kenntnis der Geschichte neue lokale und regionale Identität schöpfen zu können, gegen die alten ideologisierten historischen Erzählungen neue politische Entwicklungen zu legitimieren und so eine Zivilgesellschaft zu etablieren, die eine Position im Gefüge von Staat und Nationalkultur findet. Breslau – Wroclaw – Vratislavia, diese unterschiedlichen Bezeichnungen sind ein Beispiel für das anhaltende Interesse an einer fremden, nunmehr aus der polonitätsgeschichtlichen Erzählung herausgelösten Geschichte der Stadt. Der Breslauer Schriftsteller Andrzej Zawada beschreibt 1996 in seinem Essay Breslaw die Atmosphäre der Nachkriegsjahrzehnte. Er entwirft ein Panorama des gegenwärtigen Geisteslebens und erinnert an zahlreiche deutsche Schriftsteller in Breslau. Und er schließt: »An viele andere müssen wir erst erinnert werden. Weil wir alle von hier sind: Polen, Deutsche, Tschechen, Juden. Wir sind alle Schlesier, alle Breslauer.« Interessiert sind heute nicht nur die lokalen Eliten, sondern auch größere Bevölkerungskreise. Ein schönes Beispiel hierfür ist die Wiedereröffnung des aufwendig restaurierten »Schweidnitzer Kellers« im Breslauer Rathaus 2002, in dem schon im 14. Jahrhundert Bier ausgeschenkt wurde. An seinem Eingang ist nun eine Tafel mit einer Liste von deutschen und polnischen Persönlichkeiten, die dort verkehrten, angebracht: Kaiser Sigismund, Lessing, Eichendorff, Joséf Wibicki, Chopin, Lassalle, Juliusz Slowacki, Karl Eduart von Holtei, Gustav Freytag, Adolph von Menzel, Gerhart Hauptmann, Otto Müller, Hans Poelzig, Alfred Kerr, Paul Löbe.

Neben diese und noch weitere Persönlichkeiten, die für die Kulturgeschichte Breslaus von Bedeutung sind, wie der Physiker Max Born, Norbert Elias, Hans-Georg Gadamer und die Theologin Edith Stein, Autoren, die Breslau »aus längerem eigenen Erleben und gleichsam von innen heraus beschreiben«, stellt Roswitha Schieb Nachrichten von Durchreisenden zur Seite. Hier wären Ricarda Huch und John Quincy Adams, der spätere amerikanische Präsident, zu nennen. Beide kennzeichnet die Unbefangenheit und die reflektierende Distanz eines Blickes von Außen.

An der Schnittstelle der Innen- und Außenwahrnehmung ist der Philosoph Günther Anders angesiedelt. In seinen Tagebüchern 1941–1966 mit dem Titel Die Schrift an der Wand widmet er sich im dritten Themenkomplex »Der Besuch im Hades« seinem Besuch in Auschwitz und seiner Vaterstadt Breslau. Als einer, der den Gaskammern durch die Emigration entkam, konfrontiert er sich mit dem Schicksal seines Volkes, er sucht die Stätten seiner Kindheit in einer Stadt, die dem Erdboden gleich gemacht worden war, erinnert sich seiner Mutter, seines Vaters, des Psychologen William Stern und dessen Schülerin, der zum Katholizismus konvertierten Jüdin Edith Stein. In der 1966 im Wiederaufbau befindlichen Stadt bindet Anders seine Erinnerungen an das wilhelminische, jüdisch-assimilierte Breslau. Hierbei wirft der Philosoph das Problem der Vermitteltheit von persönlichem Schicksal und Geschichte auf.

So wird mit dem literarischen Reiseführer der geistesgeschichtliche und literarische Austausch über die Jahrhunderte wieder lebendig und ein überaus differenzierter Einblick auch in das vergangene Leben Breslaus eröffnet. Dem Leser und Besucher werden die historischen Schichten der Stadt mosaikartig aus verschiedensten Blickwinkeln vor Augen geführt. Darüber hinaus könnten die »Spaziergänge« mit ihrer breit gefächerten Auswahl an zitierten Zeitzeugnissen den Besuch von Breslau zu einer Reise in die Literatur werden lassen.

(Quelle: Frankfurter Hefte 1+2/2004, S. 83ff. Veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung der Frankfurter Hefte.)