Alltag in einem masurischen Dorf • von Mathias Wagner
Bożena Domagała

Rezension

[...] Die Grundlage des Buches, das aus drei Teilen besteht, bilden die von Mathias Wagner gesammelten Biografien der Einwohner Orłowos, ergänzt durch seine Beobachtungen des Lebens in diesem Dorf. Der Autor hat seinen eher kurz gehaltenen Text mit einer Auswahl von etwa 100 beeindruckenden Fotos vervollständigt, die weniger der Bebilderung dieses Bandes dienen als vielmehr der Dokumentation des Alltags in einem kleinen masurischen Dorf, an der Peripherie eines sich vereinigenden Europas. Das Vorwort stammt von dem Historiker Andreas Kossert, dessen kurzer geschichtlicher Abriss selbst wenig informierte Leser mit den grundlegenden Fakten der Vergangenheit Masurens seit dem 14. Jahrhundert sowie seiner Gegenwart bestens versorgt. Ulla Lachauer, Autorin des Nachworts, ist ebenfalls Historikerin, allerdings ist sie eher publizistisch und journalistisch tätig. Unter ihren zahlreichen Veröffentlichungen finden sich auch Bücher über die jüngste Geschichte Ostpreußens und die Russlanddeutschen.

Jeder Autor präsentiert seine eigene, vielschichtige Sicht des Themas Masurens. Das Ende der 600-jährigen Geschichte Masurens und das Verschwinden der traditionellen masurischen Welt sowie das Paradox ihres Fortlebens nach 1945 bis heute macht die Problematik so brisant. Die populärwissenschaftliche Darbietung des Themas sorgt dafür, dass der Diskurs darüber verständlich bleibt. In seiner Einleitung, die nicht umsonst »Masuren gestern und heute« heißt, versucht Andreas Kossert eine Synthese zwischen der Geschichte und Gegenwart Masurens. Seiner Ansicht nach sind die Masuren und seine Bewohner ein gutes Beispiel für die komplizierte und schwierige Geschichte Mittel- und Osteuropas, die selten mit der gehörigen Objektivität untersucht wird, selbst wenn sie Gegenstand von wissenschaftlichen Forschungen ist. Meist überwiegt der politische Blickwinkel, es geht dann um die Dokumentation der Rechte der Deutschen auf dieses Gebiet – gegen die der Polen. Die besondere Lage Masurens und die spezielle Rolle, die diese Region zwischen dem deutschen und dem polnischen Nationalismus spielt, verhindert die Entfaltung einer masurischen regionalen Identifikation, die von beiden Seiten mit unterschiedlicher Verbissenheit bekämpft wurde. Zwischen Prußen, Deutschen und Polen gelegen teilten die Masuren das Los anderer multiethnischer und multikonfessioneller Regionen Mittel- und Osteuropas, deren Gesellschaften durch das Aufkommen mächtiger Nationalismen im 19. und 20. Jahrhundert ihre regionale Identität verloren. Die Jahre nach 1945 stellen laut Kossert das Ende der 600 Jahre alten Geschichte der Masuren dar [...]. Mathias Wagner rollt die Geschichte vom anderen Ende her auf. Seine Texte und Fotografien zeigen, was seit 1945 in Masuren geschehen ist. Obwohl dieser Zeitpunkt das Ende einer Welt bedeutete, war er doch auch der Beginn einer neuen. Es kamen Menschen nach Masuren, die von jenseits des Bugs, aus Zentralpolen und aus den ehemaligen südöstlichen polnischen, nunmehr ukrainischen Gebieten umgesiedelt wurden. Sie brachten neue Lebensformen, neue Traditionen, ja selbst neue Kochrezpte mit und mussten sich einen neuen Alltag in Masuren erschaffen – die Frage ist nur, um wie viel anders dieser ausfiel im Vergleich zu dem aus der Zeit vor 1945. Es scheint, als gäbe es dort gar keine Kontinuität, und doch gibt es ein verbindendes Element der zwei Epochen: die Formen menschlicher Existenz. [...]

Ulla Lachauer macht in ihrem Nachwort deutlich, dass das Dorf, dessen Alltag Mathias Wagner vorstellt, im Begriff ist zu sterben. Die Autorin hält fest, dass eine weitere Herausforderung für Masuren in der Wendezeit der 1980-er und 1990-er Jahre lag, in der aus dem realen Sozialismus eine Marktwirtschaft wurde. Es ist gut möglich, dass die heute in Masuren lebenden Nachkommen der ursprünglich Ende der 1940-er und Anfang der 1950-er angesiedelten Menschen dieser Herausforderung nicht gewachsen sind, obwohl der menschlichen Natur die Fähigkeit zu eigen ist, auch unter schwierigsten Bedingungen zu überleben. Laut Lachauer sind die Texte und Fotos Zeugen einer Armut, die, auch wenn sie noch nicht den Tiefpunkt erreicht hat, doch für den Zustand vieler Einwohner dieser Region steht. [...] Die Masuren waren und sind eine schwierige Heimat, und über diese Schwierigkeiten erstattet das hier vorgestellte Buch eindringlich Bericht. [...]

(Aus dem Polnischen von Ariane Afsari)