Deutsche Welle – Monitor Ost- / Südosteuropa, 07.07.2003
Warschau, 2.7.2003, Gazeta Wyborcza, poln., Aleksandra Klich
(...) Aus den Angaben, die bei der letzten Volkszählung in Polen gemacht wurden, geht hervor, dass in Polen 173.000 Menschen leben, die meinen, dass sie »schlesischer Nationalität« seien.
Der Begriff »schlesische Nationalität« wurde Mitte der neunziger Jahre von Politikern erfunden, die mit der Organisation »Bewegung für die Autonomie Schlesiens« verbunden sind. Diese Organisation setzt sich zum Ziel, die wirtschaftliche und finanzielle Autonomie in dieser Region einzuführen. Jerzy Gorzelik, damals noch Pressesprecher der Bewegung erklärte: »Jedem steht das Recht zu, sich eine solche Heimat zu wählen, die er will. Das bezieht sich auch auf uns Schlesier. Wir haben eine besondere Sprache und Kultur und empfinden uns als Gemeinschaft. Also bilden wir eine Nationalität«.
Diese Idee wurde in Schlesien sehr populär. Der Regisseur Kazimierz Kutz sagte in einem Interview mit der Gazeta Wyborcza, dass er die Befürworter der »schlesischen Nationalität« unterstützen werde. Später sagte er, dass er seine Worte bereits in die Tat umgesetzt habe und sich selbst bei der Volkszählung als Schlesier zu erkennen gegeben habe. Jetzt kommentiert er die Ergebnisse der Volkszählung wie folgt: »Das ist ein großer Triumph der Demokratie. Die Menschen haben keine Angst mehr zuzugeben, wer sie wirklich sind. Sie beweisen außerdem, dass es sie wirklich gibt. Es wäre gut, wenn die Behörden dies auch endlich begreifen würden. Aber sie begreifen das nicht«, fügt er traurig zu.
Jerzy Gorzelik, Initiator der Gründung des »Verbandes der Bevölkerung schlesischer Nationalität« und seit einigen Monaten auch Vorsitzender der »Bewegung für die Autonomie Schlesiens«, musste sich hinsetzen, als er davon erfuhr, wie viele Menschen sich bei der Volkszählung zu der »schlesischen Nationalität« bekannt haben: »Wir rechneten mit etwa 100.000 Menschen und es haben sich fast doppelt so viele gemeldet!«, sagt enthusiastisch Jerzy Gorzelik.
Für die Aktivisten der »Bewegung für die Autonomie Schlesiens« waren die Ergebnisse der Volkszählung ein Triumph und gleichzeitig ein Argument im Kampf gegen die polnischen Gerichte, die die Eintragung der »schlesischen Nationalität« stets verweigerten und erklärten, dass es keine »schlesische Nationalität« gebe.
Die Ergebnisse der Volkszählung sind nach Ansicht Jerzy Gorzeliks eine wirksame Waffe bei seinen nächsten Bemühungen, das Existenzrecht des »Verbandes der Bevölkerung schlesischer Nationalität« zu verteidigen.
Wenn die Schlesier als eine nationale Minderheit anerkannt wären, würden ihnen auch Wahlrechte zugesprochen. Diese Minderheit würde dann auch die Fünf-Prozent-Hürde nicht betreffen und darüber hinaus würden ihre Vertreter schnell ins Parlament kommen können.
Wird die »schlesische Nationalität« zu einer Tatsache, wenn es dem Vorsitzenden gelingen sollte, den Verband registrieren zu lassen? »Woher aber kommt das Gefühl des Andersseins bei diesen Menschen?«, überlegen Historiker, Soziologen und Politiker. Dann antworten sie sich selbst: »Von der Nichteinhaltung von Versprechen, von der Armut und Frustration«. Allein in der Stadt Katowice (Kattowitz) sind 300.000 Menschen arbeitslos. Die Bergwerke zählen seit langem nicht mehr zu den sicheren und stabilen Arbeitgebern. Die von Arbeitsverlust bedrohten Kumpel protestieren jede Woche vor dem Woiwodschaftsamt in Katowice.
»„Ich würde die Ergebnisse der Volkszählung nicht mit der nationalen Zugehörigkeit in Verbindung bringen. Das ist ein Protest gegen das mangelnde Interesse der Regierung an den Problemen Schlesiens, gegen die Arbeitslosigkeit und die Schließung der Bergwerke« sagt Senatorin Dorota Simonides, Professorin für Ethnologie an der Universität Opole (Oppeln).
Gespräche mit den Menschen untermauern die Ansichten von Frau Simonides: »Die Ergebnisse der Volkszählung sollten die Warschauer Eliten erschüttern«, erklärt ein 25jähriger Doktorand an der Schlesischen Universität und fleht uns an, seinen Namen nicht zu veröffentlichen, weil er sich vor der Hetzjagd an der Universität fürchtet. Er selbst hat sich auch zu der »schlesischen Nationalität« bekannt, weil er seinen Unmut zum Ausdruck bringen wollte und seine Enttäuschung darüber, was in dieser Region passiert.
