Vortrag der Staatsministerin für Kultur und Medien im Rahmen der Veranstaltungsreihe »Europa im 21. Jahrhundert« bei der Heinz-Schwarzkopf-Stiftung
Dr. Christina Weiss

Online-Portal der Bundesregierung • 31.01.2005

Anrede,

vor kurzem fand ich in einem Text Karl Schlögels (aus: Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang. München 2002, S. 249) eine Aussage, die mich sehr beschäftigt hat. Er schreibt:

»Jetzt, da Europa Wirklichkeit wird, scheint es, als habe es den Europäern die Sprache verschlagen. In Sachen Europa schweigen auch jene, die ansonsten vor allem zuständig sind für neue Ideen, Zukunftsentwürfe und brauchbare Projekte; die Intellektuellen. Das neue Europa ist offenbar kein Thema.«
Ich frage mich: Ist diese Behauptung wirklich noch zutreffend angesichts so vieler Initiativen und Bemühungen um Europa, die wir im Moment beobachten können?

Vor allem in Städten wie Wrocław, Bratislava oder Budapest, wo aus dem Reden über Europa längst eine lebendige, praktische Realität geworden ist, in der sich Wissenschaftler, Künstler und Intellektuelle zusammenfinden, um zu beweisen, dass man sich nicht nur geographisch in Europa befindet, sondern eben auch geistig. Karl Schlögel geht es, so glaube ich, um etwas anderes.

Seine Aussage meint die praktische Ausformung einer europäischen Identität. Das ist ein Prozess, an dem wir sehr hart zu arbeiten haben. Identität taugt nicht für Sonntagsreden sondern bedeutet, Widerspruch und Vielstimmigkeit zuzulassen, die regionalen Kulturen zu achten, einen Wertekanon aufzustellen, in dem Demokratie und Freiheit verankert sind. Gerade heute wird das offenbar, wo in Paris über ein UNESCO-Abkommen zum Schutz der kulturellen Vielfalt verhandelt wird, die vom globaler werdenden Handelsrecht immer mehr bedroht ist. Kultur ist eben keine Ware wie die Förderung von Theatern, Opernhäusern oder Filmen keine Beihilfe ist.

Kultur beschreibt unsere Identität. Identität aber lässt sich nur schaffen, wenn es uns gelingt, unsere Wahrnehmung füreinander zu verändern.

Die Debatte über das neue Europa ist aber nicht nur von Sehnsüchten, Verheißungen und Möglichkeiten geprägt. Wer die Diskussionen über das sogenannte »Kerneuropa« bis hin zum »Zentrum gegen Vertreibungen« verfolgt hat, konnte bisweilen den Eindruck gewinnen, dass noch eine Menge Konflikte unter der Oberfläche wabern, die schmerzhaft sind. Alte Wunden und Verletzungen brechen auf, Missverständnisse und Irritationen entstehen und finden Gehör – auf beiden Seiten.

Und vielleicht gewinnt hier Karl Schlögels Kritik an Boden: Haben wir denn in diesem neuen Europa bereits eine Sprache gefunden, in der wir die Perspektive des jeweils anderen in uns aufnehmen, ohne sie gleich mit Schlagworten und Richtig/Falsch-Einschätzungen zu belegen?

Liegt nicht oftmals in dem allgemeinen Enthusiasmus über Europa, so wichtig und schön er ist, eine Unsicherheit verborgen, wie man über die Dinge sprechen soll, die Differenzen enthalten?

In den angesprochenen Fragen der vergangenen Monate versuchte man hastig zu gültigen Antworten zu kommen, dabei wäre ein ruhigeres, gelasseneres Nachdenken wirkungsvoller gewesen.

Denn das neue Europa gehört nicht cleveren und rasch agierenden Interessengruppen, es richtet sich nicht nach neuen ideologischen Entwürfen, es gehört zu uns, zu uns allen, die wir als Bürger und Bürgerinnen in den jeweiligen Ländern leben. Und daher sollten wir diese Gemeinsamkeit auch nicht von den Interessengruppen aufspalten lassen.

