Kaum hatte ich das 270 Seiten starke Hardcover mit dem Titel Hermsdorf. Von Ochelhermsdorf bis Hinterhermsdorf auf den schmalen Tisch im ICE-Großraumabteil gelegt, beugte sich die junge Frau gegenüber vor, kniff die Augen zusammen und sagte: »Hinterhermsdorf – kenne ich!« Ich glücklicherweise inzwischen auch, wenn auch nur dank eben dieses Buches, das ich hiermit allen Freunden von mit hohem Erkenntnisgewinn und großer Sorgfalt umgesetzten skurrilen Ideen empfehle.
Anlässlich des 650. Jahrestages der Ersterwähnung von Berlin-Hermsdorf kam der Autor, Hans-Joachim Arnold, auf den Gedanken, möglichst viele weitere Hermsdörfer auf unserem Kontinent zu ermitteln und ihre Geschichte festzuhalten. Er fand 66, die wirklich irgendwann einmal Hermsdorf hießen, 32 in Deutschland, 24 in Polen, neun in Tschechien und eins im Kaliningrader Gebiet; eine Übersichtskarte veranschaulicht ihre Lage und Verteilung. Der Name geht übrigens tatsächlich auf den männlichen Vornamen Herrmann zurück, der nichts anderes bedeutet als »Mann des Heeres«, Krieger.
Gemeinsam mit meiner Zugbekanntschaft schlugen wir Hinterhermsdorf nach und stellten fest, dass es sich hierbei um ein Hermsdorf der Superlative handelt: Die älteste Sommerfrische im Elbsandsteingebirge liegt innerhalb der Sächsischen Schweiz am östlichsten und bildet rechtselbisch mit 400 Metern die höchste Erhebung. Im Dorf erhalten sind noch über 50 Umgebindehäuser, Holzständerkonstruktionen, auf denen das Obergeschoss ruht und in die das Erdgeschoss, meist in Blockbauweise, eingebaut ist. 2001 trug Hinterhermsdorf den Titel »Schönstes Dorf Deutschlands«. Es gehört außerdem zu den Hermsdörfern, die auf dem ältesten deutschen Siedlungsboden in Sachsen liegen, wo dieser Dorfname die höchste Dichte aufweist.
Letzteres ist der prägnanten, knappen und verständlich geschriebenen Einleitung zu entnehmen, die über die mittelalterliche deutsche Bauernsiedlung informiert und wertvolles Hintergrundwissen vermittelt. Ebenfalls durch eine Karte illustriert, wird hier für die heutigen Regionen bzw. Länder Sachsen, Brandenburg, Schlesien, Pommern, Ostpreußen, Polen, Slowakei, Bayern und Österreich beschrieben, was jeweils Anstöße zur Besiedlung durch Deutsche waren, welche Dorftypen und Häuserformen charakteristisch waren und wie die Nachbarn dadurch beeinflusst wurden.
Das Blättern in den verschiedenen Hermsdörfern gleicht einem Streifzug durch die deutsche und ostmitteleuropäische Kulturgeschichte. Man erfährt von frühen Industrien, etwa der Ziegelei im kleinsten und ärmsten Hermsdorf/Ceglowo bei Allenstein/Olsztyn in Masuren oder der bedeutenden Kristallglasindustrie in Hermsdorf/Sobieszów im Hirschberger Tal am Fuße des Riesengebirges. Der Zusammenhang zwischen konfessionellen und politischen Gegebenheiten wird deutlich, wenn man liest, dass das Ermland, das sich vom Deutschen Orden unabhängig gemacht hatte, als einziger Flecken ehemaligen Ordenslandes von der Reformation unberührt und stattdessen katholisch blieb.
Es fehlt auch nicht an berühmten Bewohnern bzw. Besitzern – Max Beckmann und Erich Kästner hielten sich in Berlin-Hermsdorf auf, und Familie Knobelsdorff, aus der der berühmte Haus- und Hofarchitekt Friedrichs II., Georg Wenzeslaus von Knobelsdorff stammt, besaß Ochelhermsdorf/Ochla bei Grünberg/Zielona Góra (Polen). Hier in Grünberg, wo seit 1314 Wein angebaut wurde, gab es auch die erste deutsche Sektkellerei – den Grünberger sehr sauren Wein hat später E. T. A. Hoffmann auf seiner Kur in Schlesien verspottet –, während Hermsdorf bei Braunau/Heřmánkovice (Tschechien) seine Barockkirche dem Wirken des berühmten Architekten Kilian Ignaz Dientzenhofer verdankt.
Zuletzt sei noch darauf hingewiesen, dass Arnold nicht nur der Präsenz der Skythen oder Napoleons in den Hermsdörfern nachspürt, sondern auch einen ausgeprägten Sinn für die Natur und Naturphänomene besitzt: Der Kodesch-Felsen/Kodešova skála in Hermsdorf bei Friedland/Heřmanice (Tschechien) erinnert mit seiner säulenartigen Basaltstruktur an eine Kirchenorgel, und das Gebiet um Groß-Hermsdorf/Heřmánky bei der Oderquelle ist zum nordmährischen Naturpark erklärt worden. Hier in Heřmánky, das heute nicht mehr existiert, wird auch der Bruch 1945 sichtbar, denn es gelang nicht, diese deutsche Siedlung aus dem 13. Jahrhundert nach der Vertreibung der Deutschen zu Ende des Zweiten Weltkriegs wiederzubesiedeln. Statt Slowaken und Walachen aus der benachbarten mährischen Walachei, die man hier zunächst ansässig zu machen versuchte, marschieren heute Soldaten auf einem ausgedehnten Truppenübungsplatz.
Bei der abschließenden Betrachtung des Bildteils freute sich meine Zugbekanntschaft vor allem darüber, dass hier zu jedem Hermsdorf neben aktuellen Fotos von Straßenzügen, Friedhöfen oder Ortsschildern auch historische Postkarten, Zeichnungen und Pläne zu finden sind.
Arnold, Hans-Joachim: Hermsdorf. Von Ochelhermsdorf bis Hinterhermsdorf. Kleiner Wegweiser durch Geschichte und Gegenwart aller Orte des Namens »Hermsdorf«. Herausgegeben vom Autor in Zusammenarbeit mit dem Förderkreis für Bildung, Kultur und internationale Beziehungen Reinickendorf e. V., 270 S., Hardcover,
ISBN 978-3-00-040223-4, 15,80€
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