Newsletter des Adalbert Stifter Vereins XVI/2014, 15.05.2014
Dass Boulevardblätter und Stammtische Ressentiments bedienen, ist in München nicht anders als in Hamburg, Paris und New York. Niemand regt sich darüber besonders auf, ist diese Art von Expertentum in der Zündholzschachtel doch ebenso verbreitet wie unüberwindbar.
Dass jedoch auch renommierte Zeitungen auf diese Weise hervortreten, ist bedenklich, zumal sie ihre Ressentiments nicht eingestehen, sondern unter dem Etikett seriöser Berichterstattung verstecken, zum Beispiel unter einem Link, der weitere Informationen verspricht. Jüngstes Beispiel dafür ist der ZEIT-Online-Artikel vom 6. Mai 2014 über den Besuch von Bundespräsident Joachim Gauck in Prag.
In dem Bericht mit dem Titel Gauck erinnert in Prag auch an Vertreibung ist die Bezeichnung Sudetendeutsche verlinkt. Wer diesen Link erwartungsvoll öffnet, bekommt zu seiner Überraschung einen ZEIT-Artikel des Jahres 1966 vorgesetzt – man liest ganz richtig, einen Artikel, der fast ein halbes Jahrhundert alt ist. Der Titel des damaligen Beitrags: »Das Treffen der Sudetendeutschen – ein Hauch von Revanchismus«
Verblüfft fragt man sich, ob die ZEIT im Hinblick auf die Sudetendeutschen auf dem Stand des Jahres 1966 stehen geblieben ist, ob sie wirklich nichts von der Vielfalt tschechisch-sudetendeutscher Beziehungen seit der Samtenen Revolution von 1989 mitbekommen hat, die mittlerweile selbst bereits ein Viertel Jahrhundert zurückliegt. Nichts von dem Brünner Symposium der Ackermann-Gemeinde, das in diesem Jahr zum 23. Mal stattgefunden hat, nichts von den Brannenburger Thesen der sozialdemokratischen Josef-Seliger-Gemeinde, nichts vom Kunstpreis zur deutsch-tschechischen Verständigung, den der Adalbert Stifter Verein 1994 initiiert hat. Und auch nichts von den selbstkritischen Äußerungen über das Münchner Abkommen und die Beteiligung Sudetendeutscher an der NS-Herrschaft im Sudetengau und im Protektorat Böhmen und Mähren, die der Europaabgeordnete Bernd Posselt im Tschechischen Fernsehen ebenso unmissverständlich ausgesprochen hat wie auf Sudetendeutschen Tagen der letzten Jahre.
Chauvinistische Äußerungen lassen sich bei Sudetendeutschen auch heute mühelos finden – ebenso wie bei Tschechen, Ungarn, Polen, Franzosen, Dänen, Engländern und anderen Europäern. Wer allein nach Ihnen sucht, verliert allzu schnell Kontexte, Wechselwirkungen und Entwicklungen aus den Augen. Offensichtlich passiert das nicht nur Stammtischexperten und Zündholzschachtelkönigen, sondern auch Redakteure einer so renommierten Zeitung wie der ZEIT.
Dr. Peter Becher ist Direktor des Adalbert Stifter Vereins in München. Die Veröffentlichung erfolgt mit seiner und der freundlichen Genehmigung des Adalbert Stifter Vereins.