Wir haben keine bessere Antwort auf das mörderische 20. Jahrhundert als die europäische Vereinigung. Es geht um den Versuch, die Zukunft gemeinsam, friedlich und in gegenseitiger Achtung zu gestalten. In der westlichen Hälfte Europas ist dies in den letzten fünf Jahrzehnten gelungen. Jetzt müssen wir die Erfolgsgeschichte des europäischen Vereinigungsprozesses im Osten fortschreiben.

Wir sind dabei, den Ost-West-Gegensatz endlich hinter uns zu lassen. Es geht dabei aber nicht nur um die Integration ökonomischer Interessen. Uns verbindet eine gemeinsame, eine gewaltige Neugier auf den großen kulturellen Reichtum, der hier vorzufinden ist. Europa als Wert zu sehen, das ist unsere Aufgabe.

Mit Förderprogrammen allein ist das nicht zu leisten. Sie bieten allenfalls einen Rahmen, sie können organisatorische und materielle Unterstützung gewähren – aber ohne ein Wollen, ohne politische Passion, ohne humanistische Motivation für diesen Vereinigungsprozess bleibt er instabil, bleibt er fragil.

Wir brauchen einen Wahrnehmungssprung, einen Mentalitätswandel, wir brauchen ein verändertes, ein erweitertes kulturelles Bewusstsein. Und wir brauchen eine Sprache der gegenseitigen Verständigung, in der nicht die allzu glatten, beschwichtigenden Alles-wird-gut-Vokabeln vorherrschen, sondern Worte des Fragens, des sensiblen Nachfragens, gerade bei den verständlichen Empfindlichkeiten, die aus der Vergangenheit rühren.

Dann – und nur dann – werden wir die Herausforderungen und Chancen des neuen Europa begreifen, sie annehmen und zu unserem gemeinsamen Nutzen gestalten können.

Ohne Arbeit an der wechselseitigen Verständigung kann dies nicht gelingen. Wir wissen noch immer viel zu wenig über unsere Nachbarn; wir sprechen ihre Sprachen nicht. Ein halbes Jahrhundert Nachkriegsgeschichte hat uns von der Kenntnis wesentlicher kultureller Entwicklungen in den Nachbarländern abgeschnitten. Wann wird es wohl endlich selbstverständlich sein, dass Kinder in deutschen Schulen nicht nur von Autoren wie Goethe, Shakespeare, Hemingway und Albert Camus erfahren, sondern beispielsweise auch von Adam Mickiewicz, Witold Gombrowicz und Wisława Szymborska?

Vor uns liegt ein reicher Stimmenkanon, der einen gleichberechtigten Platz im europäischen Gedächtnis beanspruchen darf.

Im übrigen lässt sich gerade bei der Dichterin Szymborska sehr viel darüber erfahren, wie man mit einem fröhlich-skeptischen Blick durch die politischen Landschaften laufen kann, etwa, wenn sie über den modernen Mensch ausruft: »Gott des Humors, tu mit ihm endlich was.«

Dabei übersehe ich durchaus nicht die ernsten Implikaturen des Prozesses, der noch vor uns liegt: Ängste gibt es auf beiden Seiten: Im Westen, so lesen wir immer wieder, die Angst vor Kriminalität und sogenannter Überfremdung, vor den vermeintlich kostspieligen »Nehmerländern«, aus denen billige Arbeitskräfte, mafiöse Strukturen und Umweltprobleme in die Wohlstandsfestung West-Europa einströmen könnten; bei unseren östlichen Nachbarn die Angst vor einer gesichtslosen Brüsseler Bürokratie, vor einem Superstaat, der die mühsam errungene nationale Unabhängigkeit gleich wieder einkassiert.

Auf beiden Seiten wissen nur noch wenige, was uns einst verbunden hat.

