Landeszeitung – Zeitung der Deutschen in Böhmen, Mähren und Schlesien • 07.10.2008
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autorin und der landeszeitung. zeitung der deutschen in böhmen, mähren und schlesien.
Wer am S-Bahnhof Schöneweide im industriell geprägten Südosten Berlins aussteigt, den empfängt schon auf dem Bahnsteig ein Hinweis auf das Dokumentationszentrum zur NS-Zwangsarbeit. Der zehnminütige Fußmarsch dorthin wird von Wegweisern begleitet. Eine erstaunliche Präsenz, wenn man bedenkt, dass Zwangsarbeit unter dem NS-Regime von der Geschichtsschreibung lange marginalisiert wurde und das Dokumentationszentrum erst vor zwei Jahren seine Arbeit aufnahm.
Erinnern am historischen Ort
Auf dem Grundstück in der Britzer Straße ducken sich hinter einem Stacheldrahtzaun sechs Baracken des letzten noch weitgehend erhaltenen Berliner Zwangsarbeiterlagers, das Stadtsanierer 1993 zufällig entdeckten. Im August 2006 wurde das Gelände offiziell an die Stiftung »Topographie des Terrors« übergeben. Das Dokumentationszentrum versteht sich als Ausstellungs-, Archiv-, Lern- und Erinnerungsort; neben der laufenden Präsentation von Wechselausstellungen ist auch eine Dauerausstellung zum Thema Zwangsarbeit in Berlin und Umgebung in Vorbereitung.
Der nackte Betonfußboden in der Ausstellungsbaracke lässt selbst Schritte in Sandaletten wie den Tritt schwerer Stiefel klingen. Die massiven Steinwände sind weiß übertüncht, nur die abgenutzten Kanten der Klinker verraten ihr Alter. Kaum zu glauben, dass sich in diesen stillen, sauberen Räumen um 1944 fast zweihundert Arbeiter drängten. Und dennoch ist ein Hauch von Lagertristesse auch heute zu spüren. Denn für die aktuelle Ausstellung »Im Totaleinsatz – Zwangsarbeit der tschechischen Bevölkerung für das Dritte Reich« haben tschechische Architekten einen Raum entworfen, der die Vielzahl der gezeigten Dokumente in eine strenge, leicht überschaubare Ordnung bringt und dabei geschickt die Kasernenhofästhetik der Nationalsozialisten zitiert. Die Besucher durchschreiten Spaliere, zu denen die Ausstellungstafeln und ein fragmentiertes Hakenkreuz ausgerichtet wurden; als Lichtquelle dienen schnurgerade, in der Mitte aufgespannte Reihen nackter Glühbirnen. Schwarz, Weiß und Rot dominieren – klassische Druckfarben, die ein sachliches Dokumentieren unterstützen, und gleichzeitig die Farben der Hakenkreuzfahne.
Der Geschichte ein Gesicht geben
Das inhaltliche Konzept der Wanderausstellung, die bereits in Tschechien zu sehen war und noch weitere Stationen in Deutschland durchlaufen wird, steht im Kontrast zu der Kühle ihrer Gestaltung. Denn es löst Geschichte auf in das, was an ihr zu berühren vermag: in Einzelschicksale. Zu sehen sind fast 250 vor allem persönliche Dokumente, die zum Teil erstmals in Deutschland gezeigt werden – Reisepässe, Arbeitsausweise, Kindheitsfotos, Briefe. Ein Teil der Tafeln zeigt Biografien von Überlebenden, etwa die von Frau Skleničková, die als »jüngste Frau von Lidice« dem Massaker von 1942 nur durch einen doppelten Zufall entkam: Mit ihren 16 Jahren war sie zu alt für die so genannte Sonderbehandlung, die alle Kinder der Stadt ins Vernichtungslager führte; wäre sie ein Junge gewesen, dann hätte auch das ihren sicheren Tod bedeutet, denn männliche Jugendliche ab 15 wurden – wie die Männer – ausnahmslos erschossen.
