Der Bundeskanzler in einem Interview mit Zeitungen der Verlagsgruppe Passau zum deutsch-tschechischen Verhältnis.
(DTPA/MT) Passau/ Berlin, 19.06.2003
Frage: Im Verhältnis zu Tschechien werden immer wieder die Benes-Dekrete thematisiert, wie jüngst vom bayerischen Ministerpräsidenten Stoiber unmittelbar vor dem Europa-Referendum. Viele Tschechen fragen sich, wieso dies in den Beziehungen zu Polen kein Thema ist, obwohl aus Polen nach dem Zweiten Weltkrieg auch Millionen Deutsche vertrieben worden sind.
Schröder: Sie wissen, dass ich nicht die Auffassung des bayerischen Ministerpräsidenten vertrete, sondern dass ich gern zurück möchte zu dem, was mein Vorgänger im Amt, Herr Kohl, 1997 mit der tschechischen Führung vereinbart hat und was ich mit Herrn Zeman bei dessen Besuch in Bonn bestätigt habe. Das sollte die Basis sein. Zum zweiten Aspekt Ihrer Frage nur eine vorläufige Antwort, denn es ist eine sehr ernsthafte und grundsätzliche Frage. Die Vertreibung von Deutschen aus Polen war sozusagen eine direkte Folge des Krieges, ohne dass irgendwelche Rechtsakte dazu existieren, während die Benes-Dekrete natürlich zu tun haben mit dem Überfall Deutschlands auf die damalige Tschechoslowakei und eine Reaktion darauf sind. Aber sie bilden gleichsam eine rechtliche Basis, nicht nur für die Vertreibung, sondern auch für das Thema Rechtsansprüche. Ich glaube, diese Verrechtlichung ist es, die zu diesen Unterschieden geführt hat. Ich möchte hier eines klar machen: Es ist wichtig zu erkennen, dass die Vertreibung als solche immer ein Unrecht ist. Aber die Ursachen für die Vertreibung sind aus Deutschland heraus gesetzt worden und nicht aus den anderen Ländern. Das wissen wir.
Frage: Wird der EU-Beitritt die deutsch-tschechische Aussöhnung beschleunigen?
Schröder: Ich glaube, die Aussöhnung ist im Großen und Ganzen vollzogen. Wir haben kulturell so vieles gemeinsam, dass ich da keine prinzipiellen Schwierigkeiten sehe. So wurde die erste deutschsprachige Universität in Prag gegründet. Das Traurige an der jüngeren Geschichte ist doch, dass durch den deutschen Faschismus vieles von diesen kulturellen Gemeinsamkeiten verschüttet worden ist. Wenn man das weiß und auch nicht aus dem Gedächtnis tilgt, dann betrachtet man solche Debatten mit anderen Augen. Ich glaube, dass der tschechische Beitritt zur europäischen Union diese Fragen sehr viel stärker in den Hintergrund drängen wird, als das bisher der Fall war. Letztlich lässt sich Ihre Frage auch mit einem einfachen »Ja« beantworten.
Das Interview führten Michael Backhaus (Passau), Ludmila Rakusan (Tschechien), Miriam Zsilleova (Slowakei), Marek Chylinski (Polen) und Josef Ertl (Österreich).