Deutsche Welle • Monitor Ost- / Südosteuropa • 24.06.2004
Warschau, 24.6.2004, NASZ DZIENNIK, poln.
Das Präzendensurteil des Europäischen Gerichtshofes über die Entschädigung für zwangsumgesiedelte Bewohner der ehemaligen polnischen Ostegebiete sorgt für Aufregung in deutschen Anwaltskanzleien. (…) In den Augen der deutschen Juristen, die sich mit ähnlichen Klagen von Bürgern der Bundesrepublik Deutschland gegen die Regierung Deutschlands und die Regierung Polens und Tschechiens beschäftigen stellt dieses Urteil eine Grundsatzentscheidung dar. (…) Die Urteile der Gerichte sowohl in Straßburg als auch in Luxemburg sind seit dem 1. Mai für Polen und für Tschechien bindend.
Die Politiker, die in den letzten Jahren in Polen regieren, haben eine Taktik der Beruhigung gewählt und den Kopf in den Sand gesteckt. (…) Und obwohl die Medien diese Angelegenheit nicht an die große Glocke hängen, ist die Mehrheit der Polen stark beunruhigt. Ein Zeichen dafür war der Beschluss des Sejm, der als eine Maßnahme gegen eventuelle Forderungen der deutschen Vertriebenen im März d. J. verabschiedet wurde. In diesem Beschluss heißt es u. a. »Kein Urteil, das zu diesem Thema von den Institutionen der Europäischen Union gefällt wird, ist für Polen bindend«. (…) Obwohl der Sejm die Regierung dazu aufgefordert hatte, diese Klausel in der europäischen Verfassung, die zum damaligen Zeitpunkt gerade verhandelt wurde, festzuschreiben und außerdem allen 15 Regierungen der Europäischen Union ein gesondertes Schreiben zu diesem Thema schicken, reagierte weder die Regierung Miller noch die Regierung Belka darauf. Schlimmer noch: Dieser Beschluss wurde quasi boykottiert, da sich unsere Regierenden so verhalten, als ob es diesen Beschluss überhaupt nicht gäbe. (…)
Die Aufregung in den deutschen Anwaltskanzleien ist mit der Tatsache verbunden, dass deutsche Juristen schon vor langer Zeit sowohl individuelle als auch Sammelklagen eingereicht haben. Diese Klagen beziehen sich auf Entschädigungsforderungen für Eigentum, das von Deutschen in Polen oder in Tschechien zurückgelassen werden musste. (…) Die schriftlich verfassten juristischen Analysen über die Entschädigungsforderungen der Deutschen werden diskret mit den deutschen Behörden besprochen. Angela Merkel (CDU) versicherte vor einigen Wochen den Abgeordneten der Partei Bürgerplattform in Warschau, dass die zukünftige deutsche Regierung (die Parteien CDU/CSU rechnen damit, die nächsten Wahlen in Deutschland zu gewinnen) die Entschädigungsforderungen der zahlreichen Organisationen der Vertriebeben wie z. B. des Bundes der Vertriebenen, der Preußischen Treuhand etc. nicht unterstützen wird. Dass solche Beteuerungen nicht verlässlich sind, beweist z. B. die Tatsache, dass Frau Merkel ihre Absicht, die sie Vertretern der Partei Bürgerplattform in Warschau offenbarte, in Deutschland nicht mehr wiederholt hat. Manche Beobachter sind jedoch der Meinung, dass sie das nicht tat, weil sie die Stimmen der Vertriebenen nicht verlieren wollte. (...)
Deutsche Politiker und Juristen wollen nicht begreifen, dass die Vertreibung der Polen aus den ehemaligen Ostgebieten Polens und die Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten, die Polen nach dem Zweiten Weltkrieg zugesprochen wurden, nicht auf der gleichen Ebene verhandelt werden darf. Die Deutschen müssen endlich begreifen und das polnische Außenministerium muss ihnen das endlich klar machen, dass nicht die Polen den Zweiten Weltkrieg angezettelt haben. Trotz dieser Tatsache wurde jedoch dem polnischen Staat ungerechterweise fast die Hälfte seines Territoriums aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg weggenommen. Dafür sollte Polen – laut den Erklärungen von Stalin, Roosevelt und Churchill – eine Wiedergutmachung in Form der ehemaligen deutschen Ostgebiete bekommen. Die westlichen Gebiete Polens stellen also keine Wiedergutmachung für die Schäden dar, die die Deutschen in Polen angerichtet haben, oder für die Ermordung von sechs Millionen polnischer Staatsbürger. Man könnte diese Angelegenheit nur dann so sehen, wenn man uns die Ostgebiete nicht weggenommen hätte.
Als eine große Unverschämtheit oder sogar als eine feindliche Geste ist außerdem die Tatsache zu bewerten, dass man uns – angesichts des Leids und der Vernichtung, die uns von den Deutschen zugefügt wurden – mit den Entschädigungsklagen der Deutschen zu erpressen versucht. Die Deutschen sollen sich freuen, dass man ihnen nach den Gräueltaten im Zweiten Weltkrieg erlaubt hatte, ihren eigenen Staat zu behalten. Sie sollten sich freuen, dass sie im Vergleich zu dem Ausmaß der schlimmen Verbrechen, die sie begangen haben, verhältnismäßig milde behandelt wurden. Die Deutschen dürfen nicht vergessen, dass wir die Folgen des Krieges sowohl als Volk als auch als Staat bis heute noch spüren. Sie dürfen nicht vergessen, dass sie die Verantwortung nicht nur für die Geschehnisse in den Jahren 1939–1945 tragen, sondern dass sie auch für die kommunistische Regierung in Polen (…) mitverantwortlich sind.
Die polnischen Vertriebenen aus den ehemaligen Ostgebieten Polens haben das Recht, ihr verlorenes Eigentum zurückzuverlangen oder eine Entschädigung dafür zu fordern, weil sie vertrieben wurden, obwohl sie keine Schuld trugen. Den Deutschen hingegen, die Hitler geholfen haben, an die Macht zu kommen, steht so ein Recht nicht zu! Die Deutschen sollen sich freuen, dass die Behörden Warschaus und anderer polnischer Städte Deutschland keine Rechnungen präsentieren für den Wiederaufbau der während des Zweiten Weltkrieges von den Deutschen zerstörten Gebäude. Wenn sie trotzdem der Meinung sein sollten, dass sie etwas bekommen müssen, so sollen sie sich an die Regierungen Litauens, Weißrusslands und der Ukraine wenden. Es wäre gut, wenn das polnische Außenministerium dies den Deutschen klar machen würde. (sta)
- Urteil des Europäischen Gerichtshofes über die Entschädigung polnischer Zwangsumsiedler
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