Dabei muss man kein Historiker sein, um in Polen oder in den baltischen Ländern, in der Ukraine oder in Ungarn, die Spuren eines untergegangenen Kulturraums zu entdecken, der einmal Frankfurt am Main und Tallinn (Reval), Berlin und Lwiw (Lemberg) umschloss.

Die übereinanderliegenden Schichten der deutschen, polnischen, russischen, lettischen Schriftzüge an den Mauern alter Hotels, die Ähnlichkeit der Dombauten in Riga und Lübeck, die Walcker-Orgeln aus Ludwigsburg in lettischen und estnischen Kleinstädten.

Das Jugendstil-Antlitz der Metropolen im Ostseeraum, Stockholm, Helsinki, Riga findet sich wieder in Prag und Krakau.

Die exzentrischen Fassaden der Albertstraße in Riga erinnern uns an den Witebsker Bahnhof in Petersburg, einen der schönsten Bahnhöfe unseres Kontinents.

Die Architektur ist der sichtbarste Ausdruck des kulturellen Raums, den wir Europäer einmal gemeinsam bewohnt haben.

Es kam eben nicht von ungefähr, dass die KSZE-Schlussakte von Helsinki 1975 auch einen Korb zum Denkmalschutz beinhaltete und Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa eben nicht nur auf politische Konsequenzen zielte.

Leipzig, Görlitz, Prag, Tartu und Wrocław – wie schön und anziehend sind diese Städte geworden. Welche Chance, in ihnen die vergessenen Traditionen wieder aufzudecken, Traditionen der Aufklärung und der Moderne, die nicht mehr präsent sind.

In diesem Zusammenhang leisten die Universitäten und Bildungsinstitute in Wrocław Hervorragendes, in dem sie die europäischen Dimensionen der gemeinsamen Geschichte herausarbeiten.

Nur am Rande sei hier bemerkt, dass zum Beispiel ein Künstler wie Hoffmann von Fallersleben, einst Breslauer Bibliothekar, in der polnischen Forschung als ein Dichter mit europäischen Perspektiven bewertet wird. Man befreit ihn also von jeglichen Vereinnahmungen und missverständlichen Interpretationen.

Denken wir aber auch an Wissenschaftler, Theoretiker, Komponisten aus Osteuropa, deren Werk uns mit jahrzehnte-langer Verspätung erreicht oder noch der Entdeckung harrt.

Ich nenne hier die »Philosophie der Provinz« von Radomir Konstantinovic, der vermutlich die Berühmtheit eines Sartre genießen würde, lebte er in Paris, nicht in Belgrad. Erst heute, wo Depots und Archive wieder geöffnet und die Geschichte unzensiert zugänglich ist, können wir erkennen, wie viel wir der schöpferischen mittel- und osteuropäischen Moderne verdanken.

In den Kulturlandschaften Osteuropas, in der Bukowina und in Galizien, blühten vielsprachige und multikonfessionelle Städte wie Lemberg und Czernowitz, Stanislau und Temesvar.

Ohne die jüdische Kultur war dieses Ost- und Mitteleuropa undenkbar. Dieser kulturelle Raum, in dem die jüdische Bevölkerung eine zentrale Vermittlerrolle, eine Brückenfunktion einnahm, ist durch den Nationalsozialismus, die Shoah wie auch durch Stalins Terror vernichtet worden.

In gewisser Weise ist in Osteuropa der Zweite Weltkrieg gerade erst zu Ende gegangen. Die Hinterlassenschaften der Sowjetherrschaft sind heute noch überall sichtbar:

Vielfach eine zerstörte Natur und Menschen, denen zwar Arbeit, Kleidung, Wohnung gegeben, Freiheit und Selbstverantwortung jedoch genommen wurden.

Kein Marshallplan, kein Wirtschaftswunder sorgte – wie bei uns – für Wiederaufbau und Prosperität, für den Luxus des Verdrängens und Entronnenseins.

Die Nachkriegszeit gestaltete sich ungleich härter, der Aufbau erfolgte praktisch aus dem Nichts.

