Deutsche Welle, Monitor Ost- / Südosteuropa, 05.11.2003
Moskau, 3.11.2003, ISWESTIJA, russ.
Die Statistik hat endlich alles über uns erfahren. Oder fast alles. Jedenfalls lassen die Ergebnisse der im letzten Jahr stattgefundenen Volkszählung nicht nur objektiv das demographische, sondern auch das wirtschaftliche Potential unseres Staates einschätzen. Darüber berichtete der stellvertretende Vorsitzende des Staatlichen Statistischen Amtes Russlands, Sergej Kolesnikow, unserem Korrespondenten Ilja Stulow.
Frage: In den letzten zehn Jahren hat sich lediglich ein fauler Politiker das Thema »Genozid des russischen Volkes« nicht zunutze gemacht. Hat die Volkszählung diese Legende bekräftigt oder widerlegt?
Antwort: Als wir die Ergebnisse der Volkszählung in einer Datei zusammenführten, dachten wir am wenigsten daran, welche politische Resonanz diese haben werden. Ungeachtet dessen würde ich die Ergebnisse der Volkszählung mit zurückhaltendem Optimismus als Hoffnung machend bezeichnen. Auch ungeachtet der Tatsache, dass die Bevölkerungszahl des Landes im Vergleich zur Volkszählung im Jahr 1989 ein wenig zurückgegangen ist. Das betrifft alle Völker. In Russland leben heute 145,2 Millionen Personen. 2 Millionen mehr als wir dachten. Die Russen stellen die absolute Mehrheit dar – 116 Millionen Personen, praktisch 80 Prozent der Einwohner. Deshalb wäre es unsinnig, von der Einschränkung ihrer Rechte oder von Genozid zu sprechen.
Frage: Welche Völker haben die 1-Million-Marke überschritten?
Antwort: Davon gibt es sieben. An zweiter Stelle liegen die Tataren, weiter die Ukrainer, die Baschkiren, die Tschuwaschen, die Tschetschenen. Auch die armenische Diaspora hat eine Million erreicht. Über 1,5 Millionen Personen haben sich aus verschiedenen Gründen geweigert, ihre Nationalität anzugeben. […]
Frage: Wie hat sich unsere Gesellschaft in den letzten zehn Jahren verändert?
Antwort: Kardinal. Im Land hat sich die politische Formation geändert. Deshalb hat sich auch die Mentalität der Gesellschaft insgesamt geändert. Das wirkt sich auf alles aus. Verändert hat sich die soziale Struktur: neben den traditionellen Lohnarbeitern tauchte im Land auch eine Schicht von Privatunternehmern und Arbeitgebern auf – 4,5 Prozent der arbeitsfähigen Bevölkerung. Zum ersten Mal haben 18 Millionen Einwohner Russlands als wichtigste Einnahmequelle ihre eigene Nebenwirtschaft angegeben. In der Spalte Familienstand tauchte zum ersten Mal der Begriff Ehe ohne Trauschein auf. Auf 34 Millionen offiziell geschlossene Ehen entfallen im Land über 3 Millionen Ehen ohne Trauschein. Zugenommen hat die männliche Bevölkerung. Auf 100 Mädchen werden heute 105 Jungen geboren. Aber im Alter von Jesus Christus verschwindet dieses Ungleichgewicht. Die Sterblichkeit unter den Männern ist zu hoch.
Frage: Welche demographischen Prozesse rufen Besorgnis in Russland hervor?
Antwort: Die Abwanderung der Russen aus dem äußersten Norden des Landes. Sollten wir nicht rechtzeitig Maßnahmen ergreifen, könnten wir die in Jahrzehnten geschaffene Infrastruktur in den abgelegenen Gegenden verlieren. Ernste Besorgnis ruft auch der natürliche Rückgang der Bevölkerung hervor. Damit ein Land keine Angst um seine Zukunft haben muss, müssen auf jede Frau mindestens 2,5 Kinder entfallen. In Russland sind es nur halb so viele. Eine ähnliche Situation ist in allen europäischen Staaten zu beobachten. Bei denen, wie in der letzten Zeit auch bei uns, wird der natürliche Rückgang durch die Einwanderung kompensiert. In Russland sind 5,6 Millionen Einwanderer registriert.
Frage: Wie aktuell ist das Thema Einwanderung aus den Grenzgebieten für unsere Grenzregionen?
Antwort: Das ist ein weiterer Mythos, den die Volkszählung widerlegt hat. Es wird in der nächsten Zeit keine Germanisierung von Kaliningrad erwartet. Ganz im Gegenteil. Die Zahl der Deutschen in Russland ist seit der Volkszählung im Jahr 1989 um mehr als die Hälfte zurückgegangen. Das gleiche gilt für die Einwanderung von Chinesen in Ostsibirien. Während der Volkszählung wurden lediglich 35 000 Chinesen im ganzen Land gezählt. […] (lr)