Mit einem Kommentar von PD Dr. Winfrid Halder, Direktor der Stiftung Gerhart-Hauptmann-Haus, Deutsch-osteuropäisches Forum, Düsseldorf
»Wir wussten ja überhaupt nichts von der übrigen Welt oder was außerhalb von Litauen los war, oder ob es überhaupt noch was anderes als Litauen gab. Jahreszahlen, Monate, Tage oder ein Zeitgefühl gab es für uns nicht. Wir waren halt keine Menschen mehr, nur noch Wolfskinder, die sich im Kreis drehten oder umherliefen. Manchmal sagte ich zu meiner Mutter: ›Mutti, was soll bloß aus uns werden. Ich kann nicht lesen, nicht schreiben, nicht rechnen und nicht mehr richtig Deutsch sprechen.‹ – ›Ich weiß es auch nicht, wie das mal enden soll. Wären wir doch bloß alle krepiert, dann brauchten wir das nicht mehr miterleben.‹ Weinend gingen wir oftmals durch die Gegend und waren am Ende, aber wir rafften uns immer wieder auf.
Wolfskinder – wie hungrige Wölfe schlugen sich nach den Wirren des Zweiten Weltkrieges deutsche Kinder durch Polen und Litauen, um sich selbst am Leben zu erhalten oder mit ihren Bettelzügen das Nötigste für ihre Familien zu finden. Von einer behüteten Kindheit war nichts zu spüren. Elend und Angst prägten die Entwicklung der Kinder. Am Ende des Zweiten Weltkriegs, nach der Einnahme Ostpreußens durch sowjetische Truppen 1945, fanden Kinder oft ihre Familien nicht mehr wieder oder Mutter und Vater waren verhungert, vertrieben oder ermordet worden. Sie waren auf sich allein gestellt. Die historische Forschung geht von etwa 25.000 solcher Kinder aus, die allein oder in kleinen Gruppen durchs Land zogen. Etwa 5.000 von ihnen gelang die Flucht nach Litauen. Dort wurden sie meist von den Litauern für einige Zeit mit versorgt. Doch nur kleine Kinder, die sich ihrem neuen Leben rasch anpassten, Litauisch lernten und ihren deutschen Hintergrund vergaßen, blieben dauerhaft in den Familien. Alle anderen wurden, nachdem man sie eine Zeitlang aufgenommen, aber auch als billige Arbeitskräfte eingesetzt hatte, weiter geschickt. Dies geschah vor allem aus der eigenen Not und der Angst heraus, von sowjetischem Militär gestellt zu werden. Dann drohte nämlich die Deportation der eigenen Familie.
Viele Wolfskinder sind auf ihren Wanderungen ums Leben gekommen – verhungert, entkräftet, erschlagen. Andere blieben in Litauen, bauten sich dort ein Leben auf. Wieder andere – etwa 200 – siedelten nach Deutschland um. Oftmals mit dem Lebensmotto: ›Sei froh, dass du lebst; vergiss, was war; schau nach vorn!‹ Nur vorsichtig suchen sie nun nach den Spuren ihrer Identität. Das Zurückblicken aber ist es, was dieser ›vergessenen Generation‹ (Sabine Bode), die zwischen allen Fronten stand, helfen könnte.
Das hat auch die Autorin, Frau Dorn, erkannt, wenn sie schreibt, sie habe sich mit diesem Buch alles ›runtergeschrieben‹.«
(Quelle: edition riedenburg)
- Ursula Dorn: Ich war ein Wolfskind aus Königsberg
Weitere Informationen auf den Internet-Seiten der edition riedenburg
- Ich war ein Wolfskind aus Königsberg
Autorenlesung mit Ursula Dorn