Ralph Giordano

Cicero • 30.07.2010

Anfang August wird der 60. Jahrestag der »Charta der deutschen Heimatvertriebenen« begangen. Dass diese Charta größtenteils veraltet ist und die Gräueltaten des NS Regimes nicht einmal erwähnt, scheint Niemandem bewusst zu sein. Ein Aufruf zur Revision dieses historischen Dokuments von Ralph Giordano.

[…] Kritische Töne fehlen, deshalb zwei Einsprüche. Erstens: die Lektüre der Charta vermittelt den Eindruck, als habe die Vertreibung in einem historischen Vakuum stattgefunden, in einem luftleeren Raum des 20. Jahrhunderts. Findet sich doch von dem, was ihr vorangegangen war und zu ihr geführt hatte, kein Wort, keine Silbe, kein Buchstabe. In der »Charta der deutschen Heimatvertriebenen« fehlt jede Spur der Vorgeschichte! […] Zweiter Einspruch: »Wir Heimatvertriebenen verzichten auf Rache und Vergeltung«. So das immer wieder zitierte ethische Zentrum der Charta. Was, um Himmels Willen, soll das heißen? Ist ihren Vätern und Mütter nicht bewusst gewesen, welch höchst problematischen Schwur sie da abgelegt haben? Nämlich etwas ungeschehen gelassen zu haben, was einem eigentlich zugestanden hätte. […] Kritik an ihr nimmt nichts von dem ungeheuren Leid der Vertriebenen, so wenig, wie sie Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Schicksal signalisiert. Ich will jedes Recht haben, über deutsches Leid zu weinen, ohne mich deshalb schämen zu müssen (was den Strom meiner Tränen nicht um eine mindert, die ich vergossen habe, vergieße und bis an mein Ende vergießen werde über die Kinder des Holocaust). […]