Budapest, November 2003, SONNTAGSBLATT 5/2003, S. 5 ff., deutsch
Vor fünfzig Jahren wurden ungarndeutsche Kriegsgefangene nach neun und mehr Jahren sowjetischer und ungarischer Gefangenschaft im Dezember 1953 entlassen. An dieses Ereignis und an dieses traurige Kapitel diskriminierender ethnischer Politik zu Beginn der fünfziger Jahre erinnerten sich in diesen Tagen die ehemaligen Tiszalöker Kriegsgefangenen, die, nachdem sie aus russischer Gefangenschaft entlassen worden waren, weitere drei Jahre von ihrem eigenen »Vaterland« in Zwangsarbeitslagern in Tiszalök und Kazincbarcika, auch noch Kecskemet, rücksichtslos ausgebeutet und geschunden wurden. Sie hatten über Jahre keinen Kontakt zur Außenwelt und als sie Ende 1953 entlassen wurden, wussten sie bereits, dass die meisten in Ungarn keine Heimat mehr hatten, weil ihre Familien vertrieben und ihr Eigentum an andere verteilt worden war. Sie, die sich so viele Jahre nach ihren Angehörigen sehnten und endlich das vertraute Heim betreten wollten, wurden in eine andere, eine fremde Welt entlassen. […]
Aus der Gefangenschaft in die Gefangenschaft – Wie ist das geschehen?
Die Ungarndeutschen, die im Zweiten Weltkrieg beim deutschen Militär Dienst geleistet hatten, wurden in sowjetischer Kriegsgefangenschaft bei der Repatriierung benachteiligt. Als 1948 die ungarischen Kriegsgefangenen entlassen wurden, hieß es, die Ungarndeutschen seien keine Ungarn, sie seien Deutsche und würden deshalb noch nicht entlassen. Als dann 1949 die Deutschen entlassen wurden, hieß es, sie seien Ungarn, weil sie in Ungarn geboren sind und würden deshalb noch zurückbehalten. Erst 1950, also nach fünf- und mehrjähriger Kriegsgefangenschaft wurden die Ungarndeutschen in Kiew und Woronesch in Entlassungslagern zusammengefasst. Im Dezember 1950 hat man sie an die sowjetisch-ungarische Grenze transportiert und dort dem ungarischen Staatssicherheitsdienst, dem AVH übergeben. Die etwa 1200 volksdeutschen Kriegsgefangenen brachte man zunächst nach Budapest in das berüchtigte »Tolonc«-Untersuchungsgefängnis. Dort mussten sie unter strengster Bewachung monatelang auf strohbedecktem Betonboden kampieren.
In Ungarn angekommen, hofften sie auf eine baldige Entlassung zu ihren Angehörigen und auf ein menschenwürdiges Leben in Frieden und Freiheit. Doch ein neuer Leidensweg nahm seinen Anfang. Nach den entwürdigenden Verhören durch die AVH wurden sie nach Vac gebracht, wo sie vier Wochen in einer Fabrikhalle eng zusammengepresst »wohnten«. Dann ging es nach Tiszalök in neu aufgezogene Baracken. Dies wurde für Jahre ihr Arbeitsplatz, wo zwischen Tiszalök und Tiszadada an der Theiß ein Wasserkraftwerk aufgebaut werden sollte. Und es wurde aufgebaut. Von überwiegend »heimgekehrten« ungarndeutschen Kriegsgefangenen.
»Arbeit macht frei«
Anfang Februar 1951 begann die Fronarbeit mit Pickeln, Schaufeln und Spaten im nassen, kalten Winter. Um 6.00 Uhr Wecken, ab 7.00 Uhr Arbeit. Die tägliche Verpflegung: Ein halber Liter wässriger Malzkaffee, 600 Gramm Brot, 50 Gramm Marmelade, selten etwas Wurst. Warmes Essen gab es mittags und abends: dünne Futterrüben-, Erbsen- oder Linsensuppe, dazu 20 Gramm Pferdefleisch. Der Kontakt mit den auf der Baustelle beschäftigten Zivilisten war streng auf den störungsfreien Ablauf des Arbeitsprozesses beschränkt. Dennoch haben diese Menschen bald bemerkt, mit wem sie es zu tun hatten.
Die Gefangenen wurden laufend mit strengen Verhören traktiert. Einige Kameraden mussten unter Druck Protokolle unterschreiben über Gräueltaten, die sie nie begangenen hatten. Einige wurden weggebracht und man hat nie wieder von ihnen gehört. Briefe schreiben war verboten, niemand durfte wissen, dass entlassene Kriegsgefangene in der Heimat hinter Stacheldraht lebten.
Oktober 1953
In Ungarn war Imre Nagy an der Spitze der Regierung – Tauwetter im kommunistischen System. Nach bald dreijähriger Zwangsarbeit wurden auch die »Tiszalöker« unruhig. Am 4. Oktober 1953 begab sich eine Abordnung der Gefangenen zum Lagerkommandanten mit Beschwerden und der Frage, wann sie endlich entlassen werden. Hier könne nur über die Arbeit gesprochen werden, war ungefähr die Reaktion des Mächtigen. Anschließend wurden einige der »Wortführer« inhaftiert. Auf eine friedliche Protestdemonstration der Lagerinsassen war der brutale Eingriff des Wachpersonals die Antwort. Zuerst die Feuerwehr mit Wasserspritzen, dann die angerückte Verstärkung der AVH mit Maschinengewehrsalven. Fünf Tote und 30 schwer verletzte Kameraden blieben in der Blutlache des »Schlachtfeldes« liegen. Gestorben sind: Georg Gazafy, 16.1.1902, Batsch; Matthias Geistlinger, 17.11.1917, Kaltenstein; Josef Schultz, 12.11.1925, Budaörs; Hans Tangel, 1921, Bardhaus; Josef Wildhofer, 18.4.1926, Ödenburg.
Auf Intervention von Staatsmännern – Konrad Adenauer – und anderen hohen Persönlichkeiten […] sind dann bereits im Laufe der nächsten Wochen die Transporte aus dem Lager in die Freiheit gerollt. […]
Gedenkfeier in Tiszalök am 50. Jahrestag des »Aufstandes«
Die Selbstverwaltung von Tiszalök organisierte in Zusammenarbeit mit Vertretern der noch lebenden ehemaligen »Tiszalöker« eine Gedenkfeier auf dem ehemaligen Lagerfeld, wo heute nur mehr ein Denkmal mit den Namen der fünf Toten an »damals« erinnert. Ehemalige Lagerinsassen und Angehörige, Ortsbewohner, Schulkinder, Vertreter von Organisationen, Verwaltung und Nicht-Links-Parteien gedachten ehrfurchtsvoll der damaligen Ereignisse.
In seiner Ansprache am Mahnmal von Tiszalök betonte der ehemalige Lagerinsasse Georg Richter, aus Nadwar stammend, heute in Ulm/Deutschland zu Hause, Vorsitzender der Vereinigung ungarndeutscher Spätheimkehrer »Kameraden des 4. Oktober 1953«: »Nicht der Blick zurück im Zorn ist das Gebot der Stunde, sondern der Blick nach vorne auf die nachfolgenden Generationen.« […]
(Zwischenüberschriften aus der Originalquelle) (me)
Ungarndeutsche Zwangsarbeiter vor fünfzig Jahren freigekommen
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