Die »Sowjetisierung« ließ Polen, Tschechen und Slowaken, Ungarn und Rumänen, Esten und Letten hinter einem Vorhang verschwinden.

Sie verwandelten sich für uns in »Ostblock«-Bewohner und in vermeintliche Brudervölker. Fortan stand das Trennende zwischen ihnen und uns im Vordergrund, nicht das Gemeinsame. Es hätte nicht so kommen müssen – wir hätten es besser wissen können.

Wer beruflich in Budapest, Krakau, Prag oder Zagreb zu tun hat, wird feststellen, wie gut manche Gesprächspartner deutsch sprechen, wie elaboriert die gesprochene Syntax ist – als habe die Prosa Kleists ihnen als Lehrbuch gedient.

Wie genau sie über die deutsche und französische Literatur und Philosophie Bescheid wissen, ja, geradezu mit ihr gelebt haben, wie sie existentiellen Halt an Camus und Sartre gefunden haben, wie genau sie sich in Heideggers später Seinslehre auskennen. Die Asymmetrie des Interesses und der Kenntnisse – bei den Sprachen angefangen – zwischen ihnen und uns ist frappierend.

Sind wir stolz darauf, dass »unserer Kultur« soviel Wertschätzung entgegengebracht wird? Froh, dass wir offenbar auch intellektuell auf der sicheren Seite waren, wenn Faulkner und Beckett, Adorno und Habermas für unsere Gesprächspartner so wichtig sind wie für uns?

Fühlen wir uns beschämt, dass wir kaum vergleichbare ästhetische und intellektuelle Erfahrungen mit »ihren« Autoren vorzuweisen haben? Kommt uns jemals der Gedanke, dass unser Gegenüber, dem – anders als uns – nicht nur die eigene Welt zugänglich ist, vielleicht weniger provinziell ist als wir?

Ahnen wir, warum für diese gebildeten Mittel- und Osteuropäer die Kultur, die ihnen ein mentales Überleben ermöglicht hat, eine viel fundamentalere Bedeutung hat als für uns, die wir nur noch selten bereit sind, sie gegen das Primat des ubiquitären Ökonomischen offensiv zu behaupten?

Ahnen wir, wie nötig eine »Osterweiterung des europäischen Bewusstseins« ist? Schon einmal haben die Intellektuellen Mitteleuropas sich als die eigentlichen und offensiven Treuhänder der europäischen Idee erwiesen: als der tschechische Exilschriftsteller Milan Kundera 1983, unterstützt von dem polnischen Nobelpreisträger Czesław Miłosz und dem ungarischen Autor György Konrád, seine Thesen über die Tragödie Mitteleuropas veröffentlichte und damit Einspruch erhob gegen die Eingemeindung Polens, Ungarns und der Tschechoslowakei in den Osten, die jeder kulturellen Zugehörigkeit Hohn spräche.

Im friedensbewegten Westdeutschland, das konzentriert war auf die Kritik der amerikanischen Rüstungspolitik, wurde dieses »Heimweh nach Europa« nicht verstanden. Für den Westen gehörten diese Länder zum »Ostblock«, die Ostdeutschen blickten zum großen Teil ebenfalls westwärts, die Mehrheit wusste es nicht besser. Nutzen wir heute, jetzt, die Chance dazuzulernen! Inzwischen erlebt »Mitteleuropa« als Inbegriff kultureller Vielfalt eine Renaissance.

Vielleicht, so die Hoffnung des britisch-ungarischen Historikers George Schöpflin, kommt die »nächste kulturelle Vision« sogar aus Mitteleuropa. Manche Anzeichen sprechen dafür: Die Polen, Ungarn, Slowaken, Tschechen, kehren nach Europa zurück, das sie – ihrem eigenen Selbstverständnis nach – nie verlassen haben. Und sie entdecken es neu.

Die jüngere Generation der Polen beschäftigt sich nicht mehr nur mit der lange tabuisierten polnisch-deutschen und polnisch-jüdischen Vergangenheit, sondern begibt sich an die eigenen Ostgrenzen, in die Karpatentäler, auf die Spuren der Góralen, der Lemken, der Huzulen oder nach Podlachien, ins litauisch-weißrussische Grenzgebiet.