Ein Film mit Interviews rundet die Dokumentation ab. Er lässt in langen Einstellungen auch die Gesichter und Hände der mittlerweile etwa Achtzigjährigen sprechen, wenn sie teils sachlich-distanziert, teils sichtlich bewegt vom Alltag im Lager erzählen. Als Frau Kyrová, die Auschwitz überlebte, interviewt wird, tastet die Kamera eine Tätowierung auf ihrem Unterarm ab. Frau Kyrová sitzt im Hauskleid neben ihrem Küchentisch, der sehr sorgfältig für eine Person gedeckt ist, und zeigt die Größe der Flöhe, die in den Unterkünften Dauergäste waren. »Ich ging mit dem Tod um«, erinnert sie sich – und meint dabei das verhärmte Aussehen ihrer Mutter, die an ihrer Seite dahinsiechte, bevor sie auf einem der Leichenberge von Auschwitz endete. Dass der Zustand ihrer Mutter ihr damals Angst machte, dafür schämt sie sich heute noch.
Ein System von Arbeit und Strafe
Die Lebenswege der Zeitzeugen werden in den Kontext verschiedener Formen von Zwangsarbeit unter der NS-Besatzung gestellt. Je akuter der Mangel an Arbeitskräften im »Reich« wurde – viele deutsche Männer waren an der Front, der Bedarf an Baustoffen und an Produkten der Rüstungsindustrie stieg sprunghaft an – desto mehr Druck wurde auf die arbeitsfähigen Bewohner des »Protektorats Böhmen und Mähren« ausgeübt. Wanderten etwa 1938 noch etliche Tschechen aufgrund ihrer prekären sozialen Lage freiwillig ins »Reich« aus, so begannen die Arbeitsämter in den Folgejahren bereits mit der Androhung wirtschaftlicher Sanktionen und Gefängnisstrafen. Die Spirale der Nötigung führte über die Rekrutierung ganzer Jahrgänge bis hin zum massenhaften Einsatz von KZ-Häftlingen zu unbezahlter Sklavenarbeit. 1944 beschäftigten fast alle namhaften deutschen Großbetriebe und viele mittelständische Unternehmen ausländische Zwangsarbeiter, unter ihnen rund 600.000 Tschechen. In den Arbeitserziehungslagern wurde ein System von Arbeit und Strafe für diejenigen etabliert, die sich des »Vertragsbruchs und der Verletzung von Arbeitsmoral« schuldig gemacht hatten, worunter bereits das Ablehnen von Überstunden oder die Nichterfüllung der Tagesnorm fiel. Die Zwangsarbeiter wurden dabei bevorzugt an gefährlichen Arbeitsplätzen, beim Luftschutz oder in der Technischen Nothilfe eingesetzt, wobei es an den elementarsten Sicherheitsmaßnahmen mangelte. Die Ausstellung gedenkt auch der elf jungen Tschechen, die 1943 in Berlin Wilmersdorf bei einem Luftangriff starben. Sie sollten Bombenschäden beseitigen.
Der lange Weg zur Entschädigung
Partner des Dokumentationszentrums ist der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds, der seit 1998 das Projekt der humanitären Hilfe für Überlebende der NS-Herrschaft finanzierte. Der Hauptaufgabe dieses Fonds widmet sich das letzte Kapitel der Ausstellung, das den langwierigen Kampf um eine Entschädigung für ehemalige Zwangsarbeiter dokumentiert. Da Zwangsarbeit laut bundesdeutscher Gesetzgebung nicht als »spezifisches NS-Unrecht« gilt und die tschechischen Betroffenen zudem jenseits des Eisernen Vorhangs saßen – die DDR-Regierung lehnte die Rechtsnachfolge des Deutschen Reiches ab und fühlte sich daher nicht zuständig – flossen nennenswerte Entschädigungen erst von 2001 bis 2006. Das Geld stellte die Stiftung »Erinnerung, Verantwortung, Zukunft« zur Verfügung, die von Unternehmen der deutschen Wirtschaft und vom Bund getragen wird. Für viele Betroffene – ein Großteil der Zwangsarbeiter wurde zwischen 1921 und 1924 geboren – kam diese Geste allerdings zu spät.