Piotr Klakus, ein Lehrer a.D. aus der Ortschaft Koboir erklärt: »Wenn wir als eine Nation anerkannt werden, dann können wir uns von Warschau abtrennen und unsere Identität bewahren. Ich will das nicht weiter zulassen, dass uns die Regierung in den Ruin treibt. Ich hab' die ganzen Affären so satt.« Piotr Klakus ist der Leiter der regionalen Vertretung der Bewegung für die Autonomie Schlesiens in der Ortschaft Kobior (...), die etwa 5.000 Einwohner zählt. Frührer war die Landwirtschaft die Haupteinnahmequelle. Jetzt wird Landwirtschaft nur noch von wenigen betrieben. Ein Drittel der Männer in dieser Ortschaft sind arbeitslos, weil auch das Sägewerk geschlossen wurde, der größte Arbeitgeber in diesem Städtchen. Piotr Klakus ist stolz auf die Einwohner von Kobior und schätzt, dass jeder fünfte, vielleicht sogar jeder dritte Bewohner sich bei der Volkszählung zur »schlesischen Nationalität« bekannt hat. (...)
Die Befürworter der historisch bedingten Argumentation der »schlesischen Nationalität« versuchen zu überzeugen, dass die Schlesier durch das gemeinsame und vor allem tragische Schicksal verbunden sind. (…) »Wir unterscheiden uns von den Polen«, erklären sie und sagen, dass sie eine andere Geschichte, Kultur und Sprache hätten sowie eigene Sitten: »Kann ein Pole das verstehen, dass der Großvater im September 1939 gegen die Deutschen in der polnischen Armee gekämpft hat und sich im Jahre 1943 mit der Wehrmacht an der Belagerung von Stalingrad beteiligte?« fragen sie. (...)
Schlesien ist hin- und hergerissen. Diese Region ist in der Tiefe ihres Herzens fest davon überzeugt, dass sie besser ist, als der Rest von Polen. Sie weiß jedoch, dass sie niemals »die Menschen von draußen« von sich überzeugen wird, weil sie nur die Halden sehen, die komische Sprache sowie die Kultur, die auf Volksfesten basiert, bei denen Eisbein und Bier serviert wird.
Es gibt aber auch einige, die gerade wegen der Komplexe der Region Schlesien die »Schlesische Nationalität« popularisieren. Das ist ein Reflex der Menschen, die sich unterbewertet, gehetzt und als nicht gut genug fühlen. Sie suchen nach Methoden, ihre Bedeutung zu betonen.
Der Anteil an Menschen mit Hochschulabschluss ist in Schlesien geringer als der Durchschnitt in Polen. Um Kariere zu machen, muss man von Katowice wegziehen. Die Universität Schlesien nimmt auf der Liste der besten Hochschulen in Polen keinen Rang unter den zehn besten ein. Diese Situation wird nicht einmal durch den guten Ruf der Schlesischen Medizinischen Akademie geändert. (...)
Politologen zählen einige Elemente auf, die die Entstehung einer Nationalität voraussetzten: Dazu gehört vor allem: die gemeinsame Sprache, Geschichte, eigenes Territorium und die Tradition. Die Schlesier benutzen aber keine kodifizierte Sprache, sondern einen Dialekt, in dem die archaischen Merkmale der polnischen, deutschen und tschechischen Sprache zu finden sind. Die Geschichte Schlesiens ist nicht die Geschichte der Bürger eines einzelnen Staates. Sie ist gleichermaßen in der Geschichte Deutschlands, Tschechiens und Polens festgeschrieben. Das Gebiet des alten Schlesiens ist heute zwischen Polen und Tschechien geteilt. Die Schlesier erfüllen also nur eine der vielen Bedingungen für eine Nationalität: Sie besitzen ihre eigene Tradition. (...)
In dem Dorf Swierkany im Kreis Rybnik haben sich die meisten Menschen (ca. 70 Prozent) zur »schlesischen Nationalität« bekannt. In den Orten Piekary Śląskie und Tarnowskie Góry haben sich jeweils 20 Prozent der Menschen als Schlesier bezeichnet. Im Zentrum von Katowice bekannten sich zehn Prozent zu der »schlesischen Nationalität«. Dasselbe Ergebnis wurde auch in den Wohnblocksiedlungen in Katowice registriert.
Zu den nationalen Minderheiten gehören 3,2 Prozent der Bürger von Polen. Die Volkszählung ergab, dass die zahlreichste Gruppe die Schlesier bilden und dass es 173.000 gibt. Außerdem leben in Polen noch 153.000 Deutsche, 49.000 Weißrussen, 31.000 Ukrainer und 13.000 Roma.
Bei der Volkszählung in Tschechien im Jahre 1991 haben sich 45.000 Personen zu der »schlesischen Nationalität« bekannt. Schon einige Jahre später erwies es sich aber, dass es weit mehr Schlesier als Roma in Tschechien gibt. (...) (Sta)