Ein neues literarisch quicklebendiges, originelles, gedankenreiches und vielstimmiges Mitteleuropa ist dort im Entstehen begriffen – als Ausdruck der Selbstbehauptung gegenüber einer westlichen Kultur, die momentan wenig Inspirierendes zu bieten hat. Dort – an den künftigen Rändern der EU, in ihren ärmsten Regionen – werden bereits die kommenden Beben gemessen: denn an unserer künftigen Ostgrenze droht eine neue Teilung Europas.

Dort liegen die wirklichen Herausforderungen; hier, wo »praktizierende Provinzler« wie Krzysztof Czyzewski (sprich Kschischtof Tschizhewski) in seiner Stiftung Borderland soziales Engagement mit Kulturarbeit verbinden – vom grenzüberschreitenden Wandertheater, Geschichtswerkstätten für Kinder bis zu internationalen Konferenzen, Verlag und Zeitschrift – dort liegen die Orte des neuen Europa.

Und wir im Westen? Wir haben die zunächst die elementare Aufgabe, unsere Wahrnehmung immer wieder zu überprüfen. So lange man sich in den Zeitungen immer noch ein Bild von Polen macht, das mit Pferdefuhrwerken auskommt und Bäuerinnen mit Blumensträußchen am Straßenrand zeigt, so lange also ein pittoreskes Bild vom angeblich »exotischen Osten« gezeichnet wird, darf man sich nicht wundern, dass unsere Nachbarn verstimmt reagieren. Unsere Sehnsucht nach dem neuen Europa muss ohne den Kitsch stereotyper Bilder auskommen.

Wrocław ist hierbei für mich eines der überzeugendsten Beispiele, wie modern, kreativ, lebendig und energisch das neue Polen ist.

Die Intensität des Lernens, die Fremdsprachenkompetenz, der Zwang, dem Tempo des aufgezwungenen Wandels zu entsprechen, die frisch aktivierte Kunst der Improvisation, die seit jeher überlebenswichtig war – all das wird uns im freien Wettbewerb noch zu schaffen machen. Während bei uns eine gewisse Trägheit, ja Schläfrigkeit herrscht, erzwingen die Herausforderungen von Transformationsprozessen eine andere Beweglichkeit. Lerneifer, Erfahrungshunger.

Freilich ist auch die Armut und Not vieler Menschen in den Transformationsgesellschaften nicht zu übersehen.

Es gibt eine wachsende Zahl von Menschen, die von den rasanten Prozessen abgekoppelt werden. Gerade sie dürfen nicht aus unserer Wahrnehmung verschwinden. Denn auch dies ist eine Lehre der Geschichte.

Eine gesamteuropäische Lehre zumal: wenn die sozialen Dimensionen des Miteinanders verschwinden, wächst der Boden für Extremismus, Gewalt und Hass.

Erinnerung als Navigationsmittel scheint mir überhaupt etwas Unabdingbares zu sein.

Um ihre Zukunft »in Vielfalt geeint« zu gestalten, müssen sich die Völker Europas ihrer Geschichte erinnern.

Osteuropa ist ein Buch der Geschichte – überall stößt man auf die Spuren der deutschen Schuld, aber auch auf die der stalinistischen Verbrechen – Geschichten, über die die Betroffenen selbst lange Zeit nicht offen sprechen durften, Geschichten, von denen wir viel zu wenig wissen.

Es ist von existentieller Bedeutung für unser gemeinsames europäisches Selbstverständnis, diese Geschichten zu hören, sie »aus der Perspektive des anderen zu lesen«, wie der tschechische Soziologe und Theologe Tomaš Halík schreibt, – sonst werden wir nie verstehen, welche Erfahrungen unsere östlichen Nachbarn geprägt haben und ihr Handeln bis heute mitbestimmen.

