Debatte im Deutschen Bundestag über Antrag der CDU/CSU-Fraktion über das gemeinsame historische Erbe • Rede der Bundesbeauftragten für Kultur und Medien, Kulturstaatsministerin Dr. Christina Weiss

Online-Portal der Bundesregierung • 17.12.2004

In ihrer Rede im Deutschen Bundestag nimmt Kulturstaatsministerin Weiss zu einem Antrag der Unions-Fraktion Stellung.
Es gilt das gesprochene Wort.

Anrede,

Europa, so hat es der polnische Kunsthistoriker Andrzej Tomaszewski gesagt, besitzt »Regionen mit doppelter und mehrfacher Kultur«. Er beschreibt damit die Identität von Gegenden, in denen während der längeren Geschichte viele Völker und Angehörige vieler Religionen zusammen lebten.

In vielen Gegenden, in denen einst Deutsche beheimatet waren und allenthalben sichtbare Spuren hinterließen, bringen die jetzt dort lebenden Menschen dieser Geschichte und Kultur großes Interesse entgegen. Sie begreifen dies als gemeinsames europäisches Kulturerbe ihrer Region, das es zu erhalten und zu pflegen gilt. Es ist heute Teil einer neu entwickelten regionalen Identität, die von Beginn an übernational-europäische Züge aufweist. Das stelle ich immer wieder fest, erst kürzlich bei meinem Aufenthalt in Siebenbürgen und in Bukarest. Die Offenheit der Gesprächspartner, ihr Engagement für die deutsche Kultur und ihre zupackende Art haben mich sehr beeindruckt.

Auch bei meinem Besuch in Breslau konnte ich erleben, wie dort ganz selbstverständlich der Kulturraum Schlesien erforscht wird und dabei die deutschen Wurzeln als geistige Werte anerkannt werden. Wir haben bei dieser Gelegenheit verabredet, die Geschichte und Kultur Schlesiens in deutsch-polnischen Kooperationsprojekten gemeinsam aufzuhellen.

Die Teilung und Auftrennung des gemeinsamen Erbes hatte beiden Seiten nur Verlust gebracht. Die Wiedervereinigung des europäischen Kulturraums in diesem Jahr bietet die Chance, endlich zu erkennen, was uns einst verbunden. Es geht darum, kulturelle und historische Verbindungen, die in Jahrhunderten gewachsen sind, wieder aufzunehmen.

Die widernatürliche Spaltung des Kontinents, die durch Naziterror und Kalten Krieg betrieben wurde, ist Geschichte. An die Stelle von Konfrontation und Abschottung treten jetzt Kooperation und Nachbarschaft. Das Ende der kommunistischen Gewaltherrschaft in Osteuropa hat auch ein neues kulturelles Klima ermöglicht. Nachbarschafts- und Freundschaftsverträge mit Polen, Tschechien, Ungarn, der Slowakei und Russland haben das Fundament für ein neues, ein gemeinsames Geschichtsverständnis, für eine gemeinsame kulturelle Vergewisserung gelegt.

Binnen eines Jahrzehnts ist daraus ein genuine Aufgabe europäischer Kulturpolitik erwachsen. Die Bundesregierung hat den Umwälzungen in Ost- und Mitteleuropa seit dem Fall des Eisernen Vorhangs Rechnung getragen. Es war richtig, im Jahr 2000 die Kulturförderung des Bundes nach § 96 BVFG auf eine neue Basis zu stellen. Heute lässt sich sagen, dass wir damit eine Erfolgsgeschichte initiiert haben.

Die Bundesregierung misst dem internationalen wissenschaftlichen Diskurs ebenso viel Bedeutung bei wie der kulturellen Breitenarbeit. Dieser Ansatz folgt einem umfassenden, erweiterten Geschichts- und Kulturbegriff, der historische Belastungen nicht ausklammert und unterschiedliche Traditionen berücksichtigt.

Wenn die Bundesregierung seit Jahren die Erforschung und den Erhalt von Denkmälern der Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa mit nicht unerheblichen Mitteln fördert – den Erhalt von realen Denkmälern ebenso wie von Denkmälern im geistigen Sinne – so geschieht dies nicht, um auf dem Wege der Kulturförderung unterschwellig nationale Interessen geltend zu machen.

Es geht vielmehr darum, sich gemeinsam mit unseren Partnern in Polen, Tschechien, Ungarn, Rumänien oder den baltischen Staaten mit unserer Geschichte auseinanderzusetzen und einen Beitrag zur Versöhnung zu leisten, die gemeinsame Kulturgeschichte zu akzeptieren. In diesem Sinne bin ich zuversichtlich, dass wir im Januar 2005 bei einem Treffen mit meinen europäischen Kollegen in Warschau das vom polnischen Kulturminister Dabrowski und mir initiierte »Europäische Netzwerk Erinnerung und Solidarität« gründen können.

Dieses Netzwerk sollte nicht nur auf Flucht und Vertreibung im 20. Jahrhundert spezialisiert bleiben, sondern die Erinnerung an das nationalsozialistische Regime und die kommunistischen Diktaturen ebenso beinhalten wie die Suche nach historischen Wurzeln des Nationalstaates und der Wahnvorstellung seiner ethnischen Homogenität.

Meine Damen und Herren von der Opposition, zum Antrag der CDU/CSU-Fraktion »Das gemeinsame historische Erbe für die Zukunft bewahren« ist anzumerken, dass sich die Bundesregierung engagiert für die aus § 96 Bundesvertriebenengesetz ergebenden Verpflichtungen einsetzt. Durch die Neukonzeption aus dem Jahr 2000 ist die Förderung im Geiste der europäischer Verständigung neu justiert, vor allem aber professionalisiert worden.

Kultureinrichtungen der Vertriebenen werden in erheblichem Umfang gefördert. Richtig ist aber auch, dass nirgendwo eine Quote verankert ist oder jemand ein Monopol auf Förderung besitzt.

Niemand, der etwas von der Sache versteht, wird ernsthaft eine Rückkehr zum »Status quo ante« wie es im Antrag der Opposition heißt, für wünschenswert halten. Die von der Opposition in dem vorliegenden Antrag kritisierte »Konzeption zur Erforschung und Präsentation deutscher Kultur und Geschichte im östlichen Europa« geht von historischen Gegebenheiten aus, ist aber primär auf die Zukunft gerichtet. Im heutigen Europa können Kultur und Geschichte nur im Dialog bewahrt und entwickelt werden.

Insofern kommt die Bundesregierung – anders als die Opposition dies in ihrem Antrag suggeriert – ihrer Verantwortung in vollem Umfang nach. Der Vorwurf, die Kultureinrichtungen der Vertriebenen würden ignoriert, zielt ebenso ins Leere wie die Behauptung, die Kulturarbeit nach § 96 BVFG würde zunehmend den Museen überantwortet, wobei eine abwertende »Musealisierung« unterstellt wird. Das Gegenteil ist der Fall. Gerade die Reform der Kulturarbeit nach § 96 BVFG hat in den vergangenen Jahren zu einem Aufschwung der wissenschaftlichen Arbeit und der breitenwirksamen Vermittlung geführt.

Die von der Fraktion der CDU/CSU geforderte Aussetzung der Neukonzeption und die Rückkehr zu alten Förderstrukturen verkennt den Prozess der europäischen Integration und stößt unsere alten, neuen Partner vor den Kopf. Aus den genannten Gründen empfiehlt die Bundesregierung den Abgeordneten des Deutschen Bundestages, dem Antrag der CDU/CSU-Fraktion nicht zuzustimmen.