taz-Dossier: Erinnern an Vertreibung. (I) Aufbrechen eines Tabus oder Förderung der Rivalität unter den Opfern?
Jan Feddersen und Stefan Reinecke

die tageszeitung • 08.04.2005

Haben die 68er das Vertreibungsschicksal ihrer Eltern verdrängt? Oder ist es eine Legende, dass deutsche Opfer vergessen wurden? Ein Streitgespräch zwischen dem Historiker Norbert Frei und der Publizistin Helga Hirsch

taz: Als Günter Grass Im Krebsgang veröffentlichte, hieß es, er habe ein Tabu gebrochen. Stimmt das? Ist das Schicksal der Vertriebenen in der Geschichte der Bundesrepublik tabuisiert worden?
Helga Hirsch: Von einem generellen Tabu kann man nicht reden. In den 50er Jahren war das Thema im Rahmen des Kalten Krieges sehr präsent. Nach 1968 hingegen entwickelte sich in bestimmten Kreisen eine freiwillige Selbstzensur. Wir hielten das Sprechen über Leid der Deutschen für unvereinbar der Anerkennung deutscher Schuld. […]
Norbert Frei: Ich habe das Gefühl, dass die 68er ihre sich wandelnden politischen Stimmungen zum Gradmesser der Stimmungslage der Republik machen. Das ist eine Allmachtsfantasie – nur weil die 68er damals über die Vertriebenen nicht gesprochen haben und sich dafür heute geißeln, bedeutet das nicht, dass gesellschaftlich nicht über die Vertreibung gesprochen worden ist. […]