Alles was wir geworden sind, was wir verheert und zerstört und wieder aufgebaut haben, was wir erfunden, geschaffen, erforscht haben, die Zeugnisse des Glaubens und der Kunst, vergessene Schätze und verbrannte Trümmer – alles lagert in unserem Boden, auf dem wir das kühne Projekt der europäischen Einheit errichten. Wenn wir uns das bewusst machen, wenn wir bereit sind, sowohl die »vergessenen Schätze« als auch die »verbrannten Trümmer« zu heben, dann werden wir auch die Frage beantworten können, wo Europa aufhört: dort wo die Grenzen unserer gemeinsamen geschichtlichen Erfahrung verlaufen.

Jetzt, wo die Binnengrenzen gefallen sind, stehen wir vor einer dreifachen Herausforderung:

Wir müssen erstens: – die mentalen Gegensätze zwischen West und Ost durch gegenseitiges Verständnis zu überwinden suchen und die Vielfalt der Sprachen und Kulturen der östlichen Beitrittsländer als Bereicherung annehmen und aktiv zu fördern.

Uns Deutschen, die wir seit vierzehn Jahren Erfahrungen mit der Integration der neuen Bundesländer sammeln, wächst hier eine besonders verantwortungsvolle Rolle zu. Das gilt besonders für das Verhältnis zu unseren polnischen Nachbarn. Und das gilt besonders für die kulturellen Beziehungen.

Wir haben mit der Kulturstiftung des Bundes die Chancen des neuen Europa erkannt. In diesem Jahr werden wir die Deutsch-Polnischen Kulturbegegnungen eröffnen, die einen Überblick über die aktuelle Kunst in beiden Ländern liefern sollen.

Gleichzeitig erkunden Künstlerinnen und Künstler den Grenzraum zwischen Stettin, Küstrin und Zittau, der jahrzehntelang für harte Abschottung, gar für das Ende der Welt stand, wo man mit dem Rücken zueinander lebte, wo man sich aber jetzt wieder begegnet und sich wunderbare Geschichten entdecken lassen. Überhaupt wäre viel gewonnen, würden wir uns gegenseitig unsere Lebensläufe erzählen, wie es in Görlitz und Zgorzelec seit dem vergangenen Jahr auf spannende Weise geschieht.

Die Erinnerung an die gemeinsame Geschichte, das Nachdenken über die Verwerfungen und die Glücksmomente des 20. Jahrhunderts, die Möglichkeiten einer guten Zukunft in einem alten Kulturraum stehen hier im Mittelpunkt.

Nicht vergessen möchte ich das Projekt relations. Es initiiert in den verschiedenen Ländern des östlichen Europa Projekte auf den Gebieten zeitgenössische Künste, der Kultur und der Wissenschaft. Den inhaltlichen Schwerpunkt der Projekte bilden lokale und regionale Fragestellungen. relations lenkt den Blick auf kulturelle Vielfalt und die Verschiedenartigkeit einzelner Orte und Regionen. Das sind neue west-östlicher Partnerschaften, die wir brauchen, um das erweiterte Europa zu verstehen.

Monate vor der Osterweiterung ist das neue Europa im Aufbruch: auf den alten Strecken zwischen Bremen und Daugavpils rollt der Güterverkehr, Rostock, Riga und Tallinn sind wieder zu bedeutenden Kultur- und Handelsmetropolen im Ostseeraum geworden, in Vilnius und Krakau, Budapest und Bratislava entstehen joint ventures. Städte und Landschaften werden entdeckt.

Die Bürger in den Transformationsgesellschaften, auch in Ostdeutschland, wissen aber auch, dass alle Bemühungen, durch Wirtschaftsanstrengungen, Kulturarbeit und Bildung Fortschritte zu erzielen, umsonst sind, wenn die Politik nicht nachfolgt. Und umgekehrt gilt: Die Ausbildung demokratischer Strukturen, der Kampf gegen Korruption und organisierte Kriminalität, die Zivilisierung der Persönlichkeit – ohne die Kultur als Avantgarde dieses Veränderungsprozesses werden keine tragfähigen Fundamente errichtet.

