Der Historiker Hans-Ulrich Wehler sieht die Aufnahme von acht Millionen Vertriebenen in Westdeutschland als großen Erfolg
Klaus Pokatzky

Deutschlandradio Kultur • 05.08.2010

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Pokatzky: Es gibt zwei Zitate, die ich jetzt Ihnen ganz kurz vorhalten möchte, die ganz weit auseinanderliegen. Otto Schily, damals Bundesinnenminister, hat zum 50. Geburtstag der Charta die weitreichende Bedeutung gewürdigt, weil sie innenpolitisch radikalen Bestrebungen den Boden entzogen habe, für die 50er, 60er und Folgejahre. Jetzt sagt zum, ja, im Vorausblick auf den 60. Geburtstag der frühere Direktor des Fritz-Bauer-Instituts in Frankfurt, Micha Brumlik, die Charta sei eine im Geist von Selbstmitleid getragene völkisch-politische Gründungsurkunde, mit der die junge Bundesrepublik quasi in Geiselhaft genommen worden sei. Also zwei völlig unterschiedliche Pole – liegt die Wahrheit irgendwo in der Mitten?

Wehler: Nein, ich bin der Meinung, dass die historische Wahrheit bei Schily liegt, und ich halte das für ziemlich groben Unfug, was Brumlik da erzählt. Man muss sich vergegenwärtigen, die Vertreibung, der Krieg sind gerade wenige Jahre vorbei, während der Vertreibung, während der Flucht sind zwei Millionen Menschen umgekommen unter zum Teil grauenhaften Umständen, das ist jedermann damals noch präsent. Und da wird diese Charta formuliert, die im Grunde genommen, wenn man das sozusagen jetzt ganz im Kontext der damaligen Zeit sieht, verzichtet auf massive Forderungen wie Wiedergewinnung oder Zurückerstattung und sich sozusagen klar und eindeutig äußert: Wir werden versuchen, durch unsere Arbeit in einem hoffentlich – das ist ja nicht verboten, das zu hoffen – einem wiedervereinten Europa sozusagen unseren angemessenen Platz zu finden. […]