Wenig Licht, viel Schatten: Fotografien von Zdeněk Tmej
Ergänzt wird der dokumentarische Teil der Ausstellung von Werken des tschechischen Fotografen Zdeněk Tmej aus den Jahren seiner Zwangsarbeit. Der professionelle Theaterfotograf schuf zwischen 1942 und 1944 einzigartige Zeugnisse des Lebens in den schummrigen, oft verdunkelten Massenunterkünften. Im Gegensatz zu den »Knipsern«, die in ihrer Freizeit lieber die wenigen lichten Momente des Lagerlebens festhielten – sei es zur Selbstermunterung, sei es, um den Angehörigen ein beruhigendes Lebenszeichen schicken zu können – hat Tmej den düsteren Lageralltag ungeschönt dokumentiert. Sein Blick galt dabei dem beredten Detail, etwa dem Blechnapf, aus dem ein ausgemergelter Arbeiter gierig seine Tagesration Suppe schlürft. Bilder aus dem Lagerbordell – »Nur für Ausländer, Eintritt 60 Pfennige« – erinnern an diejenigen, die in der Lagerhierarchie noch unter den männlichen Arbeitern standen: Vielen Frauen blieb nur die Wahl zwischen dem Konzentrationslager und sexueller Zwangsarbeit.
»Ein Gedenkstein hätte auch genügt«
Woher kam die Fülle wertvoller persönlicher Dokumente, aus der die Ausstellung schöpft? Die Leiterin des Dokumentationszentrums, Frau Dr. Christine Glauning, verweist auf die Entstehungsgeschichte: Der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds bearbeitete mehr als 120.000 Anträge ehemaliger tschechischer Sklaven und Zwangsarbeiter auf Entschädigung. Auf diese Weise kam er in den Besitz der Dokumente, die auch dafür genutzt werden sollten, in der Bevölkerung ein Interesse an den Opfern und ihren Schicksalen zu wecken. Ist dies den Initiatoren gelungen?
Die Reaktionen der Anwohner sind ambivalent, schätzt Glauning ein. Man solle das Geld lieber in den »Problemkiez« Niederschöneweide investieren, wird argumentiert – ungeachtet der Tatsache, dass die Ausstellung von Institutionen wie der Stiftung »Erinnerung, Verantwortung und Zukunft«, der Botschaft der Tschechischen Republik oder dem »Tschechischen Rat für NS-Opfer« finanziert wurde. »Ein Gedenkstein hätte auch genügt«, schrieb ein ehemaliger Mitarbeiter des bis 1989/90 hier ansässigen Impfstoffinstituts ins Gästebuch der Ausstellung. Andererseits kamen zum Nachbarschaftstreffen 2007 über hundert Neugierige aus dem Umfeld. Immer wieder bitten Angehörige von Zwangsarbeitern um Hilfe bei ihren Recherchen, im August 2008 wurde der elftausendste Besucher seit der Eröffnung des Dokumentationszentrums gezählt. Und wenn binationale Jugendgruppen wie die Teilnehmer der deutsch-polnischen Sommerakademie ihren Weg nach Schöneweide finden, dann weist das in eine gemeinsame Zukunft.
Informationen
- Die am 28. Mai 2008 eröffnete Ausstellung kann bis zum 31. Mai 2009 täglich (außer montags) von 10 bis 18 Uhr im Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit Berlin-Schöneweide besichtigt werden. Der Eintritt ist frei. Ein zweisprachiger Katalog ist kostenlos erhältlich.
- Führungen für Schulklassen und andere Gruppen finden auf Anfrage statt. Aktuelle Informationen zum begleitenden Veranstaltungsprogramm gibt es unter www.topographie.de
- Kontakt
Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit
Berlin-Schöneweide
Britzer Straße 5 D –12439 Berlin
T. +49 (0)30 6390 288 0
F. +49 (0)30 6390 288 29
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- www.landeszeitung.cz
Die Onlineausgabe der landeszeitung • Der Artikel ist bisher nur in der Printausgabe erschienen.
- www.topographie.de
Weitere Informationen zur Ausstellung auf den Internetseiten der Stiftung topografie des terrors
- Flyer zur Ausstellung
als PDF-Datei