Der interkulturelle Dialog, wie er bereits auf so vielen Ebenen tagtäglich realisiert wird, braucht die Unterstützung einer weit in die Zukunft denkenden Politik.

Denn Kultur ist ein Langzeitprojekt. Nicht der Euro, sondern das Sprechen und Zuhören, Fragen und Erklären sind das Lebenselement unserer europäischen Gemeinschaft. Wir brauchen ein anderes »Marketing« für die europäische Idee, damit sie ausstrahlen und wirken kann.

Aus diesem Grunde habe ich Ende vergangenen Jahres mit meinen Amtskollegen aus Frankreich und Polen eine »Europäische Charta der Kultur« angeregt, die einen Beitrag zur Definition der kulturellen Identität und Vielfalt Europas leisten könnte. Bereits zehn weitere Mitgliedsstaaten haben sich dieser Initiative angeschlossen. Ich bin sehr zuversichtlich, dass es uns nun gelingen wird, diesen Elan in konkrete Projekte müden zu lassen.

Frankreich hat vorgeschlagen, vier Arbeitsgruppen einzurichten, die sich mit den Themen Kulturerbe und Tourismus, Film und audiovisuelle Medien, europäische Verlagshäuser, Sprachen und Übersetzungen sowie Musik-Tanz-Theater beschäftigen sollen.

Apropos Sprachen: »Durch die Mannigfaltigkeit der Sprachen wächst unmittelbar für uns der Reichtum der Welt und die Mannigfaltigkeit dessen, was wir in ihr erkennen«, sagte Wilhelm von Humboldt. Die erweiterte sprachliche Vielfalt Europas wird die Menschen und ihre Sprachen bereichern. Lebenslanges Lernen wird selbstverständlich werden. Länderübergreifende Projekte und Städtepartnerschaften werden das Lernen erleichtern.

Übersetzungen müssen angeregt und gefördert werden, damit wir uns nicht um den Reichtum großer Literatur in kleinen Sprachen bringen.

Gern wird heute beklagt, dass die Zahl von Schülerinnen und Schülern, die die Sprache des Partnerlandes erlernen, rückläufig sei. Zwar wird diese Tendenz zum Teil ausgeglichen durch die steigende Zahl von Studenten und Berufstätigen, die aufgrund der steigenden Mobilität und Kooperation in Europa die Sprache als Zusatzqualifikation erwerben. Doch die Herausforderung liegt gerade darin, einen Nachwuchs auszubilden, der mit fundierten Sprachkenntnissen in der Lage ist, seinen Nachbarn zu verstehen.

Ich glaube, dass es gelingen muss, einen europäischen Bildungsraum zu etablieren. Wir brauchen Nachwuchs an Führungskräften, der »fit« für Europa ist.

Lassen Sie mich am Ende noch ein kleines Leseerlebnis anfügen:

In einem der sensiblen, ironischen Prosagedichte von Wislawa Szymborska wird die Geschichte einer Flaschenpost erzählt, die ans Ufer gespült wird.

Auf dem Zettel in der Flasche steht »Ich bin hier. Beeilt Euch!« Die Fischer, die die Flasche finden, stehen ratlos umher und wissen nicht, was sie tun sollen. Sie fragen sich sogar, aus welchem Ozean die Flasche überhaupt angetrieben kann. Am Ende sind sie vollkommen überfordert mit der Nachricht aus der Flaschenpost, weil, wie Szymborska schreibt, die Nachricht zu »allgemein« gehalten war.

Ist das nicht ein gutes Bild, ja eine Aufforderung, uns bei unseren gegenseitigen Zurufen in Europa auf eine Sprache des Konkreten und Erkennbaren zu besinnen?

Wir haben mit diesem neuen Europa eine einmalige historische und gemeinsame Chance der Verständigung und des Zusammenrückens. Freuen wir uns darüber und nutzen wir sie!